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Bis spätestens zum 30. Juni 2025 muss die Mindestlohnkommission einen Beschluss darüber fassen, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland in den kommenden beiden Jahren sein soll. Im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Bundesregierung wird die Erwartung formuliert, dass sich die Kommission hierbei neben der Tarifentwicklung erstmals auch am Referenzwert von 60 % des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten orientiert. Damit folgen die Koalitionsparteien einer Empfehlung für ein angemessenes Mindestlohnniveau aus der Europäischen Mindestlohnrichtlinie. Die Mindestlohnkommission selbst hatte sich bereits Anfang 2025 in ihrer neuen Geschäftsordnung auf diesen Referenzwert als zusätzliche Orientierungsgröße verständigt. Damit dürfte die deutsche Mindestlohnpolitik vor einer grundlegenden Neuorientierung stehen.

Der gesetzliche Mindestlohn war in Deutschland seit jeher Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten. Schon vor seiner Einführung vor zehn Jahren wurde heftig über die Funktion des Mindestlohns und seine möglichen ökonomischen Folgewirkungen gestritten. Mittlerweile ist der Mindestlohn zu einem weitgehend akzeptierten Regelungsinstrument der deutschen Arbeitsmarktordnung geworden. Kontrovers geblieben ist jedoch die Frage, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Bundesregierung hat diese Debatte erneut befeuert: Laut dem dort formulierten Kompromiss soll „an einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission“ festgehalten werden. Dies wird mit der Feststellung verbunden, dass sich die Mindestlohnkommission künftig „im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten“ orientiert. Nach Einschätzung des Koalitionsvertrags soll „auf diesem Weg […] ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“ sein (CDU, CSU & SPD, 2025, Rz. 548-552.

Der Beschluss liegt also weiterhin in den Händen der Mindestlohnkommission, wo der neue Mindestlohn von den Vertreter:innen der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften ausgehandelt wird. Das Mindestlohngesetz (§ 9 Abs. 2) nennt dafür die Entwicklung der Tariflöhne als Orientierungspunkt. Zugleich wird der Mindestlohnkommission ein sehr weitgehender Entscheidungsspielraum zugestanden, im Rahmen einer Gesamtabwägung unterschiedliche soziale, ökonomische und beschäftigungspolitische Aspekte zu berücksichtigen. Anders als bei Tarifverhandlungen verfügen die Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission allerdings kaum über Druckmittel, um ihre Forderungen durchzusetzen. In der Praxis lief dies in der Vergangenheit darauf hinaus, dass die Tarifentwicklung das dominante Anpassungskriterium war.

Kriterien für einen angemessenen Mindestlohn

Dies hat im Ergebnis dazu geführt, dass der Mindestlohn im Wesentlichen auf seinem Einführungsniveau fortgeschrieben wurde und eine eigenständige Überprüfung des Mindestlohnniveaus durch die Kommission ausgeblieben ist. Hier zeigt sich ein wesentliches Defizit des Mindestlohngesetzes, das zwar einen „angemessenen Mindestschutz“ einfordert, jedoch keine greifbaren Kriterien für eine angemessene Mindestlohnhöhe definiert. Vor diesem Hintergrund hat die Europäische Mindestlohnrichtlinie (Müller & Schulten, 2022) einen wichtigen Impuls gegeben. In der Ende 2022 verabschiedeten Richtlinie (Europäisches Parlament & Europäischer Rat, 2022) werden eine Reihe von Kriterien formuliert, die im Vergleich zum deutschen Mindestlohngesetz deutlich konkreter sind. Hierzu gehört neben der Kaufkraft des Mindestlohns und der allgemeinen Lohn- und Produktivitätsentwicklung auch die Verpflichtung, bei der Bewertung der Angemessenheit des gesetzlichen Mindestlohns einen Referenzwert zugrunde zu legen. Die Richtlinie verweist diesbezüglich auf die „auf internationaler Ebene übliche[n] Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns“ (Europäisches Parlament & Europäischer Rat, 2022, Art. 5 Abs. 4).

In der deutschen Debatte hat sich mittlerweile der Referenzwert von 60 % des Medianlohns von Vollzeitbeschäftigten als Orientierungsgröße durchgesetzt (Lesch & Schröder, 2025; Lübker et al., 2025; Schulten, 2024). Auch die Mindestlohnkommission hat sich in ihrer neuen Geschäftsordnung vom Januar 2025 darauf verständigt, sich bei zukünftigen Anpassungen des Mindestlohns „im Rahmen einer Gesamtabwägung nachlaufend an der Tarifentwicklung sowie am Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten“ zu orientieren (Mindestlohnkommission, 2025, § 2 Abs. 1a). Der Koalitionsvertrag zitiert insofern also nur die Geschäftsordnung der Kommission.

Mindestlohn und Tarifentwicklung

Bisher war die Tarifentwicklung die wesentliche Orientierungsgröße für die Anpassungsbeschlüsse der Mindestlohnkommission. Grundlage hierfür war der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes ohne Sonderzahlungen auf der Basis der Stundenverdienste. Ein Vergleich beider Größen zeigt deutlich, dass der Mindestlohn bis Mitte 2022 den Tariflöhnen stets hinterherläuft (Abbildung 1). Jede Mindestlohnerhöhung hat den Abstand zu den Tariflöhnen immer wieder reduziert, ohne diese jedoch einzuholen. Erst mit der relativ kräftigen Mindestlohnerhöhung auf 10,45 Euro zum 1. Juli 2022 überschreitet das nominale Mindestlohnwachstum erstmals leicht die Tarifentwicklung. Mit der außerordentlichen Mindestlohnerhöhung auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 setzt sich der Mindestlohn dann deutlich von der Entwicklung der Tariflöhne ab. Da diese Erhöhung durch den Deutschen Bundestag beschlossen wurde und damit aus Sicht der Mindestlohnkommission exogen gegeben war, wird der Tarifindex zu diesem Zeitpunkt in Abbildung 1 auf eine neue Basis gestellt.1

Abbildung 1
Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns und der tarifvertraglichen Stundenlöhne, 2015-2025
Entwicklung des gesetzlichen Mindestlohns und der tarifvertraglichen Stundenlöhne, 2015-2025

Quelle: Statistisches Bundesamt (2025a); WSI-Mindestlohndatenbank (2025); eigene Berechnungen.

In den Jahren 2023 bis 2025 bleibt die Entwicklung des Mindestlohns wieder hinter den Tariflöhnen zurück. Der Abstand fällt sogar noch größer aus, wenn man den Tarifindex inklusive Sonderzahlungen verwendet. Dieser ist in den letzten Jahren deutlich stärker angestiegen, was vor allem mit der hohen Verbreitung der sogenannten Inflationsausgleichsprämien zusammenhängt (Schulten & WSI-Tarifarchiv, 2025). Lesch (2023) hat vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, dass die Mindestlohnkommission zumindest vorrübergehend den Tarifindex mit Sonderzahlungen berücksichtigt.

Legt man die Tariflohnentwicklung der Jahre 2023 und 2024 zugrunde, so ergibt sich hieraus eine Erhöhung des Mindestlohns auf 13,71 Euro (ohne Sonderzahlungen) bzw. 13,92 Euro (mit Sonderzahlungen) (Lübker et al., 2025, S. 10).2 Werden darüber hinaus auch noch die Tariflohnerhöhungen in den ersten Monaten des Jahres 2025 eingerechnet, so müsste der Mindestlohn auf über 14 Euro ansteigen. Schließlich haben die Tarifvertragsparteien in jüngster Zeit als Reaktion auf die hohen Inflationsraten in vielen Tarifverträgen die unteren Lohngruppen überdurchschnittlich stark angehoben, was ebenfalls für eine überdurchschnittliche Erhöhung des Mindestlohns spricht.

Der Mindestlohn und die allgemeine Preis-, Lohn- und Produktivitätsentwicklung

Um für die vergangenen zehn Jahre eine aussagekräftige Bilanz der Mindestlohnentwicklung zu ziehen, eignet sich auch ein Vergleich mit drei weiteren Indikatoren, die in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie vorgegeben werden (Europäisches Parlament & Europäischer Rat, 2022, Art. 5 Abs. 2): die Entwicklung der Lebenshaltungskosten, die Wachstumsrate der Löhne und die langfristige Produktivitätsentwicklung. Diese Bezugsgrößen ermöglichen eine bessere Einschätzung der Mindestlohnentwicklung als eine rein nominale Sichtweise, die in der öffentlichen Wahrnehmung in einem klassischen Fall von Geldwertillusion (Shafir et al., 1997) häufig zu einer deutlichen Überschätzung des Mindestlohnwachstums führt.

In Abbildung 2 wird der nominale Mindestlohn zunächst mit der Entwicklung der Verbraucherpreise verglichen, die hier anhand des Harmonisierten Verbraucherpreisindexes (HVPI) dargestellt wird. Betrachtet man die erste Phase unter Verantwortung der Mindestlohnkommission, also den Zeitraum von Januar 2015 bis September 2022, so lässt sich feststellen, dass Preise und nominaler Mindestlohn etwa im gleichen Ausmaß gestiegen sind: Der Mindestlohn wurde von 8,50 Euro auf 10,45 Euro erhöht, oder um 22,9 %. Dem steht ein Anstieg des HVPIs um 24,5 % gegenüber. Der nationale Verbraucherpreisindex (VPI) stieg im selben Zeitraum um 21,1 % (nicht in Abbildung 2 ausgewiesen). Daraus ergibt sich abhängig vom verwendeten Preisindex ein minimaler realer Rückgang von -1,2 % (HVPI) bzw. ein kleiner realer Zuwachs von +1,6 % (VPI). Erst die Anhebung des Mindestlohns durch den Gesetzgeber auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022, oder um 14,8 %, hat für Mindestlohnbeschäftigte einen deutlichen Kaufkraftgewinn gebracht.

Abbildung 2
Nominaler Mindestlohn, Verbraucherpreise und allgemeines Lohnniveaus, 2015-2025
Nominaler Mindestlohn, Verbraucherpreise und allgemeines Lohnniveaus, 2015-2025

Die Entwicklung der durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmerstunde bezieht sich auf saisonbereinigte Vierteljahresergebnisse nach X13.

Quelle: Statistisches Bundesamt (2025b, 2025c); WSI-Mindestlohndatenbank (Mindestlohn); eigene Berechnungen.

Die nachfolgenden Mindestlohnanpassungen durch die Mindestlohnkommission haben im Wesentlichen erneut nur einen Inflationsausgleich bewirkt: Im Januar 2025 lag der Mindestlohn mit 12,82 Euro je nach verwendetem Preisindex preisbereinigt 13,9 % (HVPI) bzw. 16,7 % (VPI) oberhalb seines Einführungsniveaus vom Januar 2015 (siehe ähnlich auch Lesch & Schröder, 2025, S. 8). Dies entspricht von der Größenordnung her der außerordentlichen Anhebung durch den Deutschen Bundestag im Jahr 2022. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Anpassungsbeschlüsse der Mindestlohnkommission über die vergangenen zehn Jahre per Saldo zu keiner nennenswerten realen Erhöhung des Mindestlohns geführt haben.

Noch negativer fällt die Bilanz aus, wenn der Mindestlohn am Lohnwachstum gemessen wird. In Abbildung 2 wird dies mithilfe der durchschnittlichen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmerstunde aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) auf Quartalsbasis abgetragen. Im 3. Quartal 2022 lag der Mindestlohn mit der noch durch die Mindestlohnkommission beschlossenen Erhöhung auf 10,45 Euro um 22,9 % oberhalb seines Ausgangsniveaus, während die durchschnittlichen Bruttostundenlöhne und -gehälter im gleichen Zeitraum um 26,1 % gewachsen sind. Im Ergebnis hat der Mindestlohn also in dieser Phase den Anschluss an die allgemeine Lohnentwicklung verloren.3 Erst mit der Erhöhung auf 12 Euro durch den Gesetzgeber setzt sich dieser deutlich vom vorherigen Verlauf ab.

Mit den folgenden Erhöhungsschritten, die wieder von der Mindestlohnkommission verantwortet wurden, bleibt der Mindestlohn erneut hinter der allgemeinen Lohnentwicklung zurück: Im 1. Quartal 2024 lagen die durchschnittlichen Bruttostundenlöhne und -gehälter um 8,6 % oberhalb des Niveaus direkt nach der Einführung des Mindestlohns von 12 Euro. Der Mindestlohn wurde hingegen nur um 3,4 % angehoben. Am aktuellen Rand (4. Quartal 2024) beträgt das kumulative Wachstum bereits 10,4 %, während der Mindestlohn auch im zweiten Erhöhungsschritt zum 1. Januar 2025 nur um 6,8 % gegenüber dem Referenzzeitpunkt steigt. Im Jahresverlauf dürfte sich der Rückstand des Mindestlohns gegenüber dem allgemeinen Lohnwachstum entsprechend noch stärker ausweiten.

Im Vergleich mit der Produktivitätsentwicklung lässt sich abschätzen, inwiefern Mindestlohnbeschäftigte am gesamtgesellschaftlichen Wohlstandszuwachs teilhaben (Herzog-Stein et al., 2023, S. 20-21.). Auch im Sinne einer nachhaltigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wird das langfristige Produktivitätswachstum als Orientierungsgröße für die Reallohnentwicklung angeführt. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Marktmacht auf Seiten der Arbeitgeber in monopsonistischen Arbeitsmärkten zu ökonomischer Ausbeutung und zu ungerechtfertigt niedrigen Löhnen führen kann. Diese gehen oft auch mit niedriger Produktivität einher.

In einer solchen Situation kann eine Anhebung des Mindestlohns die Arbeitsproduktivität über zwei Wirkungskanäle erhöhen: Einerseits führen höhere Löhne zu einer effizienteren Arbeitsorganisation und zweitens wechseln Arbeitskräfte von weniger produktiven hin zu produktiveren Betrieben. Solche produktivitätssteigernden Reallokationseffekte lassen sich auch für Deutschland nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns nachweisen (Dustmann et al., 2022). Deshalb ist es aus makroökonomischer Sicht unproblematisch, wenn der reale Mindestlohn zeitweilig schneller steigt als die gesamtwirtschaftliche Produktivität.4

Da Produktivität stets auf preisbereinigter Basis gemessen wird, weist Abbildung 3 neben der Arbeitsproduktivität den realen Mindestlohn aus. Für die erste Phase unter Verantwortung der Mindestlohnkommission zeigt sich, dass Mindestlohnbeschäftigte nicht an den Produktivitätsfortschritten partizipiert haben: Vom 1. Quartal 2015 bis zum 3. Quartal 2022 stieg die Arbeitsproduktivität auf Stundenbasis um insgesamt 7,6 %, während die Kaufkraft des Mindestlohns weitgehend stagnierte. Erst mit der Anhebung auf 12 Euro zum 1. Oktober 2022 weicht der reale Mindestlohn nach oben von der Produktivitätsentwicklung ab.

Abbildung 3
Entwicklung des realen Mindestlohns und der Arbeitsproduktivität, 2015-2025
Entwicklung des realen Mindestlohns und der Arbeitsproduktivität, 2015-2025

Quelle: Statistisches Bundesamt (2025b, 2025c); WSI-Mindestlohndatenbank (Mindestlohn); eigene Berechnungen.

Seitdem haben sich die Arbeitsproduktivität und der reale Mindestlohn kaum verändert. Die schwache Produktivitätsentwicklung ist in erster Linie eine Folge der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnationsphase, in der sich die deutsche Volkswirtschaft nunmehr schon seit drei Jahren befindet (Dullien et al., 2024). Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität verhält sich im konjunkturellen Verlauf prozyklisch, weshalb eine Orientierung der gesamtwirtschaftlichen Lohnentwicklung an der kurzfristigen Produktivitätsentwicklung ebenfalls prozyklisch und tendenziell destabilisierend wirkt.

Der Mindestlohn im Verhältnis zum Medianlohn

Im internationalen Vergleich ist es üblich, den Mindestlohn als Prozentsatz des jeweiligen Durchschnitts- oder Medianlohns zu berechnen und dadurch ins Verhältnis zum Lohngefüge zu setzen (Lübker & Schulten, 2025). In Deutschland lag der gesetzliche Mindestlohn bei seiner Einführung im Jahr 2015 nach Berechnungen der OECD lediglich bei 48,2 % des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten; bis 2021 ist der sogenannte Kaitz-Index auf 44,8 % abgesackt. Erst die außerordentliche Erhöhung auf 12 Euro im Oktober 2025 hat dazu geführt, dass der Kaitz-Index im Jahr 2023 auf 51,7 % angestiegen ist. Seitdem ist die Entwicklung nach Daten des Statistischen Bundesamtes wieder rückläufig (Lübker et al., 2025, S. 14).

Das Mindestlohnniveau liegt damit deutlich unterhalb des Referenzwertes von 60 % des Medianlohns, der künftig auch in Deutschland als Orientierungsgröße dienen soll. Um den Referenzwert zu erreichen, hätte der Mindestlohn schon im Jahr 2015 bei 10,59 Euro liegen müssen und damit deutlich über dem Einführungsniveau von 8,50 Euro (Abbildung 4). Seither liegt der Unterschied zwischen tatsächlichem Mindestlohn und dem Niveau, das sich aus dem Referenzwert ableiten lässt, in der Regel bei mehr als 2 Euro pro Stunde. Bereits im Jahr 2023 wäre demnach ein Mindestlohn von knapp 14 Euro notwendig gewesen. Schreibt man diesen Wert mit der Wachstumsrate der Stundenlöhne für 2024 (5,5 %) sowie der Prognose der Bundesregierung für 2025 (2,9 %) fort, so hätte der Mindestlohn im Jahr 2024 bei 14,69 Euro und im Jahr 2025 bei 15,12 Euro liegen müssen.5

Abbildung 4
Tatsächlicher Mindestlohn und referenzwertkompatibler Mindestlohn, 2015-2025
Angaben in Euro pro Stunde, Jahresmittelwert
Tatsächlicher Mindestlohn und referenzwertkompatibler Mindestlohn, 2015-2025

Berechnung auf Basis der Daten der OECD zum Kaitz-Index von Vollzeitbeschäftigten. Fortschreibung für das Jahr 2024 mit der Erhöhung der Stundenlöhne um 5,5 % laut VGR des Statistischen Bundesamtes und für das Jahr 2025 auf Grundlage der Jahresprojektion der Bundesregierung von 2,9 % (Januar 2025).

Quelle: eigene Berechnungen, OECD (o. D.).

Gelingt der Mindestlohnkommission eine Neuorientierung?

Zehn Jahre nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns fällt dessen Entwicklungsbilanz eher ernüchternd aus: Die Anpassungsbeschlüsse der Mindestlohnkommission haben dazu geführt, dass die Mindestlohnentwicklung über lange Zeit nicht mit relevanten Indikatoren Schritt gehalten hat. Bis Mitte 2022 fiel der Mindestlohn hinter die Tariflohnentwicklung, das Lohnwachstum und den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt zurück. Auch vom Referenzwert von 60 % des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten hat sich der Mindestlohn unter Ägide der Mindestlohnkommission weiter entfernt. Anders als intendiert wurde das Zielniveau auch durch die außerordentliche Erhöhung auf 12 Euro nicht erreicht.

Vergleicht man den Mindestlohn mit der Entwicklung der Verbraucherpreise, beträgt das bisherige reale Wachstum je nach Preisindex 16,7 % (VPI) bzw. 13,9 % (HVPI). Dies entspricht von der Größenordnung in etwa der außerordentlichen Erhöhung des Mindestlohns um 14,8 % zum 1. Oktober 2022. Per Saldo hat die Mindestlohnkommission in den vergangenen zehn Jahren also nur einen Inflationsausgleich erreicht – ähnlich wie dies in Belgien und Frankreich durch eine Kopplung des Mindestlohns an einen Verbraucherpreisindex erreicht wird (Lübker & Schulten, 2023, S. 119.

Angesichts dieser Bilanz ist es verständlich, dass sich insbesondere in Gewerkschaftskreisen eine gewisse Ernüchterung breit gemacht hat. So gelangt z. B. Reuter (2025, S. 36) zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Kommissionsbeschlüsse „hinter den Ansprüchen der Gewerkschaften“ zurückgeblieben seien. Körzell (2025, S. 7), selbst seit Gründung Mitglied der Mindestlohnkommission, bedauert insbesondere, dass „das Ziel der Arbeitnehmerbank, den Mindestlohn in Richtung 12 Euro weiterzuentwickeln“ und damit eine strukturelle Erhöhung des Mindestlohns vorzunehmen, am Veto der Arbeitgeber gescheitert ist.

In der Praxis hat sich in Deutschland also ein hybrides System mit zwei Elementen herausgebildet: Die Mindestlohnkommission schreibt den Mindestlohn auf dem existierenden Niveau fort, reale Erhöhungen kommen nur durch die Intervention des Gesetzgebers zustande. Wie der aktuelle WSI-Mindestlohnbericht zeigt, ist solch eine dysfunktionale Arbeitsteilung nicht zwangsläufig: In Irland und Großbritannien hat die Politik lediglich ein Ziel für ein angemessenes Mindestlohnniveau festgelegt, die Umsetzung aber an die zuständige Kommission delegiert (Lübker & Schulten, 2025, S. 117-119). In Portugal wurde eine graduelle, strukturelle Erhöhung des Mindestlohns von einem Konsens der Tarifparteien getragen (Oliveira, 2023). Die in der Europäischen Mindestlohnrichtlinie verankerten Referenzwerte spielen diesbezüglich auch in anderen Ländern Europas eine wichtige Rolle, um den Mindestlohn strukturell anzuheben (Lübker & Schulten, 2025, S. 109-111).

Auch in Deutschland hat die Mindestlohnkommission in ihrer neuen Geschäftsordnung eine wichtige Richtungsentscheidung getroffen: Sie bekennt sich dort erstmals zu dem Referenzwert von 60 % des Bruttomedianlohns der Vollzeitbeschäftigten, der neben die bisher dominierende Orientierung an der Tarifentwicklung tritt (Mindestlohnkommission, 2025, § 2 Abs. 1). Dies ermöglicht es der Kommission, das Niveau des Mindestlohns zu überprüfen und so ihren gesetzlichen Auftrag auszufüllen, „zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen“ (Mindestlohngesetz § 9 Abs. 2). Der Koalitionsvertrag gibt der Mindestlohnkommission zusätzlich politische Rückendeckung für ihre Kurskorrektur (CDU, CSU & SPD, 2025, Rz. 548-552). Es wäre folgerichtig, den Zielwert von 60 % des Medianlohns der Vollzeitbeschäftigten auch in das Mindestlohngesetz aufzunehmen.

Da der deutsche Mindestlohn derzeit deutlich hinter den Referenzwert zurückfällt, dürfte die kommende Erhöhung deutlich stärker ausfallen, als dies nach dem alten Entscheidungsmodus der Fall gewesen wäre. Nach unseren Berechnungen ergibt sich bei einer Fortschreibung des Mindestlohns anhand der Tarifentwicklung ein Mindestlohn von rund 14 Euro. Um den Referenzwert von 60 % des Medians zu erreichen, ist hingegen ein Mindestlohn von rund 15 Euro notwendig. Auch Lesch und Schröder (2025, S. 7) vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommen in einer aktuellen Studie fast gleichlautend zu dem Ergebnis, dass sich anhand der beiden Kriterien ein Anpassungskorridor mit einer Untergrenze von etwa 14 Euro (Tarifentwicklung) und einer Obergrenze von knapp 15 Euro (60 % des Medians) ableiten lässt.

Um dem strukturellen Erhöhungsbedarf Rechnung zu tragen, bietet sich für die Kommission ein zweistufiges Verfahren an: Die Orientierung an der Tarifentwicklung der vergangenen zwei Jahre und an anderen Verlaufsindikatoren wie der allgemeinen Lohn- und Preisentwicklung könnte als Maßstab für die reguläre Anpassung des Mindestlohns dienen. Als zweites könnte bis zum Erreichen des Zielwertes von 60 % des Medianlohn eine weitere Komponente hinzukommen, mit der die bestehende Lücke geschlossen wird. Die Kommission könnte damit Transparenz über ihre eigene Entscheidungsfindung schaffen und Verlässlichkeit über die weitere Entwicklung des Mindestlohns herstellen.

Für die Zukunft der Kommission steht dabei einiges auf dem Spiel: Bei der letzten Beschlussfassung vor zwei Jahren hatten die Arbeitgebervertreter ihre Position mit Hilfe der Vorsitzenden durchgesetzt und gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter:innen eine auch im europäischen Vergleich sehr niedrige Erhöhung beschlossen (Lübker & Schulten, 2024, 2025). Das Abweichen vom bisherigen Konsensprinzip hat die Glaubwürdigkeit der Kommission beschädigt und sich zudem als „Pyrrhussieg der Arbeitgeber“ (Schulten, 2023) erwiesen, da es zu einer weiteren Politisierung des Mindestlohns beigetragen hat.

Die Kommission hat in dieser Situation ein gemeinsames Interesse, ihre eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen einen Beschluss zu fassen, der von der gesamten Kommission getragen wird. Die neue Geschäftsordnung vom Januar 2025 sieht entsprechend vor, im Regelfall Beschlüsse wieder einstimmig zu fällen. „Falls die Kommission auf keinen gemeinsamen Nenner kommt und sich nicht einvernehmlich einigen kann, dann steht die Legitimation der Kommission auf dem Prüfstand“, so das gewerkschaftliche Kommissionsmitglied Körzell.6

Noch deutlicher drücken dies Lesch und Schröder (2025, S. 7) vom IW aus: „Einen weiteren nicht einvernehmlichen Anpassungsbeschluss wie 2023 würde die Mindestlohnkommission politisch kaum überleben“ (Lesch & Schröder, 2025, S. 7). Die Autoren verweisen diesbezüglich auf das Ziel der Gewerkschaften, „den Mindestlohn möglichst rasch auf 15 Euro je Stunde anzupassen“ und sehen die eigene Seite in der Pflicht: „Nachdem sich zuletzt die Arbeitgeberseite durchgesetzt hat, wird eine Einigung nur durch eine ausreichende Konzessionsbereitschaft der Arbeitgeber möglich.“ (Lesch & Schröder, 2025, S. 7).

Gelingt der Kommission eine Neuorientierung entlang ihrer selbst gesetzten Ziele, könnte sie verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Misslingt sie, so rollt der Ball zurück ins Feld der Politik und der Gesetzgeber muss erneut eingreifen, um in Deutschland einen angemessenen Mindestlohn durchzusetzen.

  • 1 Wir folgen damit der Darstellungsweise in Lesch & Schröder (2025, S. 5).
  • 2 Wenn zudem die methodisch etwas anderen Berechnungen der Deutschen Bundesbank und des WSI-Tarifarchivs berücksichtigt werden, ergibt sich eine Erhöhung auf 14,15 bzw. 14,26 Euro (Lübker et al., 2025, S. 10).
  • 3 Wenn Veränderungen in der Beschäftigtenstruktur ausgeblendet werden, fällt der Vergleich etwas positiver aus: So ist der Index der durchschnittlichen Bruttostundenverdienste vom 1. Quartal 2015 bis zum 3. Quartal 2022 um 19,7 % gestiegen, der geglättete Nominallohnindex um 18,1 %. Für Einzelheiten siehe Lübker et al. (2025, S. 24-25).
  • 4 Zudem ist der von einer Mindestlohnerhöhung ausgehende Lohnimpuls begrenzt und hat damit nur geringe Auswirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme (Dullien et al., 2022).
  • 5 Gegenüber den hier verwendeten Daten der OECD weist das Statistische Bundesamt auf der Grundlage der Verdiensterhebung (VE) einen etwas niedrigeren Medianlohn aus (Lübker et al., 2025, S. 15). Danach lag der Mindestlohn im April 2024 bei 52,8 % des Medians der Vollzeitbeschäftigten. Um den Referenzwert von 60 % zu erreichen, hätte der Mindestlohn auf dieser Datenbasis im April 2024 bei 14,09 Euro liegen müssen. Schreibt man diesen Wert anhand der Prognosen für das Lohnwachstum fort, ergibt sich 2026 ein Wert von rund 15 Euro (Lübker et al., 2025, S. 15).
  • 6 Zit. nach Die Welt (Bundesausgabe) vom 14.03.2025, S. 9.

Literatur

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Dullien, S., Herzog-Stein, A., Hohlfeld, P., Rietzler, K., Stephan, S., Theobald, T., Tober, S. & Watzka, S. (2024). Stark belastete deutsche Wirtschaft verharrt in Stagnation. Die konjunkturelle Lage in Deutschland zur Jahreswende 2024/2025. IMK-Report, 193.

Dustmann, C., Lindner, A., Schönberg, U., Umkehrer, M. & vom Berge, P. (2022). Reallocation Effects of the Minimum Wage. Quarterly Journal of Economics, 137(1), 267–328.

Europäisches Parlament & Europäischer Rat. (2022). Richtlinie 2022 / 2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Oktober 2022 über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union. Amtsblatt der Europäischen Union, L275 vom 25.10.2022, 33–47.

Herzog-Stein, A., Lübker, M., Pusch, T., Schulten, T. & Watt, A. (2023). Europäische Mindestlohnrichtlinie schafft neue Spielräume für eine Weiterentwicklung des deutschen Mindestlohngesetzes. Gemeinsame Stellungnahme von IMK und WSI anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission 2023. WSI Policy Brief, 75.

Körzell, S. (2025). Der Mindestlohn – ein wichtiger Erfolg der Gewerkschaften. In DGB (Hrsg.), 10 Jahre gesetzlicher Mindestlohn. Rückblick – Ausblick – Wirkungen (S. 6–7).

Lesch, H. (2023, 12. April). Mindestlohnanpassung: verlorenes Vertrauen wiederherstellen, Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Lesch, H. & Schröder, C. (2025). Regelbasierte statt politische Mindestlohnanpassung: Schriftliche Stellungnahme zur fünften Anhörung zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns. IW-Report, 11/2025.

Lübker, M. & Schulten, T. (2023). WSI-Mindestlohnbericht 2023: Kaufkraftsicherung als zentrale Aufgabe in Zeiten hoher Inflation. WSI-Mitteilungen, 76(2), 112–122.

Lübker, M. & Schulten, T. (2024). WSI -Mindestlohnbericht 2024: Reale Zugewinne durch die Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie. WSI-Mitteilungen, 77(2), 107–119.

Lübker, M. & Schulten, T. (2025). WSI-Mindestlohnbericht 2025: Neuorientierung der Mindestlohnpolitik führt zu realer Aufwertung. WSI-Mitteilungen, 78(2), 108–121.

Lübker, M., Schulten, T. & Herzog-Stein, A. (2025). 10 Jahre Mindestlohn: Bilanz und Ausblick. Gemeinsame Stellungnahme von WSI und IMK anlässlich der schriftlichen Anhörung der Mindestlohnkommission 2025. WSI Policy Brief, 88.

Mindestlohnkommission. (2025). Geschäftsordnung (GO) der Mindestlohnkommission vom 22.01.2025.

Müller, T. & Schulten, T. (2022). Die Europäische Mindestlohnrichtlinie – Paradigmenwechsel hin zu einem Sozialen Europa. Wirtschaft und Gesellschaft, 48(3), 335–364.

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Oliveira, C. (2023). The minimum wage and the wage distribution in Portugal. Labour Economics, 85(1), 102459.

Reuter, N. (2025). Eine Erfolgsgeschichte mit Schattenseiten. Zehn Jahre gesetzlicher Mindestlohn. Sozialismus, 52(1), 25–37.

Schulten, T. (2023). Pyrrhussieg der Arbeitgeber. Wirtschaftsdienst, 103(7), 432.

Schulten, T. (2024). Die (fehlende) Umsetzung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie in Deutschland. WSI-Kommentar, 4.

Schulten, T. & WSI-Tarifarchiv. (2025). Tarifpolitischer Jahresbericht 2024: Anhaltend hohe Tarifabschlüsse trotz rückläufiger Inflationsraten. Berichte des WSI-Tarifarchives.

Shafir, E., Diamond, P. & Tversky, A. (1997). Money illusion. Quarterly Journal of Economics, 112(2), 341–374.

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Statistisches Bundesamt. (2025b). Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Saisonbereinigte Vierteljahresergebnisse nach X13, Fachserie 18, Reihe 1.3. Bruttolöhne und -gehälter.

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WSI-Mindestlohndatenbank. (2025). WSI-Mindestlohndatenbank, Version Januar 2025.

Title:A Reorientation for the Minimum Wage

Abstract:By 30 June 2025 at the latest, the Minimum Wage Commission must reach a decision on how high the statutory minimum wage should be in Germany over the next two years. The agreement of the new federal government coalition stipulates the expectation that the commission will, for the first time, base its decision on the reference value of 60% of the median wage for full-time employees in addition to changes in collectively agreed wages. The coalition parties are thus following a recommendation for an adequate minimum wage level from the European Minimum Wage Directive. The Minimum Wage Commission itself had already agreed on this reference value as an additional benchmark in its new rules of procedure at the beginning of 2025. German minimum wage policy is therefore likely to face a fundamental reorientation.

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© Der/die Autor:in 2025

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DOI: 10.2478/wd-2025-0091

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