Die neue Regierungskoalition verspricht in ihrem Koalitionsvertrag: „Wir werden die Alterssicherung für alle Generationen auf verlässliche Füße stellen“ (CDU/CSU & SPD, 2025, S. 19). Dazu werden eine Reihe von Vorhaben genannt und Versprechen gemacht, denen vor allem eins gemeinsam ist: Sie bewegen sich im Rahmen des gegenwärtigen Systems der Alterssicherung. Sie bestätigen für die Dauer der Legislaturperiode die bisherige Politik (Stabilisierung des Rentenniveaus und keine Verschärfung der Anhebung des Rentenalters), versuchen an anderen Stellen Probleme im gegenwärtigen System zu beheben (Versicherungspflicht für Selbstständige, die als „Frühstartrente“ bezeichnete private Vorsorge für Schüler:innen sowie weitere Reformen der privaten Vorsorge) und sollen Anreize für Mehrarbeit setzen (Steuererleichterung für arbeitende Rentner:innen).
An einer Stelle schafft die Koalition aber Raum für grundsätzliche Fragen und weitreichende Diskussionen und Entscheidungen – wenn sie denn den eigenen Koalitionsvertrag ernst nimmt. Sie schreibt: „In einer Rentenkommission werden wir bis zur Mitte der Legislatur eine neue Kenngröße für ein Gesamtversorgungsniveau über alle drei Rentensäulen prüfen“ (CDU/CSU & SPD, 2025, S. 19). Wird dieser Auftrag sorgfältig umgesetzt, bieten sich zwei große Chancen: Erstens in Bezug darauf, wie über Rentenpolitik diskutiert wird und zweitens in Hinblick auf Strukturfragen des Alterssicherungssystems. Denn gesucht wird die Antwort auf die Frage, was eine angemessene Altersversorgung in Deutschland ausmacht.
In der aktuellen Debatte über Rentenpolitik – und über Sozialpolitik insgesamt – kreisen die Argumente vieler lautstarker Akteure um Fragen der Finanzierbarkeit. Vorschläge etwa zum Renteneintrittsalter oder zum Leistungsniveau folgen aus dem als vorrangig gewerteten Ziel der Beitragssatzstabilität. Der angesichts des demografischen Wandels erwartete Beitragsanstieg wird als „nicht nachhaltig“, „nicht tragfähig“ oder „nicht generationengerecht“ bewertet und müsse durch Ausgabenkürzungen begrenzt werden. Damit wird aber das Pferd von hinten aufgezäumt. Der Fokus der Kommission „Gesamtversorgungsniveau“ bietet die Möglichkeit, Rentenpolitik wieder als eine soziale Frage zu betrachten. Das heißt: Rentenpolitik wird nicht mehr mit dem starren Blick auf den Beitragssatz gemacht. Vielmehr greift die Politik in die Einkommensverteilung ein, um soziale Ziele zu erreichen. Konkret bedeutet dies, Menschen nach ihrem Erwerbsleben einen Ruhestand ohne materielle Sorgen zu ermöglichen. In Deutschland wird dies mit dem Begriff Lebensstandardsicherung umschrieben (allerdings ist dies kein eindeutiger oder sozialrechtlicher Begriff). Wie hoch nun Renten ausfallen sollen, welche Risiken abgesichert sein sollen, was eine faire Rente nach langer Erwerbstätigkeit und Familienarbeit ist, auch welche Rolle Armutsvermeidung spielen soll – darüber lässt sich lange streiten. Aber es ist wichtig, diesen Streit an den Anfang der rentenpolitischen Diskussion zu stellen. Das heißt nicht, die Frage der Finanzierung zu ignorieren oder kein effektives und effizientes System anzustreben. Aber wenn Rentenpolitik kein zu erreichendes Ziel festgelegt hat, verkommt sie zu einem reinen „was können wir uns leisten?“ und wird blind für soziale Folgen. Ohne ein solches Ziel können die Sozialpolitik und die Leistungsfähigkeit des aktuellen Systems nicht überprüft werden. Ohne ein klar definiertes Ziel, das es zu erreichen gilt, wird eine unzureichende Versorgung schlussendlich als Folge des eigenen Fehlverhaltens und unzureichender Eigenverantwortung dargestellt.
Der Hinweis auf eine „neue Kenngröße für ein Gesamtversorgungsniveau über alle drei Rentensäulen“ birgt erhebliche Sprengkraft. Er zielt auf das Zusammenspiel von gesetzlicher Rentenversicherung, privater und betrieblicher Vorsorge zur Erreichung des sozialpolitischen Zwecks ab. Bereits heute wird im Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung ein Gesamtversorgungsniveau ausgewiesen (Bundesregierung, 2024a, S. 40) – in den Alterssicherungsberichten berechnet die Bundesregierung ein Gesamtversorgungsniveau wieder anders (Bundesregierung, 2024b, S. 179). Diese Kenngröße, die sich aus Vorausberechnungen zum Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung (Sicherungsniveau vor Steuern) und einer auf Annahmen basierten Kalkulation der privaten Vorsorge ergibt, hat gleich mehrere Probleme.
Erstens wird das Gesamtversorgungsniveau nur für den Augenblick des Renteneintritts berechnet. Das ist aber wenig aussagekräftig. So müsste beispielsweise bei einem in Zukunft möglicherweise wieder sinkenden Niveau die private Vorsorge einen im Rentenbezug steigenden Anteil zum Gesamtversorgungsniveau liefern – um die Niveausenkung tatsächlich auszugleichen, müsste die Rente aus der privaten Vorsorge jährlich stärker steigen als die Löhne (vgl. hierzu bereits Schäfer, 2015).
Zweitens stützt sich die Vorausberechnung der Leistungen der Rentenversicherung auf Annahmen, die im Rentenversicherungsbericht offengelegt werden und an den empirischen Werten sowie dem geltenden Recht am aktuellen Rand ansetzen. Nicht so die Berechnungen zur privaten Vorsorge: Hier wurden seit dem Anfang der Berechnungen stets lediglich Annahmen zu Sparbeitrag, Verzinsung, Kosten, Lebenserwartung und Rentendynamik getroffen, ohne diese mit der empirischen Evidenz abzugleichen (selbst die zeitweilige Absenkung der 4 %-Zinsannahme ist nicht empirisch begründet).
Drittens werden Berechnungen sowohl für die Rentenversicherung als auch für die private Vorsorge für eine Standardrentnerin bzw. einen Standardrentner durchgeführt: eine Person, die 45 Jahre lang zum Durchschnittsverdienst gearbeitet und Beiträge gezahlt hat. Während der Bezug in der Rentenversicherung aber eine Pflichtbeitragszahlung ist, ist die private Vorsorge freiwillig – und die Daten zeigen, dass längst nicht alle Personen vorsorgen (Bundesregierung, 2024a). Während also im Falle der gesetzlichen Rente die Frage im Raum steht, wie sehr empirische Lebensläufe der Maßzahl nahekommen, stellt sich bei der privaten Vorsorge eher die Frage, ob die Maßzahl generell anwendbar ist.
Viertens fließt in die Berechnungen zur privaten Vorsorge der gesamte Beitrag in Leistungen zur Absicherung des Risikos „Langlebigkeit“ (Altersrente) und nicht in zusätzliche Vorsorge für den Fall der Erwerbsminderung oder des Todes. Diese Leistungen sind ebenso von der Niveausenkung der gesetzlichen Rente betroffen. Das ausgewiesene Gesamtversorgungsniveau im Alter ist damit überhöht, da die zusätzlichen Beiträge annahmegemäß allein für das Gesamtversorgungsniveau im Alter verwendet werden.
Fünftens sind die ausgewiesenen Messgrößen auf dieser Grundlage kein Leistungsziel, sondern das Ergebnis zweier kumulierter Größen: einerseits des Rentenniveaus der Rentenversicherung gemäß der Gesetzeslage (das auf ein Leistungsziel geeicht sein kann, aber nicht ist); andererseits der privaten Vorsorge, die in den Annahmen so geeicht ist, dass ein spezifisches Gesamtversorgungsniveau erreicht werden kann und soll.
Für die kommende Diskussion einer „Kenngröße für ein Gesamtversorgungsniveau über alle drei Rentensäulen“ ist damit mehrerlei wünschenswert: Es muss ein echtes Sicherungsziel sozialpolitisch definiert werden. Anderenfalls bleibt die Debatte auf der Ebene der reinen Berichterstattung stehen. Wenn weiter die Alterssicherung im Mehr-Säulen-Modell verfolgt wird, müssen die Beiträge der einzelnen Säulen zum Sicherungsziel definiert und fixiert werden – und zwar gestützt auf bisherige Erfahrungen. Wenn die Zusage dieses Beitrags von kapitalgedeckter, privatwirtschaftlich umgesetzter Vorsorge nicht geleistet werden kann, d. h., wenn sie nicht auf einen konkreten, prüfbaren Beitrag zur Gesamtversorgung festzulegen ist –, dann sollte die Rolle von Vorsorge neben der gesetzlichen Rentenversicherung grundsätzlich geprüft werden. Für ein Berichtswesen, mit dem das Erreichen eines Sicherungsziels geprüft werden kann, müssen die entsprechenden Daten gesammelt und veröffentlicht werden. Und das bedeutet in einem Mehr-Säulen-System, dass auch die zugesagten Leistungen, ihre Dynamisierung und die tatsächlichen Kosten der zusätzlichen Vorsorge in die Darstellungen einfließen müssen.
Wünschenswert wäre zudem, dass wie bisher im Alterssicherungsbericht neben dem bzw. der Standardrentner:in weitere Biografien sowie noch darüber hinaus auch Leistungen bei Erwerbsminderung und an Hinterbliebene ausgewiesen werden. Das ist mit Blick auf das Gesamtversorgungsniveau deshalb so wichtig, weil im Mehr-Säulen-Modell eine implizite, nie politisch wirklich thematisierte Aufgabenteilung zwischen den Säulen angelegt ist: Die gesetzliche Rentenversicherung reagiert flexibel auf unterschiedliche Lebensläufe und berücksichtigt auch Phasen ohne Erwerbsarbeit bzw. honoriert diese explizit („Mütterrente“). In der privaten und betrieblichen Vorsorge sind solche Elemente zwar rudimentär vorhanden (Kinderzulage), sie basieren aber darauf, dass Eigenbeiträge geleistet werden, selbst wenn das Erwerbseinkommen wegbricht.
Es gilt nun die bestehenden Herausforderungen in der Rentenpolitik sozialpolitisch und zielorientiert zu lösen. Während einige Vorhaben der Koalition in die richtige Richtung gehen (Stabilisierung des Rentenniveaus), sind andere eher unnütz („Frühstartrente“, Anreize zur Weiterarbeit). Gleichwohl bietet der Koalitionsvertrag eine Chance – die Chance, das Alterssicherungssystem in einer Kommission systematisch zu durchdenken und Vorschläge zu machen, die dem eigentlichen Ziel der Rentenpolitik gerecht werden, nämlich eine angemessene Absicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu ermöglichen!
Literatur
Bundesregierung. (2024a). Rentenversicherungsbericht 2024. Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 Abs. 1 und 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI).
Bundesregierung. (2024b). Alterssicherungsbericht: Ergänzender Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungsbericht 2024 gemäß § 154 Abs. 2 SGB VI.
CDU/CSU & SPD. (2025). Verantwortung für Deutschland: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode.
Schäfer, I. (2015). Die Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit des „Drei-Säulen-Modells“. Studie 1/2015, Schriftenreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen.