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Dieser Beitrag ist Teil von Beschäftigung im Wandel: Wie KI, Demografie und Institutionen den Arbeitsmarkt verändern

In der aktuellen Diskussion zur europäischen Wachstumsschwäche wird die Arbeitsmarktdynamik weitgehend ausgeblendet. Ausgehend von einem Vergleich der Produktivitätsentwicklung und IT-Investitionen in den USA und Europa untersuchen wir, inwiefern starre Arbeitsmarktinstitutionen die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft hemmen können. Gerade in Zeiten technologischer Umbrüche ist Arbeitsmarktflexibilität ein wichtiger Wachstumstreiber, der disruptive Innovationen ermöglicht. Wir plädieren für mehr Forschung zu den Wachstumseffekten von Arbeitsmarktinstitutionen sowie für eine Politik, die Beschäftigten mehr Mobilität und Anpassungsfähigkeit ermöglicht.

„Europe largely missed out on the digital revolution led by the internet and the productivity gains it brought: in fact, the productivity gap between the EU and the US is largely explained by the tech sector. The EU is weak in the emerging technologies that will drive future growth. [...] Europe is stuck in a static industrial structure with few new companies rising up to disrupt existing industries or develop new growth engines.“ (Draghi, 2024)

Die Entstehung der transatlantischen Produktivitätslücke

Im Jahr 1995 lag die Produktivität, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro geleisteter Arbeitsstunde, in der Eurozone noch nahezu auf dem Niveau der USA (Abbildung 1). Die anschließende Entwicklung verlief jedoch deutlich unterschiedlich: Bis 2022 stieg die Produktivität in den USA um 53 %, während sie in der Eurozone nur um 29 % zulegte. Die Kluft vergrößerte sich bis 2008 beständig, nahm danach insbesondere in der Finanzkrise und während der Coronapandemie weiter zu und verharrt seitdem auf einem hohen Niveau. Gleichzeitig verzeichneten die Volkswirtschaften im Euroraum nur geringe Investitionen in neue Technologien. Ein Vergleich des IT-bezogenen Kapitalbestands in den USA und in Frankreich, Deutschland und Italien zeigt, dass US-Unternehmen deutlich mehr in neue Informationstechnologien (IT) investierten (Abbildung 2). In den USA verzehnfachte sich der IT-bezogene Kapitalbestand1 in den vergangenen drei Jahrzehnten, während er in den genannten europäischen Volkswirtschaften deutlich weniger stark gestiegen ist. Der Unterschied in IT-Investitionen trägt signifikant zum Wachstumsunterschied zwischen den USA und Europa bei. Europa hat in weit geringerem Maße als die USA von der IT-Revolution profitiert. Erste Umfrageergebnisse zeigen, dass Europa auch bei der Nutzung von KI hinter die USA zurückfällt: In den USA geben rund 35 % der Beschäftigten an, KI am Arbeitsplatz zu nutzen. In den untersuchten EU-Ländern lag dieser Anteil zwischen 20 % und 30 % (Bick et al., 2025).

Abbildung 1
BIP pro geleistete Arbeitsstunde im Euroraum und in den USA, 1995 bis 2022
USA 1995 = 100
BIP pro geleistete Arbeitsstunde im Euroraum und in den USA, 1995 bis 2022

Quelle: OECD (2025a), Bruttoinlandsprodukt pro geleisteter Arbeitsstunde.

Abbildung 2
Vergleich des realen IT-bezogenen Kapitalstocks, 1995 bis 2021
1995 = 100
Vergleich des realen IT-bezogenen Kapitalstocks, 1995 bis 2021

Quelle: EUKLEMS & INTANProd-Datenbank, Ausgabe 2024, siehe Bontadini et al. (2023).

Wie lässt sich der technologische und geopolitische Strukturwandel in Europa dynamischer gestalten, um Wirtschaftswachstum zu ermöglichen? Die politische Diskussion – mit dem Draghi-Report als ihre prominenteste Stimme – konzentriert sich bislang vor allem auf klassische wirtschaftspolitische Maßnahmen, wobei Industriepolitik und die Entwicklung einer Kapitalmarktunion als zentrale Lösungsansätze gelten. Da die Arbeitslosenquote in den meisten europäischen Ländern in den letzten Jahrzehnten gefallen ist oder stabil blieb – abgesehen von den Phasen der europäischen Schuldenkrise – bleiben Arbeitsmarktinstitutionen weitgehend von der Debatte ausgeschlossen. Um den wirtschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden, gilt es jedoch auch, gezielte Reformen und Flexibilisierungen im Arbeitsmarkt anzudenken. Denn starre Arbeitsmarktregelungen behindern die Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft und hemmen gerade jene disruptiven Innovationen, die entscheidend für Wachstum sind (Fuchs-Schündeln & Schoefer, 2025).

Arbeitsmarktpolitik neu denken: Fokus auf Beschäftige statt auf Arbeitslose

Innerhalb der Arbeitsmarktpolitik lag der Fokus in der Vergangenheit auf der Arbeitslosenquote und somit auf den Arbeitslosen. Wenig Augenmerk wurde auf die Mobilität der Beschäftigten gerichtet. Betrachtet man jedoch die Beschäftigten, so treten andere Arbeitsmarktinstitutionen als z. B. das Arbeitslosengeld in den Vordergrund. Diese anderen Arbeitsmarktinstitutionen haben das Potenzial, das Wachstum maßgeblich zu beeinflussen. Sie wirken sich insbesondere auf (i) die Dynamik des Arbeitsmarktes und (ii) die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen aus. Beide Faktoren sind zentral, um Fehlallokationen auf den Märkten zu reduzieren, Innovationen zu fördern und Investitionen anzuregen.

Die Rigidität europäischer Arbeitsmärkte

Die europäischen Arbeitsmärkte haben eine deutlich niedrigere Flexibilität als der amerikanische. Die Unterschiede zwischen den USA und Europa schlagen sich in konkreten Zahlen nieder: In den meisten europäischen Ländern wechseln jeden Monat zwischen 0,5 % und 1,5 % der Personen ihren Arbeitgeber, in den USA sind es mit 2,3 % deutlich mehr. Im europäischen Durchschnitt ist ein Fünftel der Beschäftigten seit mindestens 20 Jahren bei demselben Arbeitgeber tätig, in den USA hingegen nur ein Zehntel. Am anderen Ende des Spektrums verhält es sich genau umgekehrt: Im Großteil der europäischen Länder befinden sich weniger als 12 % der Arbeitnehmer im ersten Jahr bei ihrem Arbeitgeber, während es in den USA 22 % sind (Schoefer, 2025; Abbildung 3).

Abbildung 3
Verteilung der Beschäftigungsdauer nach Ländern
Anteil alter (> 20 Jahre) und junger (< 1 Jahr, alle Verträge und unbefristete Verträge) Arbeitsplätze an der Gesamtbeschäftigung
Verteilung der Beschäftigungsdauer nach Ländern

Die Daten für die europäischen Volkswirtschaften stammen aus der EU-LFS zwischen 2022 und 2023. Die Berechnungen basieren auf den bereitgestellten Umfragegewichten. Die Daten für die USA werden vom Bureau of Labor Statistics gemeldet und beziehen sich auf Januar 2024.

Quelle: Schoefer (2025).

Es gibt verschiedene bestehende Regelungen für Beschäftigte, die clever und gezielt reformiert werden können, um die Anpassungsfähigkeit der Arbeitsmärkte zu erhöhen und Stellenwechsel zu incentivieren, ohne den Schutz der Beschäftigten aufzugeben. Hoher Kündigungsschutz bei einer langen Betriebszugehörigkeit, der in Kontrast zu einem sehr geringen Kündigungsschutz während der Probezeit steht, macht Stellenwechsel für Beschäftigte riskant und damit unattraktiv. Kündigungsschutz und Mitbestimmung, also das Recht der Arbeitnehmer, an der Unternehmensführung teilzuhaben, sind wertvolle Errungenschaften der Arbeitsmarktpolitik, verringern aber gleichzeitig die Anreize für Betriebswechsel. Sie zielen darauf ab, Arbeitsverhältnisse langfristig zu sichern. Aber auch andere Regelungen erhöhen die Bindung von Beschäftigten an einen Arbeitgeber, z. B. Abfindungen und betriebliche Altersrenten, insbesondere wenn sie mit zunehmender Betriebszugehörigkeit steigen. Betriebliche Altersrenten lassen sich darüber hinaus nicht immer auf neue Arbeitgeber übertragen. Auch die Arbeitslosenversicherung schränkt Ansprüche ein, wenn Beschäftigte ihren Arbeitsplatz eigenständig aufgeben, was die Bereitschaft zum Jobwechsel mindert. Gehaltsstrukturen, die an die Betriebszugehörigkeit gebunden sind, machen Jobwechsel zusätzlich unattraktiv. Wettbewerbsverbote sowie die Kurzarbeit, die den Arbeitsplatzerhalt in einer Konjunkturkrise erlaubt, hemmen die Flexibilität ebenfalls. Zuletzt schränken fehlende Informationen über die tatsächlichen Vorteile eines Jobwechsels die individuelle Mobilität weiter ein.

All diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen haben ihren Sinn und Zweck. Sie bieten den Beschäftigten Verlässlichkeit und helfen Unternehmen, firmenspezifisches Wissen zu erhalten, was gerade in kurzfristigen Krisen sehr wertvoll ist. Sie hemmen jedoch das Wachstum, wenn dynamische Anpassungen gefragt sind. Zudem erhöhen sie die Anreize für Beschäftigte, beim derzeitigen Arbeitgeber zu bleiben, selbst wenn die Beschäftigten selbst nicht mit den Bedingungen am Arbeitsplatz zufrieden sind. Es fehlt in der aktuellen Debatte die Frage, wie eine aktive Arbeitsmarktpolitik gezielt auf Beschäftigte ausgerichtet werden kann, um proaktiv deren Mobilität und damit die Arbeitsmarktdynamik zu stärken.

Arbeitsmarktdynamik bringt nicht nur gesamtwirtschaftlich, sondern auch für die einzelnen Arbeitnehmer Vorteile: Auf individueller Ebene gehen mehr Wechsel über die gesamte berufliche Laufbahn gesehen mit höheren Lohnsteigerungen einher (Engbom, 2023). Auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene kann diese Reallokation die Wirtschaftsleistung erhöhen. Heutzutage verzeichnen Länder mit einem höheren Anteil von Jobwechslern höhere Wachstumsraten (Schoefer, 2025; Abbildung 4).

Abbildung 4
Korrelation zwischen Jobwechselraten und BIP-Wachstum
Korrelation zwischen Jobwechselraten und BIP-Wachstum

Quelle: Schoefer (2025).

Arbeitsmarktdynamik ist zentral für die Einführung und Verbreitung neuer Technologien

Wenn sich das Wirtschaftswachstum eher aus kleinen, schrittweisen Innovationen speist, wie es in den 1970er und 1980er Jahren der Fall war, ist die Arbeitsmarktdynamik vielleicht zweitrangig. Insbesondere seit den 2000er Jahren sind aber disruptive „Sprunginnovationen“ wichtiger geworden. Mit Digitalisierung und grüner Transformation wird das auch in den kommenden Jahren der Fall sein. Firmen benötigen dynamische Arbeitsmärkte für die Einführung neuer Technologien und das Experimentieren mit disruptiven Innovationen. Daher sind Jobwechsel ein wichtiger Wachstumsmotor.

Dynamische Arbeitsmärkte ermöglichen es Unternehmen auch, Rezessionen für Umstrukturierungen zu nutzen. Der Unterschied in der Arbeitsmarktpolitik zwischen den USA und Europa zeigte sich besonders deutlich in der Coronakrise. Abbildung 5 stellt die Arbeitslosenquote in den USA von 2018 bis 2023 denen in Italien, Frankreich und Deutschland gegenüber. Als Reaktion auf die Krise entließen US-Unternehmen Arbeitnehmer, was signifikanten Arbeitsplatzverlust und darauf folgende Neueinstellungen zur Folge hatte. Im Gegensatz dazu setzten die genannten europäischen Länder überwiegend auf Maßnahmen, die Beschäftigungsverhältnisse bewahrten, insbesondere Kurzarbeit.

Abbildung 5
Vergleich der Arbeitslosenquote, 2018 bis 2023 (vierteljährlich)
Vergleich der Arbeitslosenquote, 2018 bis 2023 (vierteljährlich)

Quelle: OECD (2025b), Arbeitslosenquote.

Hershbein und Katz (2018) zeigen, dass US-Unternehmen in Regionen, die von der Finanzkrise besonders betroffen waren, entlassungsbedingte Umstrukturierungen nutzten, um bei den folgenden Neueinstellungen das Qualifikationsniveau ihrer Beschäftigten zu erhöhen. In der Folge investierten sie mehr in neue Technologien, was in stärkerem Lohnwachstum resultierte. Das ist ein Beispiel dafür, wie eine Krise genutzt werden kann, um neues Wachstum zu ermöglichen, wenn die Arbeitsmärkte flexibel sind.

Europäische Regelungen schützen hingegen spezifisches Humankapital der Unternehmen. Dies ist in stabilen Zeiten vorteilhaft, wenn nach einer kurzen Rezession die Wirtschaft dem alten Muster wieder folgen wird, in Zeiten bedeutender Strukturumbrüche aber keine passende Politik. Die langsame Umstrukturierung und Reallokation verzögert letztendlich das Produktivitätswachstum. Wir brauchen in Europa eine Arbeitsmarktpolitik, die eine Absicherung der Beschäftigten gewährleistet, ohne Stellenwechsel zu behindern. Dies ist möglich, indem mehr Regelungen und Rechte an den Beschäftigten gebunden werden als an die Stelle, also die aktuelle Verbindung zwischen Beschäftigtem und Arbeitgeber.

Welche Impulse ergeben sich für die Wirtschaftspolitik?

Es lohnt sich, mehr über die Schnittstellen zwischen Arbeitsmarktreformen, Arbeitsmarktdynamik und Wirtschaftswachstum zu diskutieren – und diese stärker zu erforschen. Dabei ist es auch sinnvoll, über die Reduzierung von Hindernissen für den Jobwechsel nachzudenken. Arbeitsmarktreformen und die Ermutigung zu Stellenwechseln sollten stärker in den Fokus der Politik rücken. Für eine substanzielle Debatte sind weitere Kausalanalysen zu den Effekten von Arbeitsmarktinstitutionen auf Wachstum und Innovation essenziell.

1 Der IT-bezogene Kapitalbestand ist die Summe des Nettokapitalbestands (verkettete Volumen) an Computerausrüstung und Computersoftware sowie Datenbanken für alle NACE-Branchen.

Literatur

Bick, A., Blandin, A., Deming, D., Fuchs-Schündeln, F. & Jessen, J. (2025). Generative AI Adoption in Europe and the US. Own survey, ongoing work.

Bontadini, F., Corrado, C., Haskel, J., Iommi, M. & Jona-Lasinio, C. (2023). EUKLEMS & INTANProd: Industry productivity accounts with intangibles – Sources of growth and productivity trends: Methods and main measurement challenges.

Draghi, M. (2024). The Future of European Competitiveness – A Competitiveness Strategy for Europe.

Engbom, N. (2023). Misallocative growth. Working Paper.

Fuchs-Schündeln, N. & Schoefer, B. (2025, 01. August). Wir müssen den Arbeitsmarkt dynamisieren. Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Hershbein, B. & Kahn, L. B. (2018). Do recessions accelerate routine-biased technological change? Evidence from vacancy postings. American Economic Review, 108(7), 1737–1772.

OECD – Organisation for Economic Co-operation and Development. (2025a). GDP per hour worked (indicator: GDPHRWKD).

OECD – Organisation for Economic Co-operation and Development. (2025b). Unemployment rate.

Schoefer, B. (2025). Eurosclerosis at 40: Labor Market Institutions, Dynamism, and European Competitiveness. ECB Forum on Central Banking, Sintra.

Title:Dynamism instead of stagnation: labour market institutions as a key factor for growth

Abstract:The current debate on sluggish growth in Europe largely ignores labour market dynamics. Based on a comparison of productivity trends and IT investment in the US and Europe, we investigate how rigid labour market institutions can hamper the economy’s ability to adapt. Especially in times of technological upheaval, labour market flexibility is an important driver of growth that enables disruptive innovation. We argue for more research on the growth effects of labour market institutions and for policies that enable employees to be more mobile and adaptable.

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© Der/die Autor:in 2025

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DOI: 10.2478/wd-2025-0182