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Die Europäische Zentralbank steht vor der Herausforderung, in der wirtschaftlich heterogenen Eurozone einen einheitlichen Zinssatz setzen zu müssen. Dieser ist mit den unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen der einzelnen Mitgliedstaaten oft nur schwer vereinbar, was zu übermäßig restriktiver oder lockerer Geldpolitik in einzelnen Eurostaaten führt. Besonders auffällig war dies während der globalen Finanz- und Eurokrise und des jüngsten Inflationsschubs. Es scheint eine erhebliche Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Zinssätzen der EZB und den nach der Taylor-Regel abgeleiteten Zinssätzen zu geben. Diese Diskrepanz hängt stark von der Annahme über die Höhe des natürlichen Zinssatzes ab und und lässt sich nur mit geldpolitischen Maßnahmen jenseits des Leitzinses verstehen.

Der Euroraum stellt keine optimale Währungsunion dar. Einerseits variieren die Inflationsraten zwischen den Mitgliedstaaten erheblich. Andererseits kann die Europäische Zentralbank (EZB) nur einen Zinssatz festlegen. Die EZB steht vor der Herausforderung, eine einheitliche Geldpolitik für die 20 Länder der Eurozone zu gestalten, deren Wirtschaften unterschiedliche Entwicklungsstufen, Produktivitätsraten und strukturelle Eigenheiten aufweisen. Mit nur einem Leitzins muss die EZB vielfältige und oft divergierende ökonomische Bedingungen berücksichtigen.

Während ein niedriger Leitzins in wachstumsschwachen Volkswirtschaften dazu beiträgt, die Konjunktur anzukurbeln, könnte er in anderen Volkswirtschaften zu Überhitzung und übermäßiger Inflation führen. Dieser „One-Size-Fits-All“-Ansatz kann daher in manchen Eurostaaten zu suboptimalen Bedingungen führen, da die EZB gezwungen ist, sich auf eine aggregierte Sicht der gesamten Eurozone zu stützen, anstatt auf die spezifischen Bedürfnisse einzelner Länder eingehen zu können. Vor allem in der jüngsten Inflationsphase trat dieses Dilemma zum Vorschein: Die Spanne zwischen der höchsten und der niedrigsten Inflationsrate einzelner Eurostaaten betrug zwischenzeitlich 18,6 Prozentpunkte. Das Dilemma der EZB wird verstärkt durch politische und fiskalpolitische Beschränkungen, da sie zwar für die Geldpolitik zuständig ist, aber wenig Einfluss auf die einzelstaatlichen Fiskalpolitiken hat. Das erschwert eine koordinierte Reaktion auf asymmetrische Schocks. Mangelnde Mobilität des Faktors Arbeit, eine unvollständige Banken- und Kapitalmarktunion mit der Einschränkung der Mobilität des Faktors Kapitals und eine vergleichsweise schwache fiskalpolitische Kapazität auf europäischer Ebene, die Schocks mit Staatsausgaben abfedern könnte, können das Umfeld verschärfen, in dem die EZB ihre Zinsen setzt.

Viele Inflationsraten, ein Leitzins

Die EZB setzt ihren Leitzins für die Eurozone als Ganzes, wodurch dieser für den Durchschnitt angemessen sein mag. Doch je größer die Bandbreite der Inflationsraten, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Zinspolitik für einige Länder zu expansiv und für andere zu restriktiv ist. Länder mit hohen Inflationsraten könnten stärkere Zinserhöhungen benötigen, während dies in Ländern mit geringerem Inflationsdruck die Wirtschaft dämpfen könnte. Abbildung 1a zeigt die Inflationsrate in der Eurozone, die Spanne zwischen der höchsten und der niedrigsten Inflationsrate in den einzelnen Mitgliedstaaten sowie den Zielwert der EZB seit Einführung des Euro als Bargeld am 1. Januar 2002. Während die durchschnittliche Inflationsrate nahe dem Zielwert von 2 % lag, zeigten sich vor und nach der globalen Finanzkrise 2008 sowie dem Energiepreisschock 2022 große Unterschiede zwischen den Ländern.

Die Schwierigkeit, einen angemessenen einheitlichen Leitzins zu finden, spiegelt sich in der Amplitude der einzelnen Inflationsraten wider (vgl. Abbildung 1c): Je höher die Spanne der einzelnen Inflationsraten, desto schwieriger ist es für die EZB, ihren Leitzins zu bestimmen. Im August 2022 betrug die Spanne zwischen der niedrigsten und der höchsten Inflationsrate im Euroraum auf ihrem Höhepunkt 18,6 Prozentpunkte zwischen Frankreich (6,6 %) und Griechenland (25,2 %). Im Durchschnitt lag sie seit 2002 bei 4,6 Prozentpunkten. Für die Kerninflation zeichnet sich ein ähnliches Bild ab (vgl. Abbildung 1b). Mit einem Höchstwert von 8,9 Prozentpunkten im Oktober 2022 und durchschnittlichen Spannweiten von 3,9 Prozentpunkten wird deutlich, dass die Problematik der EZB mit Blick auf die Kerninflationsrate zwar kleiner ausfällt, aber Spannweiten um die 10 Prozentpunkte auch hier keine Seltenheit sind.

Abbildung 1
Inflation und Kerninflation in der Eurozone und jeweilige Amplituden
Inflation und Kerninflation in der Eurozone und jeweilige Amplituden

Quelle: Eurostat (2024) und eigene Berechnungen.

Wie ist angesichts dieser Amplitude und den sich mehrenden Rufen nach niedrigeren Zinsen der Kurs der EZB einzuschätzen? In ihrer Juni-Prognose geht die EZB davon aus, dass der Euroraum im Laufe des nächsten Jahres eine durchschnittliche Inflationsrate von 2,2 % erreichen wird. Im Einzelnen dürften die Raten jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Vor diesem Hintergrund untersucht dieser Artikel die Frage, welcher Leitzins der EZB sich nach der Taylor-Regel ergeben würde. Die Antwort hängt stark vom angenommenen natürlichen Zins ab.

Theorie und Daten

Nachdem das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse in den 1970er Jahren zusammenbrach, orientierten sich immer mehr Notenbanken zunächst an der Quantitätstheorie des Geldes (mit Fokus auf die monetären Aggregate), um dann – mit Beginn der 1990er Jahre – auf Inflation Targeting umzustellen. Mit dem Einrichten von Inflationszielen entwickelte sich das geldpolitische Rahmenwerk, in dem sich Notenbanken im Grunde auch heute noch bewegen – Vines und Subacchi (2023) nennen dies „Taylor-rule macroeconomics“. Die hier namensgebende Taylor-Regel bietet ein einfaches, aber aussagekräftiges Maß, um ein optimales Leitzinsniveau der EZB für die einzelnen Länder des Euroraums zu ermitteln. Taylor (1993) liefert Leitlinien dafür, wie eine Zentralbank die Zinssätze als Reaktion auf Veränderungen der wirtschaftlichen Bedingungen anpassen sollte. Nach dieser Regel sollte eine Zentralbank die Zinssätze auf der Grundlage von drei Faktoren anpassen:

  1. Inflationslücke: Die Abweichung der Inflation von ihrem Ziel, wobei die Leitzinsen steigen sollten, wenn die Inflation über dem Zielwert liegt und fallen, wenn die Inflation unter dem Zielwert liegt.
  2. Produktionslücke: Die Abweichung der Wirtschaftsleistung von ihrem Potenzial, wobei die Leitzinsen steigen sollten, wenn die Wirtschaft schneller wächst als ihr Potenzial, was zu Inflation führen kann und sie sollten sinken, wenn das Wachstum langsam ist.
  3. Der natürliche/neutrale Zins: Also der unbeobachtbare Zinssatz, bei dem sich die Wirtschaft im Gleichgewicht befindet, in der sie mit der Potenzialrate wächst, ohne dass es zu einer Beschleunigung oder Verlangsamung der Inflation kommt.

Die Taylor-Regel stellt sich in ihrer grundsätzlichen Form wie folgt dar:

i = π + r* + α ( π π* ) + β ( y y* ) , (1)

wobei i der Taylor-Zins ist, π ist die gegenwärtige Inflationsrate und r* der natürliche Zinssatz. Die letzten beiden Terme sind die Inflationslücke, d. h. die Differenz zwischen der aktuellen Inflation und der Zielinflationsrate der Zentralbank π*, bzw. die Produktionslücke, d. h. die Differenz zwischen der tatsächlichen Wirtschaftsleistung y und dem Produktionspotenzial y*. Die Gewichte der beiden Lücken sind α und β.1 Für die Inflationsrate π wird die Kerninflation von Eurostat (2024) verwendet, d. h. die Inflation ohne Energie- und Lebensmittelpreise. Die Kerninflation ist weniger volatil als die allgemeine Inflationsrate; außerdem deuten Äußerungen von EZB-Präsidentin Lagarde und anderen EZB-Direktoriumsmitgliedern darauf hin, dass die „zugrunde liegende Inflation“ tatsächlich der wichtigere Zielparameter der EZB ist (Stirling, 2023). Die Leitzins-Daten stammen von der EZB (2024), die BIP-Daten von AMECO (2024).

Während Daten zur Inflation und zum BIP sowie zu den Leitzinsen leicht zu beschaffen sind, handelt es sich sowohl bei dem natürlichen Zins r* als auch bei der Produktionslücke um Schätzungen, die ihrerseits Gegenstand einer umfangreichen Literatur zur Produktionslücke sind (Chen & Gornika, 2020; oder das Zeitgespräch im Wirtschaftsdienst, o. V., 2022). Für die nachfolgenden Berechnungen werden für die Produktionslücken der einzelnen Euroländer sowie für die Eurozone die Schätzungen der EU-Kommission auf Basis der Commonly Agreed Method von Blondeau et al. 2021 (verfügbar auf AMECO, 2024) genutzt (diese bilden auch die Grundlage für Berechnungen im Rahmen der Schuldenregeln unter dem Stabilitäts- und Wachstumspakt).2

In Bezug auf den natürlichen Zins der Eurozone kommt die bisherige Literatur mittels verschiedenster Methoden zu dem Ergebnis, dass dieser zwischen -1 % und 2 % liegen müsste (Benigno et al., 2024; Bofinger et al., 2023; McKeown et al., 2023; Fed, 2023). Dabei hat sich der natürliche Zins im Laufe der Zeit verändert. So beobachtete EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel, dass der natürliche Zins in der Eurozone nach jahrzehntelangem Abwärtstrend – bedingt unter anderem durch demografischen Wandel, einem neuen Gleichgewicht zwischen Ersparnissen und Investitionen sowie schwachem Produktivitätswachstum – nun wieder steige (Schnabel, 2024). Weitere Gründe seien technischer Fortschritt, erhöhte Kapitalnachfrage durch die grüne Transformation und aus sicherheits- bzw. geopolitischen Gründen umorganisierte Handelsbeziehungen. Interessanterweise räumt Schnabel aber auch ein, dass die Geldpolitik selbst möglicherweise Einfluss auf den natürlichen Zins hat und damit die Neutralität der Geldpolitik herausfordere. In eine ähnliche Richtung argumentieren auch Fernández-Villaverde et al. (2024), die das Strategy Review der EZB von 2020 bis 2021 als Wendepunkt ausmachen. Hillenbrand (2022) bestätigt diesen in einer Analyse für die US-Notenbank Fed, die durch ihre Kommunikation Markt­erwartungen über den natürlichen Zins beeinflusst. Passend dazu argumentieren Ferreira und Shousha (2023), dass vor allem die Versorgung des Marktes mit sicheren Anlagen den natürlichen Zins steuere. Darüber hinaus betonen Eickmeier et al. (2024), dass auch klimawandelbedingt zunehmende Umweltkatastrophen vor allem dämpfenden Einfluss auf den natürlichen Zins hätten.

Vor diesem Hintergrund, und da wir alle in Gleichung 1 vorkommenden Variablen außer dem natürlichen Zins beobachten, werden im Folgenden für den natürlichen Zins zunächst vier Szenarien unterstellt: (a) r*=-1 , (b) r*=0, (c) r*=1 und schließlich (d) r*=2 (vgl. Abbildung 2). Darauf aufbauend verfolgt dieser Artikel einen „Reverse Engineering“-Ansatz und fragt deshalb: Welcher natürliche Zins im Taylor-Ansatz erklärt retrospektiv am besten die Geldpolitik der EZB? Dafür wird Gleichung 1 nach r* umgestellt:

r* = i - π - α ( π π* ) - β ( y y* ) . (2)

In jedem der Szenarien wird die Taylor-Regel monatlich auf Basis der jeweiligen Inflationsdaten berechnet, wobei allerdings auf die nur vierteljährlich aktualisierten BIP-Daten zurückgegriffen wird. Außerdem wird die Taylor-Zins jeweils auf Basis der tatsächlichen Eurozonen-Mitglieder berechnet, unter anderem ab 2023 mit Kroatien.

EZB-Zinspolitik in Krisenzeiten

Die Ergebnisse in Abbildung 2 legen nahe, dass die Zinsen der EZB in den krisenhaften geldpolitischen Phasen der letzten 25 Jahre häufig nicht optimal zu den ökonomischen Bedingungen der einzelnen Euro-Mitgliedstaaten passten. Insbesondere die globale Finanzkrise, die europäische Schuldenkrise und die Energiepreiskrise stellten die EZB vor Herausforderungen, die sie mit Maßnahmen jenseits des Leitzinses adressieren musste.

Die Berechnung der Zinssätze für die einzelnen Euroländer anhand der Taylor-Regel (Gleichung 1) zeigt, dass die Bewertung der Zinspolitik der EZB vom angenommenen natürlichen Zins abhängt: Ein niedrigerer angenommener natürlicher Zins führt zu einem niedrigeren Taylor-Zins, wodurch die EZB-Leitzinspolitik tendenziell restriktiver erscheint. Unter der Annahme eines natürlichen Zinses zwischen -1 % und 1 % verläuft die Zinskurve der EZB größtenteils innerhalb des Spektrums, womit die EZB-Politik hinreichend gut durch die Taylor-Regel erklärt werden kann.

Abbildung 2 zeichnet für die hier berechneten Taylor-Zinsen für die ersten Jahre seit Einführung des Euro – vor allem vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 – ein differenziertes Bild, abhängig von dem unterstellten natürlichen Zins. Im Vergleich zu einem Taylor-Zins von 2,8 % im Mittel zwischen Januar 2002 und September 2008 waren die EZB-Zinsen bei einem natürlichen Zins von -1 % zu restriktiv (vgl. Abbildung 2a). Bei einem natürlichen Zins von 0 % galt dies für rund zwei Drittel der Euroländer (vgl. Abbildung 2b), und bei einem natürlichen Zins von 1 % für etwa ein Fünftel (vgl. Abbildung 2c). Allerdings erscheint die Zinspolitik der EZB bei einem natürlichen Zins von 2 % als zu locker für die Zeit vor dem Ausbruch der globalen Finanzkrise (vgl. Abbildung 2d). Vor allem für Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande waren die Leitzinsen der EZB im Vorlauf des Lehman-Kollaps zu niedrig. Obwohl die Amplitude der individuell gebotenen Taylor-Zinsen bis 2008 im Trend fiel (vgl. Abbildung 3), hätten die gebotenen Leitzinsen laut der Taylor-Regel bei einem angenommenen natürlichen Zinssatz von 2 % in den genannten Ländern rund zwei bis drei Prozentpunkte höher sein müssen als für den Rest der Eurozone.

Abbildung 2
Spektrum der Taylor-Zinsen für die Eurozone
in %
Spektrum der Taylor-Zinsen für die Eurozone

Quelle: eigene Berechnungen nach Gleichung 1.

Mit der globalen Finanzkrise 2008 weitete sich das Spektrum der gebotenen Taylor-Zinsen aus und stieg trendmäßig. Im Vergleich zu einem Leitzins von 1,8 % im Mittel zwischen Oktober 2008 und September 2009 zeigen die Berechnungen bei einem natürlichen Zins von -1 % einen gebotenen Taylor-Zins von rund -0,5 %. Die EZB hätte bereits in dieser Zeit teilweise Negativzinsen einsetzen sollen, was sie bekanntlich erst Jahre später tat. Als die Bankenkrise zur europäischen Staatsschuldenkrise wurde, verbreiterte sich das Spektrum der gebotenen Leitzinsen weiter – auf bisher nie erreichte Amplituden von über 15 Prozentpunkten. Im Vergleich zu einem Leitzins von 0,9 % im Mittel zwischen Oktober 2009 und Februar 2014 war die Zinspolitik unter der Annahme eines natürlichen Zins von -1 % durchgehend zu restriktiv.

Abbildung 3
Amplitude der Taylor-Zinsen

in Prozentpunkten

Amplitude der Taylor-Zinsen

Die Amplitude der Taylor-Zinsen variiert nicht mit dem angenommenen natürlichen Zins, sodass hier eine Darstellung ausreicht.

Quelle: eigene Berechnungen.

Der Höhepunkt des Auseinanderklaffens der einzelnen Taylor-Zinsen – und damit der Höhepunkt der Komplexität der Geldpolitik – entstand 2012, als die Amplitude über 18 Prozentpunkte betrug (vgl. Abbildung 3). Dies war die Zeit, in der die Sorge eines Euro-Kollaps am größten war, in der Draghi (2012) seine „Whatever it takes“-Rede hielt, konditionale Staatsanleihekäufe über Outright Monetary Transactions (OMTs) erwogen wurden und in der zwei Jahre später die EZB Quantiative Easing (QE) begann, also dem weniger konditionierten Ankauf von Wertpapieren zu geldpolitischen Zwecken im Rahmen des Asset Purchase Programmes (APP). Mit dem Ankauf von Wertpapieren verengte sich das Spektrum wieder auf ähnliche Werte wie 2007/2008. Im Vergleich zu einem Leitzins von 0,0 % im Mittel zwischen März 2014 und Februar 2020 zeigen die Berechnungen unter Annahme eines natürlichen Zinses von -1 %, dass sich seit Beginn des QE der Leitzins immer mehr dem gebotenen Taylor-Zins von -0,9 % angenähert an. Unterstellt man allerdings einen höheren natürlichen Zins, so ergibt sich ein anderes Bild: Je höher der angenommene natürliche Zins, desto eher erscheint die Zinspolitik der EZB als zunehmend zu locker; unter der Annahme eines natürlichen Zins von 2 % ergab die Taylor-Regel im Mittel einen gebotenen Taylor-Zins von 2,1 % – bis die Pandemie im März 2020 ausbrach. Im Herbst/Winter 2019/2020 drehte sich die geldpolitische Debatte noch darum, die Inflation von unten wieder an das 2 %-Ziel zu bringen, während insbesondere aus Deutschland die Rufe nach Straffung laut wurden (The Economist, 2019).

Mit Ausbruch der Pandemie und den folgenden Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivität änderte sich die geldpolitische Lage stark. Der volkswirtschaftliche Schaden der Pandemie und ihre Folgen trafen überproportional Südeuropa. So verbreiterte sich das Spektrum angezeigter Leitzinsen in den einzelnen Eurostaaten erneut – die Amplitude näherte sich wieder dem Allzeithoch von 2012 und überschritt die Marke von 16 Prozentpunkten. Im Vergleich zu einem Leitzins von weiterhin 0 % im Mittel zwischen März 2020 und Juni 2022 zeigen die Berechnungen, dass selbst bei einem natürlichen Zins von 2 % zeitweise negative Leitzinsen erforderlich gewesen wären. Die Straffungsdebatte brach ab und die EZB legte ein weiteres Ankaufprogramm auf, das Pandemic Emergency Purchase Programme (PEPP).

Mit den Zinserhöhungen ab Juli 2022 reagierte die EZB auf steigende Energiepreise durch die russische Invasion der Ukraine. In diesem Zusammenhang zeigte sich in der Energieabhängigkeit der einzelnen Eurostaaten als eine weitere, kritische Dimension der Heterogenität der Eurozone. Erschwerend kam hinzu, dass die Eurozone einen negativen Angebotsschock erfuhr – die Konjunktur brach ein, während die Inflation stieg. Die konjunkturellen Kosten einer Straffung waren also höher als bei anderen Schocks. Allerdings ist das Mandat der EZB (anders als das der US-Fed) hier eindeutig: Der Kampf gegen die Inflation geht vor. Das damals am stärksten von russischer Energie abhängige Baltikum verzeichnete Inflationsraten von über 20 % und verlangte so wesentlich höhere Leitzinsen als der Rest der Eurozone. Alle hier berechneten Taylor-Zinsen zeigen, dass die Leitzinsen gegen Ende 2021 zu niedrig waren und eine Straffung angezeigt war. Selbst unter der Annahme eines natürlichen Zinses von -1 % erscheint der Leitzins schon ab September 2021 für etwa drei Viertel der Euroländer zu niedrig. Dies wäre bei einem angenommenen natürlichen Zins von 0 % oder mehr sogar schon seit Februar 2021 der Fall. Nimmt man allerdings einen natürlichen Zins von 1 % oder 2 % an, so erscheint die Zinspolitik weiterhin zu locker. In jedem Fall nimmt die Spannweite der für die einzelnen Euroländer gebotenen Taylor-Zinsen seit 2023 wieder ab.

Das Problem, einen einheitlichen Zins für eine sehr heterogene Gruppe von Volkswirtschaften zu setzen, besteht nicht nur in der stark variierenden Amplitude der gebotenen Leitzinsen für die einzelnen Euroländer, sondern auch in den raschen Vorzeichenwechseln der Abweichungen von Leit- und Taylor-Zins. Anhand der vier Zinsszenarien erscheint die EZB-Zinspolitik am ehesten zu einem unterstellten natürlichen Zins von 0,55 % zu passen. Bei diesem Wert hält sich die Anzahl der Monate seit 2002, in denen die Zinspolitik zu restriktiv war, mit jenen die Waage, in denen die Zinspolitik zu locker war. Allerdings variierte dieser Wert in jeder einzelnen Phase erheblich.

Als letztes stellen wir Gleichung 1 nach r* um, erhalten Gleichung 2 und errechnen so einen monatlichen natürlichen Zins per Inferenz (vgl. Abbildung 4). Durchschnittlich ergibt sich ein mittlerer natürlicher Zins von -1,1 %, den die EZB im Rahmen des vorliegenden Analyserahmens unterstellt hat. Dieses überraschend niedrige Ergebnis muss aber mit Blick auf den Zeitverlauf differenzierter betrachtet werden: So ergibt sich, dass der inferierte natürliche Zins bis zum Ausbruch der Finanzkrise durchschnittlich -2,2 % beträgt, danach bis Juni 2022 aber im Mittel nur -0,1 %, um dann wieder auf unrealistische -6,2 % im Durchschnitt zu fallen.

Abbildung 4
Inferierter natürlicher Zins

in %

Inferierter natürlicher Zins

Quelle: eigene Berechnungen mit Gleichung 2.

Geld- und wirtschaftspolitische Herausforderungen

Dass eine Geldpolitik nie perfekt auf jede Region oder jeden Sektor der von ihr gesteuerten Volkswirtschaft passt, ist allgemein akzeptiert. Doch im Vergleich zu den USA mangelt es der Eurozone an ausgleichenden Faktoren wie einer hohen Arbeitskräftemobilität, einem der USA ebenbürtigen integrierten Binnen- und Finanzmarkt sowie einer Fiskalkapazität, die jener der US-Bundesregierung entspricht. Daher werfen die identifizierten Diskrepanzen zwischen den von der Taylor-Regel vorgeschlagenen Zinsen und den tatsächlich von der EZB festgelegten Zinssätzen einige geld- und wirtschaftspolitische Herausforderungen auf:

  • Asymmetrische Schocks: Die zeitweise sehr große Diskrepanz zwischen gebotenem und tatsächlichem Leitzins mit Beginn der globalen Finanzkrise macht deutlich, wie asymmetrische Schocks die Geldpolitik der Eurozone herausfordern. Der Zustand der Eurozone als Ganzes betrachet kann zu ganz anderen – gar diametralen – Schlussfolgerungen führen, als wenn jede Volkswirtschaft einzeln betrachtet würde. Eurokrise, Pandemie und Energiepreiskrise waren dabei die größten Herausforderungen. Da die EZB auch künftig mit ihrem Leitzins allein nicht flexibel auf die spezifischen Bedürfnisse jedes Eurolandes reagieren kann, entsteht gerade in Krisenzeiten Druck auf die nationalen Regierungen, fiskalpolitisch gegenzusteuern. Vor diesem Hintergrund erscheinen die jüngsten Haushaltszahlen aus Italien und Frankreich und auch die durch die deutsche Schuldenbremse bewirkte Austerität bedenkenswert. Ferner dürften spätestens mit den 2025 beginnenden Verhandlungen über den nächsten EU-Haushalt auch die Debatte über mehr „Fiskalkapazität“ auf EU-Ebene stärker werden. So diskutiert z. B. EZB-Direktioriumsmitglied Panetta (2023) dieses „missing element in the EU fiscal governance framework“ ausführlich. In jedem Fall gilt es, die Faktoren Arbeit und Kapital innerhalb der Eurozone weiter zu mobilisieren, um besser auf regional unterschiedlich stark auftretende Krisen zu reagieren. So unterstreichen die Ergebnisse die Notwendigkeit der weiteren Vertiefung des Binnenmarktes sowie den Abschluss der Banken- und Kapitalmarktunion.
  • Ungleichgewichte: Dass mangels länderspezifischer Leitzinsen manche Volkswirtschaften überhitzen, während andere unter zu hohen Finanzierungskosten leiden, könnte langfristige Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone fördern, wie etwa dauerhaft unterschiedliche Wachstums- oder Arbeitslosigkeitsraten. Das Verfahren für makroökonomische Ungleichgewichte im Rahmen des Europäischen Semesters der EU soll genau dieser Gefahr vorbeugen. Dass die EU-Kommission diversen Mitgliedstaaten (darunter Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande oder Griechenland) über Jahre ein Ungleichgewicht attestiert, aber der korrektive Arm des Verfahrens bislang noch nie aktiviert wurde, ist ein Indiz dafür, dass dieses Verfahren gestärkt oder überarbeitet werden sollte.
  • Aufgaben und Instrumente der Geldpolitik: Alleine das Ergebnis, dass die Taylor-Regel sehr oft deutlich negative Leitzinsen empfahl, dies aber realgeldpolitisch kaum umsetzbar ist, zeigt, dass der Leitzins alleine weder ausreicht, um das primäre Mandat der EZB – die Garantie von Preisstabilität – zu gewährleisten, noch um die Zinspolitik der EZB retrospektiv zu erklären. Dazu sind die über die Jahre von der EZB eingeführten Instrumente (OMTs, APP, PEPP oder dem 2022 eingerichteten, aber bislang nicht eingesetzten Transmission Protection Instrument, TPI) mit einzubeziehen. Gerade das TPI soll explizit Staatsanleihen von Eurostaaten ankaufen, deren Aufschläge (Spreads) sich zu sehr vom Rest der Eurozone entfernen. Da die EZB mit dem im März überarbeiteten Rahmenwerk ihrem zweiten Mandat – der Unterstützung der allgemeinen Wirtschaftspolitik der EU – über ein noch einzurichtendes „strukturelles“ Anleiheportfolio größere Beachtung schenken möchte, dürfte die Debatte über Ausrichtung und Strategie der EZB weitergehen. So forderte der französische Präsident Macron (2024) jüngst, dass die EZB neben dem Inflations- auch ein Wachstums- oder gar Klimaziel erhalten solle.
  • Praktischer Nutzen des natürlichen Zinses: Aus konzeptioneller Sicht stellt sich die Frage, wie nützlich eine unbeobachtete und deshalb immer zu schätzende Größe wie der natürliche Zins für die Geldpolitik wirklich ist. Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich schließen hierzu: „Assessments of the level and direction of r* are surrounded by very high uncertainty, making it a blurry guidepost for monetary policy, especially in the current context“ (Benigno et al., 2024). Die hier vorgelegten Ergebnisse untermauern diese Aussage, vor allem mit Blick auf die Eurozone als Aggregat.

Fazit

Taylor (1993, 195) schrieb selbst, seine Regel sei ein „concept […] in a policy environment where it is practically impossible to follow mechanically any particular algebraic formula that describes the policy rule.“ Die mit ihr hier erzielten Ergebnisse illustrieren diese Gratwanderung, also die Schwierigkeit der EZB, die für eine heterogene Gruppe von Volkswirtschaften eine Geldpolitik machen muss. Die Analyse zeigt, wie zentral der angenommene, aber nicht direkt beobachtbare natürliche Zins ist. Sieht man diesen eher bei 0 % oder gar im Negativen, so ergibt sich eine ganz andere Bewertung der Leitzinsen, als bei einem angenommenen natürlichen Zins von 2 %. Die hier vorgelegten Ergebnisse deuten daraufhin, dass die Leitzinsen der EZB am besten auf einen natürlichen Zins für die Eurozone zwischen -1 % und 1 % passen. Angesichts der gegenwärtigen Spekulationen, wann die EZB die Zinszügel weiter lockern wird, zeigt sich, dass die Antwort auf die Frage nicht nur von der Höhe der Inflation, sondern zum einen von der Größe der angenommen Produktionslücke und andererseits von dem angenommen natürlichen Zins abhängt: Je niedriger die Annahme, desto eher wäre eine Lockerung angezeigt.

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen sind ausschließlich die des Autors als Privatperson und spiegeln nicht notwendigerweise Politik oder Position des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz oder einer seiner nachgelagerten Behörden wider.

  • 1 In manchen Adaptionen, beispielweise im QUEST-Modell der EU-Volkswirtschaft (EU-Kommission, 2024), wird Gleichung (1) auch noch der gewichtete Leitzins der Vorperiode t-1 angefügt. Für die vorliegende Fragestellung ist aber die gängigere einfachere Form ausreichend.
  • 2 Da dieser Artikel keinen direkten Beitrag zu den oben genannten Literatursträngen leisten will, werden einerseits die offiziellen Schätzungen für die Produktionslücke unverändert genutzt. Auch die Gewichte für Inflations- und Produktionslücke α und β bleiben bei 0,5 ebenfalls konstant und entsprechen den Annahmen von Taylor selbst und den meisten nachfolgenden Studien.

Literatur

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Bofinger, P. & Haas, T. (2023, 3. Oktober). R-star: An alternative approach to estimate the polar star of monetary policy. VoxEU.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0165