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Seit 2020 ist die deutsche Konjunktur von multiplen Krisen geprägt. Die Industrieproduktion, die als Referenzzeitreihe für die Konjunkturampel des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) dient, hatte ihren Hochpunkt zwar schon zwei Jahre zuvor erreicht. Aufgrund guter Binnenkonjunktur hielt sich die Gesamtwirtschaft 2019 aber noch auf einem moderaten Expansionskurs, was sich auch in den prognostizierten Rezessionswahrscheinlichkeiten des IMK-Konjunkturindikators widerspiegelte. Dieser ermittelt auf Echtzeitdatenbasis konjunktureller Frühindikatoren über zusammengesetzte Probit-Prognosen die Wahrscheinlichkeit für einen konjunkturellen Wendepunkt (Proaño & Theobald, 2014). Das Prognoseresultat für die jeweils nächsten drei Monate bildet die Grundlage für das Signal der IMK-Konjunktur­ampel (vgl. Abbildung 1 links).1 Der erste Anstieg der prognostizierten Rezessionswahrscheinlichkeit in den 2020er Jahren auf ein Niveau, das zu einer Rezessionswarnung führte, fand aufgrund der COVID-19-Pandemie Anfang April 2020 – also mit Daten, die je nach Verfügbarkeit maximal bis März reichten – statt. Zu diesem Zeitpunkt war tatsächlich absehbar, dass Teile der deutschen Wirtschaft, insbesondere personennahe Dienstleistungen, in den Lockdown gehen und Lieferketten unterbrochen werden würden.

Abbildung 1
Echtzeithistorie der prognostizierten Rezessionswahrscheinlichkeit und Frühindikatoren seit 2020
Echtzeithistorie der prognostizierten Rezessionswahrscheinlichkeit und Frühindikatoren seit 2020

Quelle: destatis, GfK, ifo, IMK, S&P.

Der erste Corona-Lockdown konnte mithilfe erfolgreicher staatlicher Stützungsmaßnahmen schnell überwunden werden, sodass die IMK-Konjunkturampel schon zu Beginn der zweiten Jahreshälfte 2020 Entwarnung zeigte. Tatsächlich folgte auf den temporär drastischen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im zweiten Quartal 2020 eine zwischenzeitlich vitale Erholung der Wirtschaftsaktivität, die unterbrochen von weiteren Lockdowns und gedämpft von internationalen Lieferengpässen das Jahr 2021 prägte (Theobald & Hohlfeld, 2022). Seit 2022 stagniert die deutsche Wirtschaft nahezu. Mit der Datenrevision zum zweiten Quartal 2024 ist das preis-, kalender- und saisonbereinigte BIP-Niveau fast identisch zum ersten Quartal 2022.

Deutsche Wirtschaft seit mehreren Jahren in der Stagnation

Ursächlich für die deutsche Wachstumsschwäche waren zunächst Energiepreisschocks infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine. In der Spitze stieg der Börsenpreis für Erdgas in Europa auf über 300 Euro je MWh (August 2022) und die Inflation schnellte im Vergleich zum Vorjahresmonat auf nahezu 9 % hoch (Oktober und November 2022) – Größenordnungen, die in der Datenhistorie für Deutschland Extremwerte darstellen. Erneut stützte der Staat mit umfangreichen Maßnahmen, wie Gas- und Strompreisbremsen sowie der Steuer- und Abgabefreiheit von Inflationsausgleichsprämien (Dullien et al., 2024a). Die Größe der Schocks, das Durchdringen in alle Wirtschaftsbereiche und die geldpolitische Reaktion in Form von zehn Leitzinserhöhungen bis zum September 2023 ließen tatsächlich eine konjunkturelle Durststrecke erwarten. Erschwerend kommt in Deutschland hinzu, dass die Fiskalpolitik spätestens mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vom November 2023 zur Nichtigkeit des Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nicht nur stärker kontraktiv ausgerichtet ist, sondern auch hinsichtlich transformativer Investitionsentscheidungen verunsichernd auf die Wirtschaftsakteure wirkt (Dullien et al., 2024b).

Das Durchreichen von Energiepreisschocks trifft den privaten Verbrauch der Haushalte wie auch die Investitionen der Unternehmen. Dieser Prozess umfasste ab 2022 zunächst den schnellen Anstieg der Preise der meisten Waren- und Dienstleistungen, da für deren Produktion Energie in der Regel eine wichtige Kostenkomponente darstellt. Zudem hat sich, obwohl die Erdgaspreise inzwischen wieder auf rund das Zwei- bis Dreifache (je nach Betrachtungszeitpunkt) des Vorkrisenniveaus gefallen sind, und die Verbraucherpreisinflation im August 2024 erstmals seit dreieinhalb Jahren wieder das Inflationsziel der EZB erreicht hat, das Preisniveau der meisten Waren- und Dienstleistungen nicht zurückgebildet. Das bedeutete für viele Verbraucher seit 2020 zunächst kräftige Realeinkommensverluste, je nach Situation erst aufgrund pandemiebedingter Kurzarbeit und dann aufgrund der hohen Inflation. Selbst wenn das Zusammenspiel aus tariflich erreichten Lohnverhandlungsergebnissen und rückläufiger Inflation momentan für deutliche Realeinkommenszuwächse sorgt (WSI, 2024), lässt sich zum Spätsommer 2024 festhalten, dass die Konsumausgaben der Haushalte – abgesehen von einzelnen Bereichen wie Urlaubsausgaben – wenig dynamisch sind und nicht, wie erhofft, zum Wachstumstreiber werden (IMK, 2024). Einzelhandelsumsätze und Konsumklima erholen sich nur allmählich (vgl. Abbildung 1 rechts). Verunsicherung der Verbraucher dürfte eine große Rolle für die nach wie vor hohe Sparquote spielen. Das Gegenrechnen von Realeinkommensverlusten und -gewinnen auf der Zeitachse sowie die Tatsache, dass die durch den Staat geförderten Inflationsausgleichsprämien der Arbeitgeber Einmalzahlungen darstellen und sich somit nicht automatisch als Basis in zukünftigen Lohnsteigerungen perpetuieren, sind zudem Gründe, die zu einem zögerlichen Konsumverhalten führen können.

Vom drastischen Anstieg der Energiepreise und dem da­rauffolgenden Durchreichprozess wurden auch die Ergebnisse des IMK-Konjunkturindikators seit 2022 getrieben. Bis zum November 2022 waren es hauptsächlich Finanzmarktindikatoren, die die Rezessionswahrscheinlichkeit auf über 50 % trieben. Eine große Rolle für Kapitalmarktschwankungen spielte dabei die Furcht um die Versorgungssicherheit der deutschen Wirtschaft mit Erdgas. Exemplarisch hierfür steht der Verlauf des IMK-Finanzmarktstressindex, der per Faktoranalyse einen breiten Kranz von Finanz- und Kapitalmarktindikatoren bündelt und auf 100 % für den Datenstand der Finanzmarktkrise im September 2008 normiert ist. Er dient auch als erklärende Variable für den IMK-Konjunkturindikator.

Im September 2022 erreichte der Stressindex ein Niveau von 65 %, was zuletzt außer bei Pandemieausbruch nur in der Eurokrise 2011 erreicht wurde. Nachdem die Sorge über Gasknappheit behoben werden konnte, fiel auch die prognostizierte Rezessionswahrscheinlichkeit des IMK-Konjunkturindikators bis zum Frühjahr 2023 wieder auf ein moderates Niveau. Gegen Ende des Frühjahrs stieg sie jedoch wieder deutlich an und verharrte auf Niveaus über 50 %. Entsprechend signalisierte die IMK-Konjunkturampel zwischen Mai 2023 und Februar 2024 eine akute Rezessionsgefahr. Ursächlich waren nun in stärkerem Maße realwirtschaftliche Frühindikatoren, da die realwirtschaftlichen Folgen der hohen Inflation zunehmend deutlich wurden. Hierzu zählten neben der Konsumschwäche der Einbruch der Auftragseingänge im Hochbau aufgrund rasant gestiegener Finanzierungskosten sowie der Rückgang der Produktion in energieintensiven Industrien. Beide Entwicklungen dauern aktuell an. So hat zwar die Produktion der energieintensiven Industrien, darunter die bedeutsame chemische, inzwischen ihre Talsohle durchschritten. Das Niveau, auf dem sich die Produktion seit einigen Monaten einpendelt, liegt aber weiterhin rund 15 % unterhalb des Niveaus vor Ausbruch des Ukrainekriegs.

Ende der Industrieschwäche nicht in Sicht

Die Schwäche der gesamten deutschen Industrie wirkt sich derzeit sowohl über realwirtschaftliche Frühindikatoren, wie etwa die Auftragseingänge des verarbeitenden Gewerbes aus dem In- und Ausland, als auch über Stimmungsindikatoren, wie etwa den ifo Geschäftsklimaindex oder den S&P Einkaufsmanagerindex stark auf das Ergebnis des IMK-Konjunkturindikators aus (IMK, 2024). Seit Mai 2024 steigt die prognostizierte Rezessionswahrscheinlichkeit wieder. Die IMK-Konjunkturampel steht kurz davor, wieder auf Rot (akute Rezessionsgefahr) zu schalten (vgl. Abbildung 1 links).

Auffällig beim aktuellen deutschen Konjunkturausblick und somit auch beim IMK-Konjunkturindikator sind vor allem schwache exportseitige Daten. Ins Gewicht fällt hierbei die Rolle der traditionell exportstarken deutschen Industrie. Das Jahr 2023 zeigte ein historisch schwaches Welthandelswachstum (vgl. Abbildung 2). Der Welthandel dürfte sich zwar schon in diesem Jahr etwas erholen. Die meisten Prognosen gehen aber davon aus, dass das durchschnittliche Welthandelswachstum der Vorjahrzehnte (rund 5 % pro Jahr in den 2000er Jahren und rund 4,5 % in den 2010er Jahren) in den 2020er Jahren deutlich unterschritten wird und das Welthandelswachstum in etwa dem Welt-BIP-Wachstum (rund 3 % pro Jahr) entsprechen wird (Kaya et al., 2024). Als Grund für diese Entwicklung sind zunächst protektionistische Maßnahmen der Industriepolitik zu nennen. In den USA sind diese verbunden mit der Kopplung staatlicher Förderung an den Grad heimischer Fertigung im Rahmen des Inflation Reduction Act (Bauermann et al., 2024) und in China mit dem strategischen Regierungsplan Made in China 2025, einschließlich dem massiven Umfang darin enthaltener staatlicher Subventionen (Gutting, 2024). Zudem wirken sich Konflikte, wie der Ukrainekrieg und der Krieg im Nahen Osten, im Zuge geopolitischer Fragmentierung zunehmend auf den Welthandel aus.

Abbildung 2
Welthandel, Welt-BIP, Industrieproduktion und Exporte Deutschlands

jahresdurchschnittliche Veränderungsrate preisbereinigter Größen in %

Welthandel, Welt-BIP, Industrieproduktion und Exporte Deutschlands

Quelle: NiGEM Datenbank und NIESR Prognose für 2024.

Für eine Exportnation, wie die deutsche, ist es bei schwacher Nachfrage gemessen am Welthandel zwar wenig überraschend, dass Wachstumsimpulse ausbleiben. Umso schwerer wiegt aber anekdotische Evidenz, dass sich neue Mitbewerber, vor allem aus China, und der damit einhergehende Verlust von Marktanteilen keineswegs auf den Automobilsektor beschränken (Stölzel, 2024), bei dem der Strukturwandel von Verbrennungsmotoren zum Elektroantrieb offensichtlich ist. Tatsächlich gewinnt man den Eindruck, dass die gegenläufigen Trends bei den Anteilen chinesischer und deutscher Exporte an der Produktkategorie 7 „Maschinenbauerzeugnisse und Fahrzeuge“ des Internationalen Warenverzeichnisses für den Außenhandel (SITC – Standard International Trade Classification) nicht allein durch den Fahrzeugbereich (78 und 79) hervorgerufen werden (vgl. Abbildung 3). Vielmehr zeigen die anderen Unterkategorien, wie Kraftmaschinen und -ausrüstungen (71), Arbeitsmaschinen (72), Metallbearbeitungsmaschinen (73), Maschinen und Geräte für weitere Zwecke (74), Büromaschinen und automatische Datenverarbeitungsmaschinen (75), Geräte für Nachrichten- Technik, Bild- und Tonaufzeichnung und -wiedergabe (76), eine ähnliche bzw. sogar schwächere Entwicklung. Einzig im Bereich Elektrische Maschinen (77) zeigt sich eine etwas stärkere Dynamik als im Fahrzeugbau. Einschränkend ist hierbei festzuhalten, dass für das Jahr 2023 nur nominale Werte aus den nationalen Statistiken und für die Unterkategorien keine globalen Daten zur Verfügung stehen. Nichtsdestotrotz ist es eine schlechte Nachricht für die deutsche Konjunktur, wenn sich der Eindruck erhärtet, dass fast alle der genannten Bereiche vor strukturellen Herausforderungen durch erstarkte Konkurrenz stehen. Der Gesamtbereich 7 des Internationalen Warenverzeichnisses für den Außenhandel zeichnet nämlich für knapp die Hälfte der deutschen Exporte verantwortlich.

Abbildung 3
Chinesische und deutsche Exporte in der Produkt­kategorie Maschinenbauerzeugnisse und Fahrzeuge

Anteile am globalen Handel in %

Chinesische und deutsche Exporte in der Produkt­kategorie Maschinenbauerzeugnisse und Fahrzeuge

Quelle: Unctad Comtrade Datenbank.

Fazit

Die deutsche Konjunktur ist seit 2020 von multiplen Krisen geprägt. Das zeigt sich regelmäßig in den Ergebnissen konjunktureller Frühindikatoren, wie dem monatlich veröffentlichten IMK-Konjunkturindikator. Strukturelle Entwicklungen lassen sich in einem solchen Umfeld schwer identifizieren. Das über lange Zeit dominierende „Geschäftsmodell“ der deutschen Volkswirtschaft, das in starkem exportseitigem Wachstum bestand, scheint aber nicht nur in der Automobilindustrie unter Druck geraten zu sein. Vielmehr wird die Konkurrenz Chinas auch in weiten Teilen des Maschinenbaus und der Elektroindustrie zunehmend spürbar. Ohne eine deutliche Ausweitung öffentlicher Investitionen im Inland (Deleidi et al., 2020; Dullien et al., 2024c) und eine konsequente europäische Industriepolitik besteht wenig Hoffnung, dass der sekundäre Sektor einen konjunkturellen Impuls zur Überwindung der gegenwärtigen Stagnation in Deutschland setzen kann.

Literatur

Bauermann, T., Stephan, S. & Watt, A. (2024). Inflation reduction act: Gut fürs Klima, schlecht für Europa? Erste empirische Befunde für die USA. IMK Report, 191.

Deleidi, M., Mazzucato, M. & Semieniuk, G. (2020). Neither crowding in nor out: Public direct investment mobilising private investment into renewable electricity projects. Energy Policy, 140.

Dullien, S., Rietzler, K. & Tober, S. (2024a). Brutto-und Nettoeinkommen von Arbeitnehmendenhaushalten 2021-2024: Kaufkraftlücke vor allem bei Familien. IMK Policy Brief, 173.

Dullien, S., Herzog-Stein, A., Hohlfeld, P., Rietzler, K., Stephan, S., Theobald, T., Tober, S. & Watzka, S. (2024b). Wirtschaftspolitik verhindert schnelle Konjunkturerhohlung: Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung 2024/2025. IMK Report, 188.

Dullien, S., Gerards Iglesias, S., Hüther, M. & Rietzler, K. (2024c). Herausforderungen für die Schuldenbremse: Investitionsbedarfe in der Infrastruktur und für die Transformation. IMK Policy Brief, 168.

Gutting, D. (2024). China+ 1: De-Risking für deutsche Unternehmen: Südostasiatische Länder als Standortergänzung zu China. Springer Fachmedien Wiesbaden.

IMK. (2024, 29. August). IMK Konjunkturindikator. Rezessionsgefahr nimmt nochmals leicht zu. https://www.imk-boeckler.de/data/p_imk_konjunkturindikator_2024_08.pdf

Kaya, A., Millard, S., Naisbitt, B., Bernard, S., Cornforth, E., De Greef, L., Hurst, I., Liadze, I. & Sanchez, P.  (2024). Global economic outlook: summer 2024. National Institute of Economic and Social Research, Series B, Nr. 15.

Proaño, C. R. & Theobald, T. (2014). Predicting recessions with a composite real-time dynamic probit model. International Journal of Forecasting, 30(4), 898–917.

Stölzel, T. (2024, 19. Juli). Der nächste Chinakracher. Wirtschaftswoche, 44–48.

Theobald, T. & Hohlfeld, P. (2022). Materialengpässe setzen deutscher Automobilproduktion massiv zu: Fehlende Vorprodukte kosteten allein 2021 rund ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. IMK Policy Brief, 141.

WSI. (2024, 29. August). Tarifpolitischer Halbjahresbericht: Halbjahresbilanz der Lohn- und Gehaltsrunde 2024. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (WSI-Tarifarchiv). https://www.wsi.de/de/tarifarchiv-15262.htm

Title:The German Economy since 2020 and the Structural Weakness of the Industry

Abstract:The German economy has been suffering from multiple crises in recent years. This is regularly reflected in the outcome of leading economic indicators, such as the monthly “IMK Konjunkturindikator”. Structural developments are difficult to identify in such an environment. However, the German economy’s dominant “business model” for much of the 2000s, which consisted of strong export-led growth, appears to have come under pressure not only in the automotive industry. Rather, competition from China is also being felt in large parts of the machine building and electrical industries. Without a significant increase in public investment in Germany and a consistent European industrial policy, there is little hope that the secondary sector will be able to provide an economic stimulus to overcome the current stagnation in Germany.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0166