Die Demokratie in Deutschland steht vor einer Bewährungsprobe. Kritik und Radikalisierung wachsen, Akzeptanz und Unterstützung schwinden. Das hat viele Ursachen – nicht zuletzt ökonomische. Die Wachstumsschwäche wird zu einem Problem der „Tragfähigkeit“. Durch eine Überlastung von Wirtschaft und Gesellschaft sind Wirtschaftsordnung und Demokratie gefährdet. Auswege können nur gefunden werden, wenn in drei Bereichen deutliche Veränderungen vorgenommen werden: Bei der Diagnose müssen Worst-Case-Szenarien einbezogen werden. Die Analyse muss sich stärker auf Fragen der Verteilung und Gerechtigkeit konzentrieren. Der Suchhorizont für Lösungen muss in Richtung der soziokulturellen Potenziale erweitert werden, mit einer Verlagerung des Schwerpunkts von der technischen zur sozialen Innovation. Die Transformation zur nachhaltigen Entwicklung kann nur gelingen, wenn sie als kulturelle Transformation verstanden wird.
Die Demokratie in Deutschland ist herausgefordert wie selten zuvor in der Geschichte seit dem Niedergang der Weimarer Republik. Es muss mit einer anhaltenden Wachstumsschwäche gerechnet werden. Diese Diagnose ist weitgehend unstrittig. Die Therapie dagegen ist umstritten. Sie könnte schmerzhaft sein. Das hört der „sick man of Europe“ (Economist, 2023) nicht gern – und Habeck, Lindner et al. kommunizieren es nicht gern.
An Handlungsempfehlungen für Wege aus der Wachstumsschwäche mangelt es nicht.1 Praktische Erfolge sind bislang nicht zu verzeichnen. Das wird einerseits versagenden (Wirtschafts-)Politiker:innen angelastet, andererseits inzwischen aber auch in zunehmendem Maße als „Systemversagen“ interpretiert und richtet sich gegen die marktwirtschaftliche Ordnung bzw. die Demokratie insgesamt.2 Dabei ist die Auseinandersetzung nicht nur durch zunehmende „Gereiztheit“ (Pörksen, 2018), sondern auch durch demokratiefeindliche Radikalisierung geprägt. Daher sind Wege aus der Wachstumsschwäche „systemrelevant“.3
Das Wachstum der Einkommen und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) war seit den Wirtschaftswunderjahren eine tragende Säule der gesellschaftlichen Stabilität und der Demokratie in Deutschland. Was aber, wenn diese Säule wegbricht? Könnte dann das ganze Gebäude ins Wanken geraten? Noch ist die Hoffnung groß, dass Deutschland bald die Rückkehr auf den Wachstumspfad gelingen wird. Was aber, wenn nicht? Das soll im Folgenden in drei Schritten diskutiert werden: Wie ist der tatsächliche Zustand der (bröckelnden) Säule „Wachstum“? Welche Wirkung hat ihre Schwäche auf die Stabilität des gesellschaftlichen Gebäudes? Welche Stützen könnten die Säule ersetzen oder zumindest entlasten?
Die Wachstumsschwäche wird breiter interpretiert und analysiert als in der vorherrschenden BIP-zentrierten Betrachtungsweise. Gefragt werden muss nach dem „Wohlstand für alle“ (Erhard, 1957) – und es müssen dabei die „neuen“ ökologischen Nebenbedingungen beachtet werden. Die Überschreitung der ökologischen Belastungsgrenzen wird sich in weniger Netto-Einkommen und weniger Konsum niederschlagen – so oder so: durch mehr Vorsorge-Investition zur Verhinderung von Schädigung oder aber bei Untätigkeit durch höhere Schadenskosten – wobei die Vermeidungskosten regelmäßig geringer sind als die Schadenskosten (vgl. z. B. Stern, 2006).
Wachstumsschwäche: bröckelnde Mauern?
Die Analyse der Bestimmungsfaktoren des Wirtschaftswachstums zeigt, dass eine einfache Erklärung und Ursachentherapie nicht möglich ist. Es bröckelt an allen Enden.4 Alle Produktionsfaktoren, die das Potenzialwachstum bestimmen, weisen signifikante Schwächen auf (vgl. dazu Kurz, 2023; SVR, 2023; Grimm et al., 2024).
Das beginnt beim propduzierenden Kapital (Maschinen, Anlagen, Gebäude) – sowohl im Privatsektor als auch im Staatssektor (öffentliche Infrastruktur). In der ökologischen Transformation werden große Teile vorzeitig entwertet, vom Kohlekraftwerk über Gebäude bis hin zum Fuhrpark (stranded assets). Wenn das nicht durch massive Investitionen ausgeglichen wird, schrumpft der Kapitalstock. Von zentraler Bedeutung ist der Faktor Arbeit (Humankapital) in der volkswirtschaftlichen Produktionsfunktion. Unstrittig ist, dass das Arbeitskräftepotenzial schrumpft, altert, qualitativ abnimmt und eine Diskrepanz besteht, da die Qualität nicht zum Profil der Arbeitskräftenachfrage passt (Fachkräftemangel). Daher ist (Fachkräfte-)Zuwanderung ein Teil der Standardlösung (zumeist ohne Beachtung der Integrationskosten). Umso wichtiger ist der positive Wachstumsbeitrag durch Produktivitätszuwächse. Durch technischen Fortschritt (Prozessinnovationen) kann das Produktionspotenzial auch dann wachsen, wenn die Faktoreinsatzmengen stagnieren oder schrumpfen. Allerdings schwächeln auch die Produktivitätszuwächse und werden die Ursachen dafür intensiv diskutiert. Nachdem „die Digitalisierung“ wenig messbare Effekte hatte, richten sich nun die Hoffnungen auf einen Produktivitätsschub durch Künstliche Intelligenz (KI).
Weniger Beachtung findet und (statistisch) schwer zu fassen ist der Wachstumsbeitrag, den das Naturkapital, das Sozialkapital und die Institutionen leisten. Das Naturkapital konnte lange Zeit als gegeben und konstant vorausgesetzt werden, verlangt aber nach dem Überschreiten ökologischer Belastungsgrenzen permanent „Erhaltungsinvestitionen“ (Reparatur, Adaptation, internationale Kompensationszahlungen) – oder es nimmt ab. Das gilt für die Klimastabilität, für die Ökosystemleistungen, für die Stoffströme. Unbestritten ist auch die Bedeutung des Sozialkapitals, des sozialen Friedens, des Zusammenhalts, des staatsbürgerlichen Engagements. Bedroht ist dieser zentrale Baustein des Volksvermögens und der Wirtschaftsleistung sowohl durch die Flucht ins Private als auch durch zunehmende Konflikte und Radikalisierung, die rationale Lösungen im Diskurs erschweren. Schließlich sind Institutionen ein unstrittig bedeutsamer Teil des Volksvermögens. Wie wir die politische Willensbildung, unsere Rechtsordnung und die staatliche Verwaltung organisieren, ist ein wesentlicher Faktor für Produktion und Wohlbefinden. Beklagt werden (zunehmende) Ineffizienz, Bürokratisierung und interessenpolitische Vereinnahmung (capturing). Auch dieser Vermögenswert scheint daher im Verfall zu sein.
Als anekdotische Evidenz ist vieles von dem, was hier aufgeführt wurde, durchaus im öffentlichen Bewusstsein. In Summe schrumpfen Quantität und Qualität der Faktoren, die das Produktionspotenzial und zugleich das Volksvermögen bilden. Daher steht hinter der Wachstumsschwäche ein Schrumpfen des Volksvermögens. Wie jede schwäbische Hausfrau weiß, folgt dem Schwinden der Substanz das Schrumpfen der Erträge, d. h. des Einkommens. In Deutschland dominiert aber die Verweigerung der unvermeidbaren Schlussfolgerung: Wenn das Vermögen schrumpft, schrumpfen auch die Einkommen und damit die Konsummöglichkeiten. Solange nicht massiv (weit über die Abschreibungen hinaus) investiert wird, muss mit anhaltender Wachstumsschwäche gerechnet werden.
Inzwischen kommen auch die einschlägigen wissenschaftlichen Beratungsgremien in ihren Langfristanalysen zu dem Ergebnis, dass die jährliche BIP-Wachstumsrate in Deutschland deutlich unter 1 % liegen wird:5 mittelfristig bis Ende der 2020er Jahre bei 0,4 % p. a., 0,5 % p. a. in den 2030er Jahren und dann bis 2070 eine leichte Zunahme auf 0,7 % p. a.6 Die Wachstumsrate in den 2020er Jahren würde demnach nur noch ein Drittel der Wachstumsrate des vorigen Jahrzehnts betragen.
Auf der Grundlage dieser Analysen sind auch Worst-Case-Szenarien mit noch deutlich geringeren Wachstumsraten möglich. Anhaltende Stagnation (Null-Wachstum) und Schrumpfung können nicht ausgeschlossen werden. Selbst wenn solche Szenarien keine hohe Wahrscheinlichkeit haben, müssen Wissenschaft und vorsorgende Politik sich damit auseinandersetzen und ist eine Politik der Wachstumsunabhängigkeit zu empfehlen. Die empirischen Befunde sind jedenfalls nicht geeignet, Zweifel am fortgesetzten Wachstum zu zerstreuen und Überlegungen zum „Postwachstum“ als Pessimismus oder gar Defätismus abzutun.
Wirkung der Wachstumsschwäche auf die Gesellschaft
Wie würde sich ein deutlicher Bruch im Wachstumstrend auswirken? Die ökonomischen Folgen wären überschaubar. Der „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter) würde weiter für Innovationsdynamik sorgen, per Saldo würde dabei allerdings die Freisetzung von Faktoren überwiegen. Die gesellschaftlichen Folgen könnten dagegen dramatisch sein, weil Wachstum wegfällt, welches sonst Verteilungskonflikte abmildert. Während die allgemeinen Erwartungen noch auf Zuwächse von Einkommen und Konsum ausgerichtet sind, werden sie mit einer Realität konfrontiert, die allgemeine Einschränkungen und Verzichtsleistungen erzwingt. Es entsteht eine Erwartungslücke, die sozialer Sprengstoff ist. Für die enttäuschten Erwartungen, die unerfüllten Träume und Hoffnungen werden dann Schuldige gesucht.
Wenn der (BIP-)Kuchen schrumpft, kommt es zur Verschärfung von Verteilungskonflikten auf allen Ebenen, im alltäglichen Leben, im Arbeitskampf, bei der Besteuerung, Subventionen, Bürokratie- und Regulierungslasten. Jede Zusatzlast (z. B. durch Aufrüstung) kann nur durch Eingriffe in Verteilungspositionen finanziert werden, die als Besitzstände verstanden und verteidigt werden. Damit in der nicht-wachsenden Wirtschaft eine gerechte Transformation gelingt, müsste zumindest der Schutz der vulnerablen Gruppen sichergestellt werden. Dazu müssten alle anderen Gruppen Besitzstände aufgeben, z. B. erzwungen durch selektive Steuererhöhungen (Spitzensteuersatz, Erbschaftssteuer) und durch Subventionskürzungen (Agrardiesel, Dienstwagenprivileg). Angesichts der Vielzahl der Besitzstandswahrer und der Veto-Spieler erscheint das kaum vorstellbar. Eher wird die Transformation ausgebremst und kommt zum Stillstand. Die Diskussion über den CO2-Preis und das Klimageld ist dazu das einschlägige Praxisbeispiel.
Zum schrumpfenden Kuchen tritt nicht nur in Deutschland ein weiteres „systemrelevantes“ Gerechtigkeitsproblem hinzu: Die nachlassende soziale Mobilität verbaut die Aufstiegsperspektive (sozialer Status, Einkommen) und stellt die Gerechtigkeit (Fairness) der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung infrage (Protzer und Summerville, 2022).
Es verbreitet sich eine Atmosphäre der „wachsenden Feindseligkeit“ (Schumpeter, 1942, S. 231), die sich auch gegen das System selbst richtet. Nicht wenige stellen die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage, wenn sie ihre Besitzstände oder Lebensperspektive bedroht sehen. Mit der Verzweiflung und Wut wächst die Bereitschaft, falschen Propheten und Rattenfängern zu folgen, die aber nur eine weitere Verschlechterung der Lage bewirken. Zur Bedrohung der Standortqualität durch Rechtsextremismus und AfD-Erfolge gibt es zahlreiche Statements führender Unternehmensverteter:innen.
Es entsteht eine Abwärtsspirale in Richtung Selbstzerstörung, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Wenn ein sozio-ökonomischer Kipppunkt überschritten ist und das Abgleiten in ein autoritäres Regime begonnen hat, nutzt diese Erkenntnis, nutzen späte Einsicht und Reue nichts mehr. So beschreibt Borchardt (1982) den Niedergang und die Zerstörung der Weimarer Demokratie.
Ein Vergleich mit dieser Zeit erscheint heute noch als Dramatisierung. Dennoch ist der Blick um ein Jahrhundert zurück in die 1920er Jahre fruchtbar. Jenseits der Erzählungen von den „Goldenen Zwanzigern“ war das (auch) ein Jahrzehnt der Wachstumsschwäche. Hinzu kam dann 1929 eine Mega-Konjunkturkrise (Weltwirtschaftskrise), die die Weimarer Republik vollends zu Fall brachte. Wie sind wir heute darauf vorbereitet, falls zur Wachstumsschwäche noch eine Weltwirtschafts-/Finanzmarktkrise hinzutritt?
Die Demokratie in Deutschland ist in den Zangengriff von äußeren und inneren Feinden geraten. Die äußeren Feinde – Russland und China – bewirken einerseits ein Klima der Verunsicherung, weil permanent die weitere Eskalation droht. Sie bewirken andererseits den gleichzeitigen Verlust der Friedensdividende und vieler Globalisierungsvorteile, die sich in konkreten Kosten und höheren Staatsausgaben niederschlagen. Dadurch werden die Nettoeinkommen von der Wachstumsschwäche noch stärker betroffen als die Bruttoeinkommen.
Die systemzerstörende Dynamik ist erkennbar nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern, die bislang als stabile Demokratien galten. Die Parteien sind mit dieser Dynamik scheinbar überfordert und reagieren zumeist hilflos mit Stereotypen und inhaltsleeren (Grundsatz-)Programmen, die von beliebig austauschbaren Schlagworten wimmeln. Politik beschränkt sich auf Aktionismus und Mikromanagement, in dem sie sich vielfach verheddert (Industriestrompreis, Gebäudeenergiegesetz). Sie manövriert zwischen interessenpolitischen Stoppsignalen und (Lern-)Blockaden auf allen Seiten, unfähig zum großen Wurf, zum (ordnungspolitischen) Befreiungsschlag.
Stabilisierende Faktoren und gesellschaftliche Resilienz
Ohne einen Staat, der in der großen Transformation durch kluge Regelsetzung und Transformationsdesign Orientierung für alle gibt, stellt sich mit erhöhter Dringlichkeit die Frage, woher Entlastung kommen könnte. Welche Stützen könnten und müssten verstärkt werden, wenn nicht auf Wachstum, mehr Einkommen, mehr Konsum gesetzt werden kann – und wenn es der Staat nicht allein schaffen kann? Zwei Komponenten erscheinen unverzichtbar: Zunächst der unverstellte Blick auf die radikal veränderten globalen Bedingungen, die auch das reiche Deutschland nicht ohne spürbare Belastungen bewältigen kann. Die Dimensionen sind so gewaltig, dass jedes Versprechen einer schmerzfreien Therapie illusorisch ist. Wirtschaftswunderglaube und „Wumms“-Vorstellungen müssen ebenso abgelegt werden wie unerfüllbare Versprechen aus grünem Wachstum. Gefordert wäre da vor allem die Aufklärungsfunktion der Wirtschaftswissenschaft, die bislang zu sehr dem Wachstumsparadigma folgt.
Notwendig ist zum zweiten das Nachdenken über Wohlstand jenseits des Wirtschaftswachstums, das auch im Bundeswirtschaftsministerium (BMWK, 2024a) und bei der OECD (2020) eingesetzt hat. In reichen Ländern wie Deutschland sollte Wohlstand ohne Wachstum möglich sein. Dazu muss die sozio-kulturelle Engführung aufgebrochen werden. Persuit of Happiness, die Suchen nach Zufriedenheit und Lebenssinn ist aus naheliegenden Kommerzgründen auf die Warenwelt gelenkt worden – und damit verbunden auf die Disziplinierung in der Arbeitswelt, um das Einkommen zu erzielen, das den Zutritt zur Warenwelt verschafft. Das ist Teil des gesellschaftsstabilisierenden und -befriedenden Wohlstandsrezepts. Dieses tradierte Muster (Hamsterrad, Tretmühle) muss die Entwicklung der Menschheit nicht für alle Zeit prägen. Das hat schon Keynes (1930) den Enkelkindern in Aussicht gestellt: den Übergang zu einer 15-Stunden-Woche innerhalb eines Jahrhunderts. Darin liegt heute eine Chance der Transformation, die freilich auch eine Zumutung ist, weil hier die Eigenverantwortung gefragt ist, welche nicht an Tech-Unternehmen und den Staat delegiert werden kann.7
Die Zäsur, durch die wir in Deutschland jetzt gehen und die global alle Staaten erfasst hat, was jeweils spezifische Antworten erfordert, ist nicht bloß ökonomischer Strukturwandel. Die Zäsur geht wesentlich tiefer. Gefordert ist und letztlich erzwungen werden wird ein umfassender kultureller Wandel. Der umfasst einerseits unsere Konsumgewohnheiten, die „imperiale Lebensweise“ (Brand und Wissen, 2017), die Ressourcen und Menschen im globalen Maßstab ausbeutet und die wir noch als selbstverständlich erachten. Damit verbunden ist auch eine Veränderung von Art und Umfang der Erwerbstätigkeit. Statt um Einkommens- und Konsumsteigerung wird es um Suffzienz und Sinnstiftung gehen. Wenn die Erwerbsarbeit auf eine 4-Tage-Woche reduziert wird, entsteht Freiraum für sinnstiftendes Tätigsein – bei geringerem Einkommen und geringeren Konsumausgaben.8
Alles, was Menschen helfen kann, die Komfortzone zu verlassen, das „Weniger“ anzunehmen und nachhaltige Lebensstile zu entwickeln, muss gestärkt werden (Suffizienzpolitik, Schneidewind & Zahrnt, 2013). Der Wandel zu Nachhaltigkeit wird nicht allein durch rationale Argumente (Information, Wissen) und ökonomische Anreize vorankommen. Noch immer unterschätzt wird die Bedeutung von sozio-kulturellen Faktoren, von Werten, Gewohnheiten und Emotionen, von Aufmerksamkeit, Anerkennung und Beteiligung. Darin liegt die große Aufgabe und Verantwortung aller Akteure und Institutionen, vor allem im Bildungsbereich und im Kultursektor. Dort muss das Potenzial für den Perspektivwechsel angelegt und gehegt werden. Transformation und Nachhaltigkeit bedeutet kulturellen Wandel (Schneidewind, 2018).
Alle Akteure im Kulturbereich haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Sie können aktiv zum Wandel beitragen, indem sie Angebote machen, die helfen, Literatur, Musik und bildende Kunst als Quellen des Wohlstands und des Glücks zu erschließen. Kultur ist „systemrelevant“ und Teil der Investitionen in die Zukunft. Kultur kann von einem Luxus zu einem zentralen gesellschaftlichen Stabilisator, Impuls- und Perspektivgeber werden. Sie kann auch Resilienz stärken und tröstend wirken, wenn Katastrophen sich unaufhaltsam entfalten. Wenn es daher um neue Prioritäten in den öffentlichen Haushalten geht, um das Zuschneiden auf die Transformationsaufgabe, besteht im Kultursektor Investitionsbedarf – und manche Milliardensubvention für eine Chip- oder eine Batteriefabrik muss dahinter zurückstehen.
Der Kultursektor selbst ist gefordert, sein Wirken stärker im Kontext des gesellschaftlichen Wandels zu reflektieren und Wege zu suchen, die aus dem vorherrschenden Nischendasein herausführen. So müssten z. B. herkömmliche Konzertformate auf den Prüfstand, eventuell kürzere Abende mit weniger Stücken und mit Moderation angeboten werden. Nicht zu übersehen ist, dass alle Bereiche von Kunst und Kultur auf zunehmend widrige Umstände treffen, weil sich einerseits der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit durch immer neue Medienangebote verschärft und weil andererseits Kulturschaffende und ihre Institutionen selbst ins Fadenkreuz der Radikalisierung geraten.
Fazit
Die Polykrisen haben das Potenzial auch reiche Länder wie Deutschland zu überfordern und in ihren Grundfesten zu erschüttern. Während die Gefahr wächst, ist nicht erkennbar, dass das Rettende Schritt hält. Wege aus der Gefahr und aus der „gelähmten Gesellschaft“ (Eppler, 1981, S. 99) können nur gefunden und beschritten werden, wenn die einseitige Fixierung auf technologische Lösungen überwunden wird. Technologie und Effizienzsteigerung können als Teil der Transformation Anpassungszeit verschaffen. Letztlich geht es aber unvermeidbar um gesellschaftliche und kulturelle Innovation, um ein neues Wohlstandsmodell. Inspiration und Hilfe kann dabei aus Quellen kommen, die ein bislang zu wenig genutztes Potenzial bergen: Bilder, Narrative, Musik. Sie können geteilt werden, können Menschen verbinden und befriedend wirken. Dem Schöpfen aus dem kulturellen Reichtum jenseits der materiellen Konsumwelt sind keine Grenzen gesetzt.
- 1 Vgl. z. B. Grimm et al. (2024) basierend auf SVR (2023), Kurz (2022, 2023), Bofinger (2024), SPD-Parteivorstand (2024), Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2024).
- 2 In einer „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey, 2016) scheint die „Demokratiedämmerung“ (Selk, 2023) nicht mehr ausgeschlossen.
- 3 Nicht nur in Deutschland, sondern auch im globalen Maßstab wird 2024 zu einem „big test for the health of the democratic systems: Polls in 70 countries with some 4 billion people” (Economist, 2024, S. 51).
- 4 Schumpeter (1942) analysiert den Verfallsprozess des Kapitalismus unter den Kapitelüberschriften „Bröckelnde Mauern“, „Wachsende Feindseligkeit“ und „Zersetzung“.
- 5 In den 1970er Jahren lag die Wachstumsrate des Produktionspotenzials noch bei 3,3 % p. a. und in den 2010er Jahren bei 1,4 % p. a. (vgl. Grimm et al., 2024, S. 180).
- 6 Vgl. Grimm et al. (2024), SVR (2023), Werding et al. (2024), BMF (2024), Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2024).
- 7 Das aktuelle Praxisbeispiel dazu liefert die Carbon Management Strategie des BMWK, die Bürger:innen und Unternehmen von Energieeinsparungen verschonen will, indem auf CCS als „Techno-Fix“ gesetzt wird: CO2-Abscheidung und Deponierung unter der Nordsee (vgl. BMWK, 2024b).
- 8 Zum Narrativ der „frugality“ vgl. z. B. Shiller (2019, S. 136) und das Diskussionspapier des Sachverständigenrats für Umweltfragen SRU (2024) zu „Suffizienz als Strategie des Genug“.
Literatur
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