Frankreich behauptet, Ruhrkohlen beziehen zu müssen – 1,8 Mill. t im Monat, reichlich 20 % der Förderung des Ruhrbeckens. Die Mitteilungen über die Verhandlungen zur Durchführung der Lieferungen seitens der Vertreter des Bergbaus und der Ingenieurkommission der Besatzungsmächte schwanken von Tag zu Tag. Immerhin scheint Aussicht vorhanden zu sein, dass die völlige Stilllegung der Betriebe vermieden wird, obwohl die Reichsregierung mit gutem Grunde daran festhält, dass eine Finanzierung der Reparationskohlenlieferungen aus öffentlichen Mitteln unter den gegebenen Verhältnissen unmöglich sei.
Die Bergherren haben infolge dieses beharrlichen non possumus der Regierung den Vorschlag unterbreitet, dass sie zunächst die Lieferungen an Frankreich aus eigenen Mitteln übernehmen wollen, wenn der Wert dieser Lieferungen auf ihre Steuern in Anrechnung kommt. Man darf sich freilich nicht der Täuschung hingeben, dass das Reich in der nächsten Zukunft in die Lage kommen wird, Reparationslieferungen aus Steuereinnahmen zu bezahlen. Die Deckung muss zunächst aus Anleihen, möglichst aus dem Erlös von Auslandsanleihen erfolgen, wenn die Anstrengungen zur Balancierung des Budgets in absehbarer Zeit Erfolg versprechen sollen.
Wir leben immer noch in einer Zeit der Zwischenlösungen und die hier in Frage stehende hat den Vorteil, dass sie das Gespenst der allgemeinen Arbeitslosigkeit aus dem Ruhrgebiet verscheucht und den Weg zu Verhandlungen über eine definitive Regelung ebnet. Die Voraussetzung solcher Verhandlungen bildet ja, nach den letzten Erklärungen der Machthaber im besetzten Gebiet, die Aufnahme der Kohlenlieferungen.
Die Reichsregierung hat ihrerseits mit der Aufhebung der Kohlensteuer einen entscheidenden Schritt getan, um den Bergbau überhaupt arbeitsfähig zu machen. Die Kohlensteuer hat bekanntlich ihre Daseinsberechtigung aus der enormen Differenz hergeleitet, die sich zwischen den Kohlenpreisen im Auslande und in Deutschland herausgebildet hat. Die Steuer wurde Anfang 1922 – in Höhe von zunächst 20, dann 40 % – nicht zuletzt auf Betreiben Englands eingeführt, das ein Dumping sowohl aus Deutschland wie aus Frankreich mit Hilfe der billigen deutschen Kohle befürchtete. Der Reichsregierung war die Erschließung einer ergiebigen Einnahmequelle auch willkommen, und außerdem erreichte man auf Grund des Preisauftriebes höhere Gutschriften auf Reparationen, da die zur Verfügung der Wiedergutmachungskommission gelieferten Kohlen nach den Anlagen zum Friedensvertrag zum deutschen Inlandspreise verrechnet wurden.
Die Kohlensteuer hatte übrigens für die Reichsfinanzen niemals die Bedeutung erlangt, die man von ihr bei der Einführung erhofft hatte. Infolge laxer Handhabung, Stundungen und dergleichen teilte sie das Schicksal der übrigen Steuern, und die realen Ergebnisse blieben weit hinter dem Voranschlag zurück.
Von dem Augenblicke an, wo der deutsche Kohlenpreis die Weltmarktparität überschritt, wurde die Kohlensteuer eine unerträgliche, die Wirtschaft drosselnde fiskalische Maßnahme, die beseitigt werden musste. Ein Vergleich der deutschen Preise mit den englischen zeigt, dass die Notwendigkeit der Beseitigung bereits seit August gegeben war. Der Zechenpreis für westfälische Nusskohle I und der annähernd gleichwertigen besten Newcastle-Dampfkohle bewegte sich wie folgt:
Datum | Deutscher Preis (in Mill. Papiermark) |
Engl. Preis (umgerechnet n. d. £-Kurs) (in Mill. Papiermark) |
---|---|---|
2. August | 6,817 | 6,0 |
9. August | 31,496 | 21,6 |
20. August | 51,418 | 31,0 |
27. August | 96,713 | 35,0 |
3. September | 124,410 | 70,0 |
10. September | 228,300 | 360,0 |
Nachdem mit diesen Preisbemessungen die Segnungen der zunächst in Papiermark gehüllten Goldrechnung erprobt wurden, die Preise jedoch kurz nach der Festsetzung trotz reichlicher Entwertungszuschläge durch die weitere Devisenhausse überholt wurden, ist Mitte September die Festsetzung von Goldpreisen beschlossen worden. Ab 17. September galt ein Preis von 38,06, ab 24. September von 52,13 Goldmark bei gleichzeitigen englischen Notierungen von 22,5 bis 25,5 Goldmark! Die Aufhebung der Kohlensteuer brachte dann eine Preisermäßigung auf 35,78.
Vor dem Kriege stellten sich die Zechenpreise im Ruhrbecken und Tynegebiet ungefähr gleich. Für Kohlen gleicher Qualität wurden Ende 1913 in Gelsenkirchen 14,25 s, in Newcastle etwa 14½ s bezahlt. Die günstigere frachtliche Lage gab dabei den Gruben in Northumberland wie am Bristolkanal einen Vorsprung. In den deutschen Seehäfen und deren unmittelbarem Hinterlande konnten so die englischen Gruben mit den Ruhrzechen erfolgreich in Wettbewerb treten. Entscheidend war es aber, dass die annähernde Gleichheit der Brennstoffkosten die deutsche Großindustrie befähigt hatte, mit der Industrie Englands und anderer Länder die Konkurrenz am Weltmarkte aufzunehmen.
Es unterliegt nun keinem Zweifel, dass der deutsche Kohlenpreis wieder auf das Niveau des englischen herabgedrückt werden muss. Dies ist eine Lebensfrage der deutschen Wirtschaft, die ungeachtet aller politischen Wirrnisse der Lösung entgegengebracht werden muss. Ja, ohne deren Lösung ist die Behebung der sich anbahnenden politischen Schwierigkeiten kaum denkbar. Hier liegt übrigens ein Punkt, wo die deutschen und französischen Allgemeininteressen parallel laufen. Die französische Roheisenindustrie kann naturgemäß den Kampf um den Weltmarkt, der voraussichtlich nach der Wiederaufnahme der Arbeit im Ruhrgebiet entbrennen wird, genau so wenig mit überparitätischen Brennstoffpreisen bestehen wie die deutsche.
Geht man den Gründen der Kostensteigerung im deutschen Bergbau nach, so stößt man in erster Linie auf den Leistungsrückgang der Arbeiter. Er ist eine Folge der Arbeitszeitverkürzung und der geringeren Arbeitsintensität. Durch die 7-Stundenschicht ist die produktive Arbeitszeit in der Grube auf 6¾ Stunden reduziert gegen 7¼ vor dem Kriege. Das Resultat ist ein Rückgang der Schichtleistung auf 630 kg in der Zeit vor der Ruhrbesetzung gegen 820 kg (nach Abzug von Grubenselbstverbrauch und Deputatkohle) im Jahre 1913. Da die Arbeitskosten im Bergbau den Hauptteil der Produktionskosten einnehmen, fällt die Abnahme der Leistungen in außergewöhnlichem Maße ins Gewicht. Im Ruhrbergbau wurden 1913 bei einem Schichtlohn von 5,50–7,23 M Lohn- und Gehaltskosten (letztere mit 15 % der Löhne angenommen) für die Tonne berechnet, das waren rund 60 % des Verkaufspreises. In der Nachkriegszeit überschritt der Anteil der Lohnkosten öfters 60 %, nur in Perioden stürmischer Valutahausse fielen die Löhne stark hinter dieser Quote zurück.
In den englischen Revieren lagen die Abbauverhältnisse und dementsprechend die Schichtleistung auch vor dem Kriege etwas günstiger. Letztere betrug im Durchschnitt 1,06 t, sank dann Anfang 1921 auf 0,73 t je Mann und Schicht. Doch ist es in den englischen Gruben gelungen, seit 1922 die Schichtleistung auf 0,90 t zu steigern.
Die Engländer haben es verstanden, noch im Jahre 1921 sich vom Zahlentaumel loszulösen. Die durchschnittlichen Erzeugungskosten für Kohlen aller Qualitäten, die im ersten Quartal des genannten Jahres 40 s je t betrugen, wurden allmählich auf 16–17 s zurückgeführt. Mit einem schroffen Lohnabbau machte man den Beginn, der zu einem langwierigen Streik den Anlass gab. Hier in Deutschland kann man sich einen hartnäckigen Lohnkampf nicht erlauben. Von dem Reallohn der Bergarbeiter wird sich auch kaum etwas abzwacken lassen. Umso mehr kommt es auf eine Steigerung der Leistungen an. Das Arbeitszeitgesetz, das die Möglichkeit der Achtstundenschicht im Bergbau zulässt, gibt den Auftakt dazu. Unter dem Zwange der Not muss sich der deutsche Bergmann damit abfinden, dass er mehr und intensiver arbeitet, um sich und seine Familie überhaupt erhalten zu können.
Die Krise, welche die deutsche Wirtschaft durchzumachen hat, wird aber auch von der anderen Seite schwere Opfer verlangen. Gegen Verluste selbst im Falle rein ökonomischer Krisen nützen noch so sauber aufgemachte Produktionsrechnungen nichts, wie sie in Bezug auf die deutsche Kohlenwirtschaft vom Reichskohlenverband von Zeit zu Zeit veröffentlicht werden. Solche Betriebskostenberechnungen sind in Perioden stürmischer Valutahaussen überhaupt problematischer Natur, weil erst die Kapitalrechnung aufzeigen kann, welche Gewinne aus Papiermarkkrediten erzielt werden konnten. Außerdem basiert eine solche Berechnung auf den Kosten der unter ungünstigen Bedingungen arbeitenden Betriebe, während die Produktionskosten der verschiedenen Gruben stark differieren.
Aber die langjährige gemeinwirtschaftliche Preisfestsetzung hat scheinbar nach einer gewissen Richtung selbst die Geister der Bergwerksunternehmer „sozialisiert“. Unsere Wirtschaftsordnung gibt den Unternehmungen keinen Freibrief auf Erstattung beliebiger Produktionskosten, so sehr auch zu wünschen ist, dass lebenswichtige Betriebe auf die Dauer mit Gewinn arbeiten, damit ihre Lebensquelle nicht versiegt. Doch darf dies nicht dazu führen, die Produktionskosten im Wandel der Konjunkturen als eine starre Größe anzusehen, an die sich die Verkaufserlöse einfach anzupassen haben. Gelegentlich muss es auch umgekehrt geschehen und die Geschichte der industriellen Krisen lehrt es, dass es oft nicht anders geht, als mit Hilfe von Substanzverlusten die Gesundung zu erkaufen, um dann auf einer neuen Kosten- und Preisbasis weiterarbeiten zu können. Nachdem die Inflationsmaschine ausgelaufen und der Schleier, den sie über die Wirtschaft Deutschlands ausgebreitet hat, zerrissen ist, bleibt nichts mehr anderes übrig, als sich auf realere Grundlagen zu stellen. Dies bedeutet nichts anderes, als Einstellung des Preiskalküls auf die Weltmarktparitäten. Es wird kaum vermeidbar sein, dass der Anfang bei dem wichtigsten Grundstoff der Industrie gemacht wird.
Georg Kemeny