In den nächsten Wochen wird die Sowjetregierung das fünfjährige Jubiläum ihrer Herrschaft feiern können. Man rüstet sich dazu, indem man durch Radek das Gerede von der Weltrevolution wieder aufleben läßt. Dem stets zuverlässig informierten Ost-Expreß wird gemeldet, Radek hätte auf dem Moskauer Transportarbeiterkongreß erklärt, Sowjetrußland erwarte baldige revolutionäre Ausbrüche und Barrikadenkämpfe in Berlin, London und Paris. Schon in diesem Frühjahr hätten die deutschen Arbeiter gehungert und die Lage habe sich seither sehr verschärft; dieser Winter in Deutschland werde schlimmer sein als selbst die Kriegswinter. Dementsprechend habe die Stärke der Revolutionsbewegung in Deutschland im letzten Jahre außerordentlich zugenommen. Was jetzt in Deutschland vorgehe, bilde die Vorbereitung neuer Revolutionsschlachten des deutschen Proletariats. Die Ereignisse im Orient seien für die Revolution ebenfalls von nicht geringer Bedeutung. Der Sieg der Türkei sei nicht nur durch die russische Hilfe gewährleistet gewesen, sondern auch durch den Kampf im Lager der Alliierten selbst. Diese inneren Zwiste unter den kapitalistischen Ländern stellen eine der Bürgschaften des sowjetrussischen Sieges dar. Da gleichzeitig in der russischen Sowjetpresse spaltenlange Berichte über die Not, der deutschen Arbeiter erschienen sind, so hat man es hier wohl mit einer planmäßigen Wiederbelebung jener Agitation zu tun, die Rußland bisher noch stets unermeßlichen Schaden zugefügt hatte. Denn durch die Hoffnung auf die Weltrevolution wurden die russischen Arbeiter und Kommunisten immer wieder zu neuen kommunistischen Ausbrüchen und Experimenten hingerissen, die in darauf folgenden Zeiten der Ernüchterung dann rückgängig gemacht werden mußten. Auch jetzt scheint die Absicht vorzuliegen, von den bisher befolgten Richtlinien der neuen Wirtschaftspolitik abzuweichen. Der Vertrag Krassins mit Leslie Urquhart hat in Moskau keine Zustimmung gefunden. Nachdem man Anfangs erklärt hatte, wie hochbedeutsam es sei, ein so gewichtiges Unternehmen, wie dieses große englische Konsortium der Anglo-Asiatic Consolidated Ltd. zum Verzichte auf Entschädigungen und zur Pachtung von Konzessionen veranlaßt zu haben, — findet man jetzt, daß die Bedingungen zu weitgehend seien. Man wolle die neue Wirtschaftspolitik nicht so weitgehend ausbauen, die vereinbarte Pachtfrist sei zu lang bemessen usw. Krassin ist desavouiert. Lenin, der an den Besprechungen über diese Frage im Arbeits- und Verteidigungsrat teilgenommen hat, ist mit seiner Auffassung, die sich derjenigen Krassins über die Notwendigkeit der Ratifizierung anschließt, nicht durchgedrungen. Politisch-taktische Erwägungen haben die Oberhand erhalten; im Augenblick der Orientkrise will man mit einer englischen Firma keine Verträge schließen. An sich wäre dies begreiflich, wenn man auch dadurch vom Grundsatz abweicht, daß man nur als Geschäftsmann, nicht mehr als Politiker zu handeln habe. Im Auslande wird man in Zukunft wohl wenig Lust haben auf dieses Manöver des Ausspielens der Politik in Dingen der Wirtschaft einzugehen. Denn wenn in diesem einen Fall die außenpolitischen Gründe auch gewichtig und bedeutsam erscheinen, so handelt es sich dennoch um keine Ausnahme, sondern um die Regel: reine Wirtschaftsfragen, Verträge und Geschäfte werden bald als politische Druck-, bald als Lockmittel behandelt. Die Sowjetregierung wird damit nicht weiter kommen, sondern wird sich zu entscheiden haben, ob sie den Wiederaufbau Rußlands oder die Weltrevolution einleiten wolle. Beides zugleich ist unmöglich. Insbesondere sollte die Sowjetregierung sich sagen, daß man in Deutschland wohl nicht so blind sein dürfte, weiteres Entgegenkommen in Wirtschaftsfragen zu erweisen, wenn die Sowjetregierung gleichzeitig eine neue Revolution in den deutschen Städten vorzubereiten als ihre Aufgabe betrachtet. Die Vorbereitungen zum 3. Kongreß der kommunistischen Internationale weisen darauf hin, daß man den halberstorbenen Kommunismus sowohl im Auslande wie in Rußland erneut galvanisieren will. Der O.-E. meldet, daß die amtlichen Iswestija aus Anlaß der auf dem Gesamtgebiete der Sowjetföderation sich vollziehenden Sowjetneuwahlen erklärten, es sei notwendig, in Versammlungen und in der Presse die Bevölkerung darauf hinzuweisen, daß die unter dem Einfluß allgemeiner Bedingungen gemachten wirtschaftspolitischen Zugeständnisse keineswegs Zugeständnisse auf politischem Gebiete darstellen. Im Gegenteil müsse jetzt mehr denn je die ganze Macht in den festen Händen der ärmsten Bauernschaft und des Proletariats liegen, damit es möglich sei, den Ansturm der Bourgeoisie unschädlich zu machen und das Zwittergebilde der neuen Wirtschaftspolitik zu korrigieren. Die ärmste Bauernschaft und das Proletariat müßten über die ihnen von der Sowjetverfassung gewährten politischen Privilegien auch ferner aufgeklärt werden. Den Feinden der proletarischen Diktatur, den neuen Handelsleuten, Geistlichen und gegenrevolutionären Elementen, müsse jede Möglichkeit genommen werden, in die Sowjets einzudringen. Die Kommunisten vor! und fort mit den blinden Anhängern der neuen Wirtschaftspolitik! — müsse die Losung sein. Das Proletariat müsse, angesichts der Rückständigkeit der überwiegenden Schicht der Bauernbevölkerung, an der Spitze marschieren, und zwar gerade jetzt, wo die Bourgeoisie sich anschicke, an der „legalen“ Wahlfront zu erscheinen. Auch die geistigen Repräsentanten und Mitläufer dieser Kreise, die Menschewisten und Sozialrevolutionäre, müßten von den Sowjets ferngehalten werden, desgleichen die Parteilosen.
Wenn es sich auch nur um Wahlmanöver handeln dürfte, so ist doch anzunehmen, daß gleichzeitig eine neue Welle kommunistischer Agitation, von Moskau aus befohlen, auch in Westeuropa einsetzen dürfte, um den russischen Massen ein Trugbild vorzutäuschen und sie erneut auf den Kommunismus festzulegen. Diesen sich auch in Deutschland auswirkenden Bestrebungen und Absichten ist immer wieder entgegenzuhalten, daß die innere Politik der Sowjetregierung so ausgesprochen unkommunistisch ist, daß es genügt, hierauf zu verweisen, um die doppelte Logik und Beweisführung der Kommunisten zu entlarven. Ein Beispiel für viele: In seiner großen, nunmehr im Wortlaut vorliegenden Rede auf dem soeben abgeschlossenen Allrussischen Gewerkschaftskongreß erklärte Sinowjew bekanntlich der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Komm. Internationale — u. a., die im Laufe dieses Jahres eingetretene Steigerung der Arbeitslöhne in Sowjetrußland sei bei weitem nicht ausreichend und besonders bei den Transport-, Berg- und Metallarbeitern völlig ungenügend. Die Arbeiter verlangen infolgedessen eine rasche Steigerung der Löhne. Den Wünschen der Arbeiter könne indessen mit Rücksicht auf die Interessen der gesamten Arbeiterklasse nicht stattgegeben werden, da dadurch in kurzer Zeit der völlige Ruin der Industrie hervorgerufen werden würde. Eine langsame, aber dauerhafte, eine vorsichtige und systematische Hebung der Lebenslage der Arbeiterklasse in gleichem Schritt mit der Hebung der Staatswirtschaft und der Produktion er-klärte Sinowjew für die wenig verlockende und wenig blendende, aber einzig ehrliche, wirklich realistische, wirklich revolutionäre, wirklich kommunistische Formel. Sinowjew wandte sich ferner mit Nachdruck gegen wirtschaftliche Konflikte und Streiks als Mittel zur Hebung der Lebenslage der Arbeiter. Eine Lehre der letzten zwei Jahre müsse es sein, daß in Sowjetrußland im Gegensatz zu den kapitalistischen Ländern Lohnkonflikte keine Hebung der Lebenslage der Arbeiter zur Folge haben könnten. Soweit eine solche erfolgt sei, sei sie die Folge nicht von Streiks, sondern der Abnahme derselben im Vergleich zum Jahre 1921. Doch müsse man ins Auge fassen, daß die Hebung der Wirtschaft Jahre erfordere. Über den Verlauf der sich an diese Rede anschließenden Debatte schweigt sich die Sowjetpresse aus. Jedenfalls hat Sinowjew Widerspruch gefunden, wie aus der Iswestija hervorgeht, die nur eine Bemerkung des Sekretärs des Allrussischen Gewerkschaftsrates Rudsutak erwähnt. — Streiks wären in manchen Fällen unvermeidlich und seien daher auch in Ausnahmefällen in Staatsbetrieben zuzulassen.
Was Sinowjew ausführte, trifft zweifellos auch auf die Lage der deutschen Industrie zu; auch bei uns würde die gesamte Arbeiterschaft darunter leiden, wenn man durch Streiks und unmäßige Lohnforderungen die Industrie ruinieren wollte. Zumal die russischen Arbeiter nur ein Drittel des Friedenslohnes erhalten und die Hälfte desselben fordern, während bei uns die Arbeiter, bekanntlich weit besser gestellt sind wie im Sowjetstaat.
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Der Sowjet der Volkskommissare hat am 8. September (Iswestija Nr. 206 vom 14. September) nachstehende Verordnung erlassen, die die Einheitlichkeit des Geldumsatzes regelt:
Zwecks endgültiger Festsetzung der Einheitlichkeit des Geldumsatzes und in Ergänzung und Entwicklung der Verordnungen des Sowjets der Volkskommissare vom 28. Juli und 19. Juli 1922, laut denen die Sowjetgeldzeichen, die vor dem Jahre 1922 emittiert worden sind (1 Rbl der Emission 1922 gleich 10 000 Rbl der älteren Emissionen) — sowie die Schuldscheine des Musters des Jahres 1922 zu 5000 Rbl aus dem Verkehr zu ziehen sind, hat der Sowjet der Volkskommissare angeordnet:
1. Allen Kassen des Volkskommissariats der Finanzen und der Staatsbank wird untersagt, jegliche Geldzeichen der Emissionen vor 1922 in Umlauf zu setzen und zwar: die Kreditbillets der zeitweiligen Regierung, sowie auch folgende Surrogate von Geldzeichen: a) Serien (Billets) des Staatlichen Schatzamts, b) Schuldscheine des Staatlichen Schatzamts, c) Kupons der staatlichen Wertpapiere, Termin 1. Dezember 1917, d) Anleihescheine der Freiheitsanleihe bis 100 Rbl einschließlich (kleine Coupuren).
2. Die Kassen des Volkskommissariats der Finanzen und der Staatsbank haben die unter Punkt 1 genannten Kreditbillets, Schatzscheine und Surrogate in Zahlung zu nehmen und in Geldwertzeichen des Musters vom Jahre 1922 umzutauschen nach der festgesetzten Weise bis zum 1. Oktober 1922.
3. Nach der in Punkt 2 genannten Frist verlieren die Kreditbillets, Schatzscheine und Surrogate, die in Punkt 1 aufgezählt worden sind, ihre Zahlkraft und werden weder in Zahlung genommen, noch umgetauscht.
Die vorstehende Verordnung ist vom stellvertretenden Vorsitzenden des Sowjets der Volkskommissare A. Rykow gezeichnet.