Das Londoner Schlussprotokoll vom 16. August 1924 versetzt die deutsche Regierung in die Notwendigkeit, die wesentlichen Bestandteile der als „Dawes-Bericht“, mehr dem Namen als dem Inhalt nach bekannt gewordenen volkswirtschaftlichen Abhandlung vom 9. April 1924, in die feste Form von Gesetzen überzuführen.
Der Bericht sprach (Teil I, Abs. IX C) die Überzeugung aus, „daß es billig und wünschenswert ist, von der deutschen Industrie als Beitrag zu den Reparationszahlungen eine Summe von mindestens fünf Milliarden GM zu fordern, die durch erststellige hypothekarisch sichergestellte Obligationen dargestellt werden sollen, die jährlich mit 5 % zu verzinsen und mit 1 % zu tilgen sind!“ Begründend wird hinzugefügt, daß diese Belastung niedriger sei, als die durch die Geldentwertung gegenstandslos gewordene Verpflichtung aus früheren Ausgaben von Schuldverschreibungen – daß die Industrie mancherlei Inflationsgewinne gemacht habe, allerdings auch Verluste aufzuweisen hätte. Im nächsten Absatz aber wird der Versuch einer rechnerisch genauen Begründung des Vorschlages bereits wieder fallen gelassen und mit jener robusten Frische, die uns sympathischer sein könnte, wenn Deutschland nicht gerade Objekt dieses Berichtes wäre, erklärt: „Es genügt, wenn das Komitee seine Überzeugung ausspricht, daß eine der deutschen Industrie auferlegte Hypothekenschuld von fünf Milliarden GM, bei gerechter Verteilung und mäßigem Zinsfuß, keine schwerere Belastung schafft, als die Industrie zu tragen hätte, wenn keine Geldentwertung eingetreten wäre.“
Diese Erklärung wiederum konnte deshalb „genügen“, weil sich die Sachverständigen auf ein Memorandum der deutschen Regierung vom 7. Juni 1923 stützen konnten, mit welchem diese ein erststelliges Pfandrecht von zehn Milliarden GM auf den gesamten deutschen Grundbesitz angeboten hatte. Damit kehrt also die „Begründung“ zurück auf einen wiederum mehr politisch gedachten, als wirtschaftlich durchgerechneten Vorschlag von Deutschland selbst, dessen prinzipielles Gewicht weniger in der genannten Zahl lag, als darin, daß er zum ersten Mal die Schranke durchbrach, die Artikel 248 des Vertrages von Versailles in unzweideutiger Weise zwischen dem fiskalischen Vermögen Deutschlands und dem seiner Staatsangehörigen gezogen hatte. Der führende englische Kommentar hatte zu diesem Artikel ausdrücklich gesagt: „Potential property is not included and the private property of German nationals is definitely excluded“ (Temperley II, p. 66).
Nicht ohne deutsche Mitwirkung hatte sich jedoch schon vor Juni 1923 in den um die Reparationsfrage kreisenden Erwägungen des Auslandes der Gedanke einer unmittelbaren Haftung der Industrie festgesetzt. Die seit Frühjahr 1921 immer wieder in Umlauf gesetzten Gedanken Arnold Rechbergs, der eine Beteiligung Frankreichs unmittelbar am Aktienkapital der deutschen Industrie vorschlug, waren in der Sache unautorisiert; gleichwohl ist kein Zweifel, daß sie die Begehrlichkeit des Auslandes mit angefacht haben.
Die tiefere Ursache dieser unmittelbaren Vollstreckung in das deutsche Privatvermögen liegt aber in jener unter den Nachwirkungen des Zusammenbruchs von 1918 im öffentlichen Bewußtsein vollzogenen Trennung zwischen dem Staat und „der Wirtschaft“, wobei „die Wirtschaft“ mit Schärfe als der eigentliche Träger und bestimmende Faktor des Volksganzen bezeichnet wurde, während das Gefühl für den Eigenwert der staatlichen Organisation als solcher in dem Unmut über ihre neue Form fast völlig verloren ging.
Aus den Lehren der Geschichte ergibt sich, daß solches unmittelbare Auftrumpfen der wirtschaftlichen Stände, mag es auch aus der Schwäche des Staates abgeleitet gewesen sein, stets zu einer weiteren Aushohlung des Staatsbegriffs und damit zu einer Gefährdung des politischen Bestandes des Staates selbst geführt hat.
Wenn Deutschland jetzt auf lange Zeit wesentliche Merkmale der Souveränität durch internationale Verpflichtungen beeinträchtigen lassen muß, wenn nicht mehr der Staat allein vom Ausland als Bevollmächtigter des Volksganzen angenommen, sondern neben seiner Unterschrift die „der Wirtschaft“ verlangt wird, so erblicken wir hierin allerdings ein spezifisch deutsches Schicksal: das Gefüge des Staates unter äußerem Druck nicht härter, sondern weicher werden zu lassen. Hieran aber trägt, so paradox es klingen mag, die Neigung „der Wirtschaft“, sich in den Wandlungen des Staates als das alleinige Element von unvergänglicher Dauer zu fühlen, eine erhebliche Schuld.
Die Kreditangebote der Industrie, jenes vom 10. November 1921 und jenes vom 25. Mai 1923, waren nach Form und Inhalt keine Hilfeleistungen der Staatsangehörigen an die Regierung, sondern sie erschienen als Vorschläge einer dem Staate mindestens gleichgeordneten Macht, die an Bedingungen und Forderungen geknüpft waren, unter denen sich auch der jetzt so verhängnisvoll gewordene Gedanke einer Entstaatlichung der Eisenbahnen „durch Verkauf an eine privatwirtschaftlich juristische Person“ befand. An psychologischen und politischen Erklärungen für dieses Kraftbewußtsein der Wirtschaft gegenüber einem von der Staatsgesinnung der einzelnen nicht mehr hinreichend gestützten Staat ist kein Mangel. Hier ist nur die Feststellung wichtig, daß diese unter dem außenpolitischen Druck sich vollziehende, und von der Wirtschaft sogar für etwas Erstrebenswertes gehaltene Spaltung zwischen den ökonomischen und den politischen Kräften des Volksganzen die Bedingungen schuf, unter denen die jetzt vollzogene Verpfändung deutschen Privateigentums für eine außenpolitische Verpflichtung des Staates möglich wurde. Das Ausland trat damit in einer unerwarteten Weise dem besonders von der Industrie verfochtenen Argument bei, daß der deutsche Staat von 1919 allein kein ausreichend befähigter Träger und Vollstrecker eigenen Willens sei.
Diese Genesis und Wirkung einer bestimmten Art von „strong ideas“ mußte einmal aufgezeigt werden, als ein – vielleicht lehrreicher – Beitrag zu der alten Fabelfrage nach dem Wertverhältnis des Staatsganzen zu seinen Teilen.
Die besondere Form, die der Dawes-Bericht der Industriebürgschaft zu geben gedachte, ist in der ihm beigegebenen Anlage 5 erläutert worden. Die Obligationen sollten Verpflichtungen der einzelnen Unternehmungen darstellen und als solche einem von der Reparationskommission ernannten Treuhänder übergeben werden, der sie nach den Weisungen dieser Behörde zu verwalten hätte. Ein befristetes Rückkaufsrecht durch den Schuldner war vorgesehen, gleichzeitig das Recht der Treuhänder, die Obligationen frei zu verwenden, „aber mit gebührender Rücksicht auf die Wahrung des Kredites des Schuldners“. „Die deutsche Regierung soll die Zahlungen von Kapital, Zinsen und Tilgungsquote dieser Obligationen gewährleisten“, so daß also für den zunächst substituierten Schuldner wieder der ursprüngliche als Bürge einzutreten hat. Es soll der Regierung freistehen, durch Zuschüsse an die Hypothekenschuldner den Rückkauf der Obligationen zu erleichtern und damit auch sie von der Bürgschaft zu befreien. Ein vorläufiges Organisationskomitee ist zu beauftragen, „die Einzelheiten des Plans in einer Form auszuarbeiten, die sowohl der deutschen Regierung als auch den industriellen Unternehmungen und der Reparationskommission gerecht wird“.
Dieses Komitee hat vom 2. Juni bis 14. Juli in Paris getagt. Als Beauftragte der Reparationskommission gehörten ihm der Präsident der Handelskammer von Lille, Descamps, und der Italiener Bianchi an. Die Reichsregierung entsandte Staatssekretär Dr. Trendelenburg und für die Industrie Geheime Rat Dr. Bücher. Da der Vertreter Frankreichs die Ausführungsgesetze in eine Richtung drängen wollte, die auf die Beeinflussung bestimmter industrieller Werke zielte, so wurde, da eine Einigung nicht möglich schien, von dem Rechte der Zuwahl eines neutralen Mitgliedes Gebrauch gemacht. Die Wahl fiel auf den schwedischen Bankier Markus Wallenberg, der den Vorsitz übernahm. Am 2. Juli trat an die Stelle von Descamps der Mitunterzeichner des Dawes-Berichtes, Professor Allix.1
Während die Einzelheiten der gefundenen gesetzgeberischen Lösung einem zweiten Aufsatz vorbehalten bleiben, soll hier kurz hervorgehoben werden, was die in das Londoner Protokoll aufgenommene Arbeit des Komitees an Verbesserungen gegenüber dem Dawes-Bericht enthält.
Der Bericht hatte von der Auferlegung einer Kapitallast gesprochen, das Gesetz bringt „die Last der Verzinsung und Tilgung eines Betrages von insgesamt 5 Milliarden GM“, also nur eine Annuität. An die Stelle der Individualobligation des einzelnen Unternehmers und ihrer Übergabe an den Treuhänder tritt die interne Verpflichtung gegenüber der „Bank für deutsche Industrieobligationen“, die ihrerseits die zahlreichen Einzelbelastungen in auf ihren Namen lautende „Industriebonds“ von einheitlichem Typus zusammenfasst und diese dem Treuhänder übergibt. Das bedeutet einen Vorteil vom Standpunkt des deutschen Unternehmers, aber es bedeutet gleichzeitig auch für den Treuhänder eine sehr wesentliche Verbesserung seines Pfandes, da hinter den Industriebonds die die Leistung der Industrie konsolidierende Bank steht, und da ohnehin die Industrieobligationen kleinerer Werke auf dem Weltmarkt nicht unmittelbar, sondern nur nach Umwandlung in ein einheitliches Papier begebbar gewesen wären.
Allerdings ist ein völliger Verzicht auf die Verwertung des Kredites einzelner großer Unternehmungen nicht erreicht worden. Von den Betrieben, die nach der Reihenfolge des Vermögens geordnet die ersten 1500 Mill. GM der Belastung tragen, sind 750 Mill. GM Einzelobligationen auszustellen, und zwar für jedes Unternehmen nur bis zur Hälfte seiner Belastung, und dem Treuhänder unverzüglich zu übergeben. Diese Papiere stellen Kapitalverpflichtungen dar. Von ihnen darf der Treuhänder 500 Mill. veräußern, jedoch erst sechs Monate nach Übergabe. Die Veräußungsabsicht ist dem Unternehmer anzuzeigen und ihm während einer Frist von einem Monat Gelegenheit zum Rückkauf zu geben, wobei von ihm kein höherer Preis als der Nennwert der Obligation gefordert werden darf.
Die Industriebank kann vom 1. Januar 1937 an eine Gesamtkündigung der Anleihe vornehmen, so dass also der Weg für eine zukünftige Freimachung der Industrie von dieser dinglichen Schuld nicht versperrt ist. Der Dawes-Bericht hatte diese Möglichkeit noch nicht vorgesehen.
Durch die Einführung der Industriebank wird vor allem, abgesehen von den Individualobligationen, die ständige Neuverteilung der Last nach dem Maße des wirklichen Betriebsvermögens erleichtert. In Verbindung mit dem „AusführungsgeSetz“ wird gleichzeitig jener „angemessene und billige Ausgleich“ herbeigeführt werden können, den der Dawes-Bericht schon empfahl, und dessen Verwirklichung darauf abzielt, dass die industriellen Betriebsvermögen zwar Steuer- aber zunächst auch Steuerpfand sind, dass aber die Steuerleistung selbst aus dem Gesamteinkommen der Volkswirtschaft erbracht wird. Denn es verträgt sich nicht mit der Würde eines souveränen Staates, für eigene Verpflichtungen die Bürgschaft einzelner Gruppen von Staatsangehörigen in Anspruch zu nehmen und sich dieser gegenüber in die Lage des Schuldners zu bringen, an den eines Tages Gegenforderungen geltend gemacht werden können.
- 1 Zu diesem und dem Folgenden zu vergl. die ausgezeichnete Denkschrift: Die 5-Milliarden-Obligations-Belastung der deutschen Industrie in Veröffentlichungen des Reichsverbandes der deutschen Industrie, Heft 22, August 1924.