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Aus dem besetzten Gebiet schreibt man uns:

Man hat der Industrie, insbesondere der Schwerindustrie Rheinland-Westfalens, vorgeworfen, daß sie im Gegensatz zu ihrem früheren Verhalten Erfüllungspolitik treibe, und zwar dem Sachverständigengutachten gegenüber. Wenn wirklich ein Zwiespalt in der heutigen und der früheren Haltung der Industrie vorliegt, so ist es die Not des Augenblicks, welche der Industrie die Gesetze des Handelns vorschreibt. Namentlich die Industrie des besetzten Gebietes befindet sich in einer Zwangslage.

Am 15. Juni laufen die Verträge mit der Micum ab. Die Industrie sträubt sich gegen eine Verlängerung; aber sie hat sich schon einige Male dagegen gesträubt, und es hat nichts genutzt. Wenn sie auch diesmal in eine Verlängerung einwilligen müßte, so geschähe dies doch nur in der bestimmten Hoffnung, daß die Verhandlungen über das Sachverständigengutachten zu einem Ergebnis führen, welches die Micumverträge in ihrer jetzigen Form überflüssig macht.

Die Industrie des besetzten Gebietes hat seinerzeit, als die Verträge mit der Micum abgeschlossen wurden, einen hartnäckigen Kampf mit den französischen und belgischen Stellen darum ausgefochten, daß ihre Lieferungen auf Reparationskonto des Reiches angerechnet werden. Sie tat dies, um sich den Anspruch auf Entschädigung durch das Reich zu sichern. Allein, das Reich war nicht imstande, die Reparationsleistungen den Werken zu vergüten; alle Klarheit der Rechtslage konnte daran nichts ändern. Die Unternehmungen an Ruhr und Rhein blieben sich selbst überlassen – nun verlangen sie, daß Industrie und ganz allgemein die Wirtschaft auch des unbesetzten Deutschlands ihren Anteil an den Reparationen übernehmen, und daß an Stelle der Micumverträge entsprechende Abmachungen von Staat zu Staat treten. Hierin erblicken sie das Wesentliche des Sachverständigengutachtens.

Was dieses Gutachten im übrigen für eine weitere Zukunft bedeutet, daran hat die Industrie keine Zeit zu denken. Ihr steht das Wasser an der Kehle – da kann sie nur Augenblickspolitik treiben.

So erklärt es sich, daß die Deutsche Industrien-Vereinigung, die aus dem Reichsverband der deutschen Industrie ausgeschieden ist, weil dieser das Sachverständigengutachten bejaht, nur einen geringen und im ganzen bedeutungslosen Teil der Industrie hinter sich hat. Sie ist vornehmlich von Literaten gegründet worden, wie dem Oberfinanzrat Dr. Bang, dem Schriftsteller H. P. Held und dem Verleger und früheren Redakteur Bacmeister. Von größeren Betrieben gehören ihr nur die Schichauwerft in Elbing und die Rockstrohwerke in Heidenau in Sachsen an. Gewiß gibt es in der Industrie einflußreiche Männer, die sich gegen das Gutachten der Sachverständigen ausgesprochen haben. Zu ihnen zählt der frühere Generaldirektor der Kruppwerke, Geheimrat Dr. Hugenberg. Aber diese haben sich wohl gehütet, die Stoßkraft der Industrie durch Schwächung ihrer zentralen Organisation herabzumindern. Sie haben es bei ihrem Widerspruch bewenden lassen.

In der Inflationszeit war die deutsche Industrie als letzte Säule der einst ragenden deutschen Wirtschaft stehen geblieben. Stolz betonte ein Mann wie Hugo Stinnes wieder und wieder, daß er der Allgemeinheit diene, indem er die großen Unternehmungen innerlich gesund und kräftig erhalte. Er erblickte darin geradezu den Sinn seiner Wirksamkeit, die moralische Rechtfertigung für seine vielangefochtene Konzentrations- und Finanzpolitik. Millionen von deutschen Arbeitern, körperlichen und geistigen, fanden in der Industrie trotz aller Wirrnis und Not der Zeit einen festen Boden unter den Füßen. Nun ist auch diese Säule geborsten und kann über Nacht stürzen. Ausgeträumt der Traum der großen deutschen Industriellen, die man noch vor wenigen Monaten mit Königen und Fürsten vergleichen konnte, deren „Stammesherzogtümer“ nach Meinung mancher selbst zu einer Gefahr für das Reich zu werden drohten. Die großen deutschen Konzerne ringen um ihr Leben. Das äußere Zeichen dafür ist der Tiefstand der Aktien und Kuxe, mit denen die unglücklichen Besitzer bald die Wände ihrer Wohnungen tapezieren können – wie ehedem mit entwertetem Papiergeld.

Als die Ruhrwerke nach Aufgabe des passiven Widerstandes ihre Arbeit wiederaufnahmen, da konnten sie sich nur auf eine Vergütung von etwa einem Sechstel des durch den Ruhrkampf angerichteten Schadens durch das Reich stützen. Zur „Ankurbelung“ der Maschinen mußten Betriebsmittel beschafft werden, und das geschah durch Veräußerung von Devisen und Wertpapieren und durch Aufnahme von mehreren hundert Millionen Goldmark Krediten im Ausland. Mehr als der vierte Teil des Vermögens des Ruhrbergbaus ist dahingeschmolzen; seine Micumlasten belaufen sich jeden Monat auf über 60 Millionen Goldmark. Die Industrie erstrebte eine Verbilligung der Produktion durch Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichbleibenden Löhnen. Aber durch diese Politik machte der Bergarbeiterstreik einen Strich. Der Bergbau hat vom 1. Juni an eine Lohnerhöhung von 20 % zu zahlen. Wie diese aufgebracht werden soll, ist noch ganz ungeklärt; auch in dieser Hinsicht erhofft die Industrie alles vom Reich, d. h. von einer entsprechenden Abwälzung der Micumlasten auf die gesamte deutsche Volkswirtschaft im Verfolg des Sachverständigengutachtens.

Den Staatsgruben geht es dabei nicht besser als den privaten. Nach Erklärungen des preußischen Handelsministers Siering können nur 61 % der erzeugten Kohle gegen Entgelt abgesetzt werden. Seit dem 1. November 1923 kommen auf jede Tonne Kohle 10 Goldmark Zuschuß. Über eine viertel Milliarde Goldmark Schulden hat der Ruhrbergbau aufnehmen müssen. Für die Kreditnot der deutschen Industrie ist es bezeichnend, daß in englischen Zeitungen Inserate erscheinen, in denen deutsche Firmen Kapital suchen – gegen Zinsen von 10 bis 25 % pro Jahr und mehr! Die englischen Kreditgeber sind anderseits so vorsichtig, daß sie selbst eine Untersuchung der Lage der kreditsuchenden Unternehmungen durch Experten verlangen, bevor sie auch nur bescheidene Summen ausleihen. Soweit ist es mit der ehemals so achtunggebietenden und unbedingt sicheren deutschen Industrie gekommen.

Der Ruhrstreik hat die schon schwierige Lage der Industrie in eine geradezu verzweifelte verwandelt. Nach Mitteilungen des Bergbaulichen Vereins in Essen beläuft sich der durch den Streik verursachte Lohnausfall auf rund 59 Millionen Goldmark. Der Förderausfall wird auf 7,2 Millionen Tonnen geschätzt – im Werte von nahezu 150 Millionen Goldmark. Die Werke sind schwer geschädigt worden: durch das Zubruchgehen vieler Grubenbaue, das Versaufen der tiefer liegenden Sohlen sowie durch erhebliche Beeinträchtigungen der Tagesanlagen – Koksöfen, Gießwerke, chemische Betriebe usw.

Das Schlimmste aber ist, daß die Ingangsetzung der Werke nunmehr ein zweites Mal unter großen Opfern erfolgen muß, nachdem eben erst der durch die Ruhrbesetzung und den passiven Widerstand eingetretene tote Punkt überwunden worden war. Neue Kredite müssen zu diesem Zwecke aufgenommen werden – allein, sie sind schwerer zu erhalten als beim ersten Mal. Das Ausland hat durch den Ruhrstreik deutlich an Vertrauen in die deutsche Wirtschaft eingebüßt. Die Beleihungsobjekte haben an Wert verloren, frühere Kredite müssen zurückgezahlt werden, die Zinslast wächst beständig.Durch den Ruhrstreik hat die Erledigung der Auslandsaufträge durch die Industrie des besetzten Gebietes eine Unterbrechung erlitten. Diese schmerzliche Erfahrung hat das Ausland vorsichtiger gemacht, neue Aufträge in das besetzte Gebiet zu vergeben. Umso mehr, als sich für die Metallindustrie ähnliche Arbeitskämpfe anzukündigen scheinen, wie sie dem Bergbau bereits zum Verhängnis geworden sind.

Eine gewisse Erleichterung erwartet die Industrie des besetzten Gebietes vom Sachverständigengutachten auch deshalb, weil die Eisenbahnregie im besetzten Gebiet aufgehoben werden soll. Die völlig unzureichende Wagengestellung der Regie hat dem Ruhrbergbau anhaltenden schweren Schaden zugefügt und viele Zechen zur Einlegung zahlreicher Feierschichten gezwungen. Schließlich würde auch der Wegfall der Zollgrenze zum unbesetzten Deutschland eine bedeutsame Entlastung bedeuten. Heute trägt die Industrie von Ruhr und Rhein das doppelte Gewicht – einerseits die auf Einfuhr von Rohstoffen und Halbfabrikaten ruhenden Abgaben, andererseits die Ablaufzölle. Doch im Wettbewerb mit der Industrie des unbesetzten Gebietes kann sie keine höheren Preise verlangen als diese – muß aber infolge der Zölle weitaus höhere Gestehungskosten tragen. Von dem Sachverständigengutachten erhoffen sich daher die Ruhr- und Rheinindustrie einen Ausgleich auch in dieser Hinsicht.

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