Wenn in den deutschen Arbeitsstreitigkeiten die Lohnfrage auch schon wieder eine bedeutende Rolle spielt, so haben doch gerade die großen Kämpfe um die Arbeitszeit dermaßen im Vordergrund des Interesses gestanden und hat der Kampf um den Achtstundentag für Deutschlands gesamtes öffentliches Leben eine solche Bedeutung gewonnen, dass es am Platze erscheint, diesen Kampf, seinen Ausgangspunkt und seine Folgen einmal näher zu prüfen.
Für die deutschen Gewerkschaften hat der Kampf um die Verkürzung der Arbeitszeit stets eine ganz besondere Rolle gespielt. Sie haben sich nie als eine Maschinerie zur Lohnerhöhung betrachtet, sondern waren stets von der Auffassung beherrscht, dass die Verkürzung der Arbeitszeit zur Hebung der gesamten Lage der Arbeiterschaft unter Umständen wichtiger sein kann, als eine Lohnerhöhung. In den letzten 20 Jahren vor dem Kriege haben die Gewerkschaften auf diesem Gebiet auch recht erhebliche Erfolge erzielt. Die amtliche Statistik über die Tarifverträge des Jahres 1913 zeigt folgendes Bild.
Es arbeiteten von den Tarifverträgen unterstehenden Arbeitern:
Es arbeitete also nahezu die Hälfte dieser Arbeiterschaft bis einschließlich 10 Stunden. Die Tabelle über die tägliche Arbeitszeit gibt ein etwas anderes Bild als diese Wochenarbeitszeit infolge des früheren Sonnabendschlusses. Bis einschließlich 9 Stunden arbeiteten 41,4 % der Arbeiter, 9–9½ 20,4 %, 9½–10 34,5 %. Diese Zahlen geben einen deutlichen Begriff von den Fortschritten, die die Gewerkschaften auf diesem Gebiet errungen haben. Sie geben jedoch für die Beurteilung der allgemeinen Lage etwas zu günstige Unterlagen, denn die Schwerindustrie und andere Industriezweige mit besonders schlechten Arbeitsverhältnissen und damit langer Arbeitszeit fehlen in der Tarifstatistik.
Der Krieg brachte einen völligen Stillstand in dieser Entwicklung. Das deutsche Wirtschaftsleben lebte von den Kriegslieferungen und die Kriegsindustrie stand im Zeichen der Parole: Herausschaffen, was möglich ist ohne Rücksicht auf die Kosten! Es wurden daher im allergrößten Umfange Überstunden gemacht.
Mit der Revolution bahnte sich eine grundsätzliche Änderung an. Die großen Führer der Schwerindustrie, die früher jede Verhandlung mit einem Gewerkschaftsbeamten aufs schroffste abgelehnt hatten, fanden sich jetzt mit den Gewerkschaftsführern zusammen, um die Wirtschaftsregelung in der Zeit der Demobilmachung der Bürokratie zu entziehen und auf gewerblicher Selbstverwaltung zu basieren. Dazu gehörte die prinzipielle Anerkennung der Gewerkschaften und die prinzipielle Anerkennung des Achtstundentages, der in dem sogenannten Novembertraktat zwischen den Spitzenorganisationen beider Seiten vereinbart wurde. Diese Vereinbarung erhielt kurze Zeit darauf durch eine Demobilmachungsverordnung Gesetzeskraft. Die Verordnung sollte nur eine vorläufige Regelung bieten und später durch ein Gesetz ersetzt werden, das auf genaueren und eingehenderen Beratungen und Prüfungen der Sachlage beruhte. Jenes Gesetz ist jedoch trotz mannigfacher Vorberatungen und Vorbereitungen nicht zustande gekommen. Im Jahre 1921 wurde ein Entwurf vorgelegt, der heftige Gegnerschaft fand und einen immer wachsenden Kampf gegen die Arbeitszeitregelung entfesselte. Trotz mehrfacher Verlängerung der Demobilmachungsverordnung erlosch diese schließlich doch, und es entstand ein gesetzliches Vakuum; es galten plötzlich nur die beinahe verschollenen Bestimmungen der Gewerbeordnung und von irgendeiner allgemein gesetzlichen Regelung, einer Maximalarbeitszeit, war nicht die Rede.
In dieser Situation erließ der Reichsarbeitsminister auf Grund des Ermächtigungsgesetzes eine Arbeitszeitverordnung. Sie hat bei beiden Parteien viel Gegnerschaft gefunden und viel Staub aufgewirbelt. Die einen klagten über die Durchlöcherung des Achtstundentages, die anderen beschwerten sich darüber, dass die Ansätze zu friedlicher Verständigung plötzlich zerstört seien. Die Verordnung legt im Prinzip den Achtstundentag fest, lässt aber bis zu einer Höchstarbeitszeit von 10 Stunden (bzw. 8½ bei gesundheitsschädlichen und gefährlichen Arbeiten) folgende Ausnahmen zu:
1. Nach Anhörung der Betriebsvertretung kann Arbeitsausfall in der gleichen oder folgenden Woche ausgeglichen werden.
2. Bei Arbeitsbereitschaft kann der Tarifvertrag oder der Arbeitsminister eine andere Regelung treffen.
3. 30 Tage im Jahr kann Überarbeit geleistet werden.
4. Bei Bewachungs-, Reinigungs-, Be- und Entladungsarbeiten sowie bei Arbeiten zur Wiederaufnahme des Betriebes kann länger gearbeitet werden.
5. Der Tarifvertrag kann längere Arbeitszeit festsetzen.
6. Der Gewerbeaufsichtsbeamte kann auf Antrag eine längere Arbeitszeit gestatten.
7. In Notfällen kann länger gearbeitet werden.
Für laufende Tarifverträge mit anders gearteter Regelung sieht die Verordnung eine besondere Kündigungsfrist vor, von der reichlich Gebrauch gemacht wurde. Das Wesentliche an dieser Verordnung ist die Möglichkeit, durch Tarifvertrag Abweichungen von der „prinzipiellen“ Arbeitszeit vorzunehmen. Der Reichsarbeitsminister hat sich, wie es scheint, im Großen und Ganzen gesträubt, Anordnungen zu treffen. Er hat vielmehr die Regelung im Allgemeinen auf dem Wege des Tarifvertrages vor sich gehen lassen. Wenn die Parteien sich nicht einig wurden, so beantragten sie einen Schiedsspruch, und diese Schiedssprüche sahen entweder 54-stündige Arbeitszeit vor oder 48-stündige Normalarbeitszeit nebst 5 bis 8 Überstunden, die der Unternehmer nach Anhören des Betriebsrates einseitig anordnen kann, und für die nur der normale Stundenlohn ohne Aufschlag für Überstunden zu zahlen ist. Das Reichsarbeitsministerium hatte bereits in den letzten Jahren deutlich zu erkennen gegeben, dass ihm Arbeitszeiten unter 48 Stunden unbequem sind. Das Vorbild, das die seinem Beamtenstabe angehörigen Unparteiischen durch ihre Schiedssprüche nun gaben, wurde in ganz Deutschland befolgt, und es ging plötzlich die allgemeine Auffassung durch das Reich, dass der Achtstundentag erledigt sei und man sich gegen diese Entwicklung nicht sträuben könne. Es ist außerordentlich bedauerlich, dass über die tatsächlichen Verhältnisse wenig zu erfahren ist. Unsere Sozialstatistik ist von dem außerordentlich rührigen Statistischen Reichsamt abgezweigt worden; man hat jedoch nicht den Eindruck, dass die Möglichkeit zur Spezialisierung sonderliche Erfolge zeitigt. Es fehlt jeder Gesamtüberblick über die Verhältnisse, die jetzt entstanden sind, und es fehlt noch mehr eine Übersicht darüber, wie weit die formalen Regelungen der Arbeitszeit nun tatsächlich in der Praxis ausgenutzt werden.1
Wenn man die Verhältnisse im Ganzen überschaut, sieht man, dass die Verbände, die vor dem Kriege die Träger des Tarifgedankens waren, auch heute die Kämpfer für die Aufrechterhaltung des Achtstundentages sind, und dass sich alle die, die früher schwach waren, mehr oder minder gefügt haben.
Bevor wir prüfen, wie diese Entwicklung kam und worauf sie zurückzuführen ist, müssen wir zunächst die Gedankenwelt der beiden kämpfenden Teile kennen lernen. In der Tagespresse wurde zeitweilig außerordentlich viel über die Wirkungen des schematischen Achtstundentages, über die Unproduktivität der deutschen Wirtschaft usw. geschrieben. Diese Artikel haben im Wesentlichen dazu beigetragen, in der Öffentlichkeit die Stimmung gegen den Achtstundentag zu erzeugen. Von irgendwelchem Beweiswert sind sie jedoch nicht gewesen. Man tut daher gut, die Tagespresse für die Beurteilung dieser Frage auszuscheiden und die Fachpresse, sowie die Verhandlungen über das Arbeitszeitgesetz im Reichswirtschaftsrat heranzuziehen.
Den schärfsten Vorstoß gegen den Achtstundentag führte Hugo Stinnes, der in seiner bekannten Rede am 9. November 1922 10 bis 15 Jahre zwei Stunden täglicher unbezahlter Mehrarbeit für nötig erklärte. Nicht ganz so weit gingen die sozialistischen Gegner des Achtstundentags, die nur seine Suspension für fünf Jahre forderten, allerdings meinten, man müsse evtl. mit einer Verlängerung dieser Suspension rechnen.
Ihnen hat sich der bekannte Stuttgarter Industrielle Dr. Bosch angeschlossen, ohne daß aus seinen Ausführungen eine Begründung hierfür ersichtlich wäre. Im Ganzen war die Auffassung der Arbeitgeberschaft sehr viel milder und zurückhaltender. Wenn auch von einer einheitlichen Auffassung nicht die Rede sein kann, so kann man doch etwa folgende Argumente als die wesentliche Begründung zusammenfassen. Die wichtigsten Ausführungen auf Arbeitgeberseite hat der eben genannte Dr. Bosch gemacht. Er erklärte, die Intensivierung der Arbeit sei ein langsamer Erziehungsprozeß und zwar nicht nur für die Arbeiter, sondern auch für die Arbeitgeber. Es gäbe Arbeiter, die nicht intensiv arbeiten könnten und lieber dieselbe Arbeitsleistung auf zehn Stunden verteilten als in acht Stunden zusammenfaßten. Und es gäbe Arbeitgeber, die die Ausbildung einer Betriebsorganisation, wie sie der Achtstundentag verlange, nicht zu schaffen vermöchten. Soweit Intensivierung möglich sei, ginge sie jedoch nicht von heute auf morgen durchzuführen. Prinzipiell stellte sich Bosch durchaus nicht gegen den achtstündigen Arbeitstag. Er führte aus, er habe ihn 1904 eingeführt und die Erfahrung gemacht, daß die achtstündige Arbeitszeit für die Erzeugung feinmechanischer Arbeiten (und auch in ähnlichen Berufen) eine zweckmäßige Einrichtung sei, unter der Voraussetzung, daß der Betrieb gut eingerichtet sei und die Leute im Stücklohn arbeiten. Wenn wir, was manchmal der Fall war, infolge einer Hochkonjunktur, die immer im Sommer eintrat, länger als acht Stunden arbeiten mußten, stieg zwar zunächst die Arbeitsleistung, fiel aber im Laufe der Zeit wieder zurück und sank sogar unter die Leistung der achtstündigen Arbeitszeit herunter und stieg erst wieder, nachdem wir längere Zeit acht Stunden gearbeitet hatten. Im weiteren Verlauf der Debatte sagte Bosch noch: Ich mache aus der erzwungenen Einführung des Achtstundentages nicht nur dem Arbeitnehmer einen Vorwurf, sondern auch dem Arbeitgeber insofern, als er nicht verstanden hat, seinen Betrieb so zu verbessern, daß er in seinem Betrieb zum Achtstundentag freiwillig übergehen konnte. Zweckmäßig wäre es gewesen, wenn der Unternehmer im Einvernehmen mit den Arbeitnehmern die Arbeitszeit heruntergesetzt hätte, sich also Mühe gegeben hätte, seinen Betrieb auf der Höhe zu halten. Die Verminderung der Arbeitszeit wird eine ständige Forderung der Arbeiterschaft bleiben und derjenige Unternehmer, der nicht darauf aus ist, die Arbeitszeit möglichst herunterzusetzen, begeht nach meinem Dafürhalten eine große Unklugheit. – Infolge dieser Gesamtauffassung hat Herr Bosch auch bei der Suspension des Achtstundentages den Vorbehalt gemacht, daß Betriebe, die schon vor dem Krieg einen kürzeren als den Neunstundentag hatten, diesen beibehalten sollten. Im Anschluß an Boschs Ausführungen wurde hervorgehoben, daß die Rationalisierung der Betriebe Anlagekapital erfordere, das nicht zur Verfügung stände, daß besonders in den 4 ½ Kriegsjahren viele Betriebe ihren Apparat heruntergewirtschaftet hätten. Insbesondere das Mitglied des Reichswirtschaftsrates, Max Cohon, betonte, daß die Mittel zur Betriebsverbesserung aus der Mehrarbeit fließen müßten. Die tatsächliche Minderleistung je Arbeiter hat vor allem in den Tageszeitungen eine Rolle gespielt. In diesen Vorhandlungen ist sie auch gestreift worden, ohne stark hervorzutreten. Sie war wohl unmittelbar nach dem Kriege mehr ein Argument am Verhandlungstisch bei Lohnforderungen als gegen die Arbeitszeitverkürzung. Dagegen wurde sehr stark betont, daß vielfach die Intensität der Arbeit von der Maschine und nicht vom Menschen abhänge, so daß die Verkürzung der Arbeitszeit nicht durch Steigerung der Intensität wettgemacht werden könnte, sondern einen glatten Verlust darstelle. Neben diesen wichtigen Argumenten spielten noch eine Anzahl anderer eine Rolle; so wurde die inzwischen zusammengebrochene Behauptung von der großen damaligen Passivität der deutschen Handelsbilanz ins Feld geführt. Weiter berief man sich auf Arbeitgeberseite darauf, daß der Achtstundentag nur unter der Bedingung bewilligt worden sei, daß er eine internationale Regelung finde; er stehe aber heute im Ausland höchstens auf dem Papier und könne nicht von Deutschland allein aufrechterhalten werden. Als letztes Argument aus dieser Reihe möge noch aufgeführt werden: Der Achtstundentag sei zur Hebung der geistigen Beschäftigung gefordert worden. Viele Arbeiter verwendeten ihre freie Zeit aber mangels geistigen Lebens zur Privatarbeit im eigenen oder fremden Berufe. Die Schlußüberlegung ging etwa dahin: Deutschland habe den Achtstundentag als unbedingt notwendige politische Konzession nach der Revolution unter bestimmten Voraussetzungen eingeführt. Die Voraussetzungen seien nicht eingetroffen (internationale Geltung), dagegen sei Deutschland heute in großer Not, es bedürfe einer größeren Arbeitsleistung und diese sei im Augenblick nur durch Verlängerung von Arbeitszeit zu erzielen. Man solle daher den Achtstundentag prinzipiell festlegen, aber die nötige Bewegungsfreiheit für Überstunden schaffen und die nötige Bewegungsfreiheit für vorübergehende Differenzierung entsprechend der Inanspruchnahme durch die Arbeit sichern.
Insbesondere wurde die Notwendigkeit der Bewegungsfreiheit für Überstunden von verschiedenen Seiten sehr stark betont. Herr v. Siemens führte aus, daß sein Vater Ende der achtziger Jahre in seinen Betrieben die achtstündige Arbeitszeit eingeführt habe, um in den dadurch möglichen Überstunden jederzeit eine Reserve für vorübergehende Steigerung der Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Die Forderungen der Arbeitgeber im Reichswirtschaftsrat liefen daher auf eine große Liste von Ausnahmen heraus, so daß der Achtstundentag zwar prinzipiell festgelegt war, aber innerhalb der zahlreichen Ausnahmen durch Tarifvertrag im einzelnen hätte bestimmt werden müssen.
Die Befürworter des Tarifvertrages bestritten, daß es sich bei seiner Einführung um eine politische Konzession gehandelt habe. Sie behaupteten, es seien von der Unternehmerschaft rein wirtschaftliche Überlegungen zugrunde gelegt worden, und die einzige Voraussetzung habe eben in der internationalen Geltung bestanden. Im übrigen führten sie zwei Reihen von Argumenten ins Feld, eine sozialpolitische und eine wirtschaftspolitische. Sie sagten mehr oder minder deutlich: Wir haben die Arbeiterschaft so viele Jahre hindurch aufgefordert, im Interesse ihrer kulturellen Hebung für die Verkürzung der Arbeitszeit zu kämpfen und den Achtstundentag als Endziel aufgestellt, daß wir ihr jetzt eine Verlängerung auf keinen Fall zumuten können. Bei Verlust des Achtstundentages würde einfach nicht mit derselben Intensität weitergearbeitet werden, und nicht nur die Stundenleistung, sondern womöglich auch die Wochenleistung sinken. Die Anpassung in Fällen der Arbeitsbereitschaft, auch in der Landwirtschaft, sei sofort erfolgt. Zur Begründung der Notwendigkeit, die Arbeitszeit zu verkürzen, berief man sich auf die alten bekannten Gedankengänge, die hier nicht näher aufgeführt zu werden brauchen.
Die wirtschaftliche Argumentation, in der Hauptsache von Umbreit und Hilferding vorgetragen, lief einmal darauf hinaus, daß größere Arbeitsintensität dank Verkürzung der Arbeitszeit einen rascheren Kapitalumschlag ermöglicht; während die Gegenseite vorrechnete, daß die Generalunkosten sich heute auf zu wenig Arbeitsstunden verteilen, setzte man ihr auseinander, daß gerade durch Intensivierung der Arbeit die Generalunkosten sich auf einen höheren Arbeitsertrag beziehen. Obwohl dieses Argument doch vorzugsweise für Mehrschichtbetriebe gilt, hat man sich über dessen Möglichkeiten nicht unterhalten. Das zweite wichtige Argument dieses Gedankenganges war folgendes: Die deutsche Industrie hat unter dem Einfluß der Inflationsgewinne nicht rationell genug gearbeitet und muß sich jetzt auf Grund der wirklichen Gestehungskosten ohne Inflationsprämie umstellen. Diese Umstellung wird erschwert, wenn an Stelle der Inflationsprämie eine Produktionsprämie aus Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse tritt. Die Arbeiterschaft hätte dann die Kosten dafür zu tragen, daß die Industrie auch in der Stabilisierungszeit noch eine Zeit in der alten Weise weiterarbeiten kann.
Merkwürdigerweise hat sich die Erörterung im Reichswirtschaftsrat ebenso wie die sonstige Diskussion dieser Frage fast ausschließlich in allgemeinen Auseinandersetzungen bewegt. Die paritätische kalkulatorische Untersuchung einzelner Industrien, für die der Reichswirtschaftsrat die gegebene Stelle war, denn die allgemeinen Erörterungen konnte man im Reichstag genauso gut pflegen, ist unterblieben, ja noch nicht einmal – soweit sich übersehen läßt – angeregt worden. Dies kann ein Versagen des Reichswirtschaftsrates sein, kann aber auch darauf beruhen, daß in Wirklichkeit gar nicht um den Achtstundentag gekämpft wurde. Für diese Auffassung spricht auch die Berechnung, die der Staatssekretär z. D. Professor Julius Hirsch kürzlich in seiner Broschüre „Die deutsche Währungsfrage“ (Kieler Vorträge, Heft 9) angestellt hat. Er rechnet nur mit 1 Million Arbeitskräften in Deutschland, für die die Arbeitszeitverlängerung ernstlich in Betracht kommt, und ist der Auffassung, daß deren evtl. Mehrarbeit schon ziemlich erreicht wird von den infolge der Veränderung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse neu in das Erwerbsleben eingetretenen Kräften.
Von einigen Spezialwünschen für Baugewerbe und Landhandwerk abgesehen, spitzte sich der Streit schließlich auf die Frage zu: Sollen alle Ausnahmen im Gesetz festgelegt werden, oder soll das Gesetz, von wenigen Fällen abgesehen, die Regelung der Ausnahmen dem Tarifvertrag überlassen? Arbeitgeber und eine Mehrheit aus der Abteilung III stimmten im Reichswirtschaftsrat für Regelung der Ausnahmen gegen den geschlossenen Willen aller Arbeitnehmervertreter. Die Einigung der Interessenten, die ja Aufgabe des Reichswirtschaftsrates sein sollte, kam also nicht zustande.
Wenn man die Dinge heute zurückschauend betrachtet, so kommt man zu der Auffassung, daß für große Teile der deutschen Industrie die wirkliche Verlängerung der Arbeitszeit durchaus nebensächlich war, daß es sich für sie praktisch im wesentlichen nur um volle Bewegungsfreiheit bei Überstundenanordnung gehandelt hat. Andere Teile waren an der Verlängerung stark interessiert. Man kommt weiter zu dem Resultat, daß auch der Wunsch, die Gewerkschaften durch das kaudinische Joch der Arbeitszeitverlängerung innerlich zu schwächen, wohl eine erhebliche Rolle gespielt hat. Das Wichtigste beim Kampf um das Arbeitszeitgesetz scheint jedoch ein anderes Moment gewesen zu sein, das den Beteiligten auf beiden Seiten vielleicht nicht klar zum Bewußtsein gekommen ist und sie doch in allem Handeln bestimmt hat. Für die Gewerkschaften bedeutete die gesetzliche Festlegung des Achtstundentages Herauslösung der Arbeitszeitfragen aus dem sozialen Kampfgebiet, damit Konzentration der Kampfkraft auf die Lohnfragen, d. h. mit anderen Worten: es würde ein sehr erheblicher Teil der gewerkschaftlichen Aufgaben vom gewerkschaftlichen Einfluß auf den politischen umgelagert. Überdies bedeutete die Verweisung der Ausnahmen auf die Tarifverträge eine starke Nötigung zum Abschluß von solchen Verträgen. Dieser Versuch der Gewerkschaften ist gescheitert. Vielleicht hatten sie überhaupt zuviel versucht, vielleicht zeigt dieses Scheitern, daß gewerkschaftliche Aufgaben mit politischer ohne gewerkschaftliche Macht nicht zu lösen sind. Die Gewerkschaften müssen sich ihre Stellung stets erkämpfen und können das Gesetz nur zum Ausgleich der Unebenheiten, zum Schutz der Nachzügler, benutzen.
Die Revolution brachte den Gewerkschaften einen Zuwachs ihrer politischen Macht und eine innere Schwächung. Sie nahmen zwar an Mitgliedern außerordentlich zu, konnten diese Mitglieder aber nicht sofort entsprechend den alten Gewohnheiten schulen und hatten so nie das disziplinierte Heer wie in früheren Zeiten zur Verfügung, wenn sie auch zunächst mit der Solidarität allein ohne Kassenmittel erhebliche Erfolge erzielten. Dazu fraß ihnen die Inflation allmählich die Kassenbestände auf und senkte darüber hinaus die laufenden Einnahmen durch Sinken der Beitragsmoral. In der Zeit der hohen Zahlen sind die Beiträge jeder Gewerkschaft, auch über den Lohnindex der betreffenden Gewerkschaft in Gold umgerechnet, gegenüber dem Frieden gesunken, weil die Beiträge stets hinter der Lohnentwicklung herhinkten und sich nicht nur viele einzelne Mitglieder, sondern auch Zahlstellen freuten, wenn sie Inflationsgewinne am Verband machten. In dem Maße, in dem die Lohnbewegungen zunahmen, schwand die Streikmöglichkeit für die Organisationen, und in dem Maße, in dem die Bewegung wirtschaftlich schwächer wurde, sank die Macht ihrer parlamentarischen Vertretung, der sozialdemokratischen Partei. Dieses Sinken der Macht führte nun seinerseits zum Mitgliederschwund, so daß im Herbst 1923 die Verbände recht ernsthaft in ihrem Bestande bedroht waren und sich nur damit trösteten, daß sie bei den Arbeitgeberorganisationen meist dieselbe böse Lage wahrnahmen. Wer jedoch geglaubt hat, daß die Bewegung tatsächlich in einer schweren ernsthaften Krise begriffen ist und die Schwächung durch die Arbeitszeitverlängerung nicht überstehen wird, hat die Situation falsch beurteilt. Die Stabilisierung des Geldes brachte den Gewerkschaften eine Stabilisierung der Nerven und eine Stabilisierung der Kampfkraft. Sie haben nicht die Geldmittel zur Verfügung wie im Frieden, sowohl was Reserven als was die laufenden Mittel anlangt, aber ihre innere Festigung hat überall dort begonnen, wo eine alte gewerkschaftliche Tradition, die Erinnerung an alte Erfolge, die Mitglieder zusammenhält.
Man soll daher die allgemeine Bedeutung dieses Kampfes um die Arbeitszeit für unsere Wirtschaft nicht unterschätzen. Er hat nicht zu einer Schwächung der Gewerkschaften, sondern zu einem Wiedererstarken geführt, hat dem Kampf somit aufs neue entfacht und in den alten gefestigten Verbänden einen festen Gegner gefunden. Der Kampf um die Arbeitszeit dürfte den Keim zu einem neuen kräftigen Aufblühen der deutschen Gewerkschaftsbewegung in sich bergen und, wenn man nicht beizeiten lernt, die beiderseitigen Kräfteverhältnisse abzumessen, in der Zeit der Wiedergesundung der deutschen Wirtschaft große Störungen bringen.
- 1 Vgl. hierzu den folgenden Artikel "Die Dauer der Arbeitszeit" von Franz Spiledt