Jahrelang galt der deutsche Arbeitsmarkt als robust. Doch das hat sich nun geändert. Zwar ist die deutsche Erwerbslosenquote im internationalen Vergleich weiter niedrig, die Arbeitslosigkeit ist seit 2022 aber spürbar angestiegen. Anfangs war dieser Anstieg größtenteils auf die Fluchtmigration aus der Ukraine zurückzuführen, zuletzt kommt der Anstieg aber aus dem Arbeitsmarkt selbst. Zum kleineren Teil gehen Personen aus der Beschäftigung in die Arbeitslosigkeit, z. B. aufgrund einer Entlassung. Zum größeren Teil verbleiben Personen länger in der Arbeitslosigkeit, da die Neueinstellungen rückläufig sind.
Zwei Entwicklungen prägen derzeit den Arbeitsmarkt: Erstens zeigen sich starke Unterschiede zwischen den Branchen. Während die Beschäftigung im Verarbeitenden Gewerbe, im Bau und im Handel sinkt, wächst sie in den meisten Dienstleistungsbereichen, besonders in der öffentlichen Verwaltung, im Gesundheitswesen und in den Bereichen Pflege und Erziehung. Zweitens steigt die Beschäftigung ausschließlich bei Ausländern, insbesondere aus Drittstaaten wie der Ukraine oder dem Westbalkan, während sie bei Deutschen bereits seit einiger Zeit rückläufig ist. Diese Entwicklungen spiegeln sowohl den anhaltenden wirtschaftlichen Abschwung als auch tiefgehende strukturelle Veränderungen wider. Die deutsche Industrie leidet unter internationalem Wettbewerbsdruck, Handelskonflikten, hohen Energiepreisen sowie innen- und geopolitischer Unsicherheit. Diese Belastungen stellen das deutsche Exportmodell zunehmend infrage. Infolge sinkt die Industrieproduktion seit Jahren und das Wirtschaftswachstum war in den letzten zwei Jahren negativ. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass eine schwache Arbeitsnachfrage Spuren am Arbeitsmarkt hinterlässt. Das Verhältnis offener Stellen zu Arbeitslosen (aus dem konjunkturnahen Rechtskreis SGB III) ist laut IAB-Stellenerhebung von 0,8 im Jahr 2022 auf etwa 0,5 gefallen. Trotz leicht erhöhter Kurzarbeit bleibt deren Umfang im Vergleich zur Wirtschaftslage moderat. Viele Unternehmen scheinen den Rückgang ihrer Arbeitsnachfrage als dauerhaft zu bewerten.
Ein stärkerer Anstieg der Arbeitslosigkeit wird durch die demografische Entwicklung verhindert, die das Arbeitsangebot zunehmend einschränkt. Die Alterung der Gesellschaft führt seit Jahren zu einem Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials. Dieser Rückgang konnte bisher durch Zuwanderung und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und älteren Menschen kompensiert werden. Trotz der demografischen Entwicklung steigt die Arbeitslosigkeit, weil Arbeitssuchende und die Anforderungen offener Stellen nicht immer zueinander passen (Mismatch). Hinzu kommt, dass es nicht gelingt, alle jungen Menschen in eine Ausbildung zu bringen. Digitalisierung und künstliche Intelligenz können dabei helfen, den Arbeitskräftemangel abzufedern und die Produktivität zu steigern, bedeuten aber einen Wandel vieler bestehender Tätigkeitsfelder.
Die Verfassung des Arbeitsmarkts lässt sich mit der Beveridge-Kurve beschreiben, die den empirischen Zusammenhang von offenen Stellen und Arbeitslosen abbildet. Bewegungen entlang dieser typischerweise fallenden Kurve deuten auf konjunkturelle Veränderungen hin, während strukturelle Veränderungen des Arbeitsmarkts als Verschiebungen der gesamten Kurve interpretiert werden können. So kam es z. B. nach den Hartz-Arbeitsmarktreformen zu einer deutlichen Verschiebung nach innen, was auf eine Verbesserung der Arbeitsmarkteffizienz hindeutet. Aktuell zeigt sich hingegen keine ausgeprägte Verschiebung nach außen. Dies legt nahe, dass der jüngste Anstieg der Arbeitslosigkeit keine strukturellen Ursachen am Arbeitsmarkt hat, die das Zusammenkommen (Matching) von offenen Stellen und Arbeitssuchenden betreffen. Sollte allerdings der Mismatch weiter zunehmen, könnte sich dies in Zukunft ändern.
Die Transformation am Arbeitsmarkt ist längst da. Um diese zu gestalten, braucht es einen dynamischen Arbeitsmarkt, der gleichzeitig Risiken absichert. Wandel gelingt nur, wenn Beschäftigte bereit sind Risiken, wie einen Jobwechsel oder eine Unternehmensgründung, einzugehen. Dafür ist eine starke Sozialversicherung unverzichtbar, die auch attraktive Modelle für Selbständige bereithält. Das bestehende System könnte durch Vereinfachungen, bessere Anreize und weniger Bürokratie effizienter gestaltet werden. Flexibilität in der Arbeitswelt muss auch mit einer starken Verhandlungsposition der Beschäftigten einhergehen – etwa durch Tarifbindung, Betriebsräte und wirksame Mindestlöhne. Das ist nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen wichtig: Eine zu starke Marktmacht von Unternehmen wirkt sich nachweislich negativ auf die Produktivität aus. Abhilfe schaffen Transparenz sowie eine hohe Mobilität der Arbeitskräfte. Zudem ist eine gezielte Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland unerlässlich. Hier besteht Handlungsbedarf – etwa bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse und der Entwicklung einer Willkommenskultur. Dass viele zugewanderte Fachkräfte nicht dauerhaft bleiben, zeigt den dringenden Handlungsbedarf.