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Das Ereignis der letzten Monate ist die Tatsache, daß die „Schere“ sich soweit geschlossen hat, daß nunmehr ein gewisser Ausgleich zwischen den Preisen land­wirtschaftlicher Betriebsmittel einerseits und land­wirtschaftlicher Erzeugnisse andererseits erfolgt ist. Legt man jedenfalls die allgemeinen Indexziffern zugrunde, dann muß man zu dem Ergebnis kommen, daß trotz des in der letzten Zeit erfolgten Rückschlags am Getreidemarkt die „Schere“ im allgemeinen sich ziemlich weit geschlossen hat. Von landwirtschaftlicher Seite werden freilich andere Auffassungen vertreten, die schwer beweiskräftig gemacht werden können aus dem einfachen Grunde, weil es meines Wissens keine Spezialindexziffern und keine speziellen Berechnungen über die Budgets bäuerlicher oder überhaupt agrarischer Wirtschaften gibt. Nicht darauf kommt es so sehr an, daß die Preise landwirtschaftlicher Betriebsmittel einerseits und landwirtschaftlicher Erzeugnisse andererseits wieder im Friedensverhältnis stehen, sondern daß in der bäuerlichen Wirtschaft wieder ein Zustand herrscht, den ich als das „Gleichgewicht der Kaufkraft“ bezeichnen möchte. Die Angaben für landwirtschaftliche Betriebsmittel umfassen ja nur einen Teil des gesamten bäuerlichen Budgets. Zu ihnen treten die Ausgaben für reine Konsum­zwecke, soweit sie in Geld bezahlt werden müssen, und zu ihnen treten ferner die Teile des bäuerlichen Konsums, die dem Betrieb in der „Selbstversorgung“ selbst entnommen werden, die also aus den Kaufkraftschwankungen der Geldwirtschaft überhaupt ausscheiden. Um die Verschiebungen der land­wirtschaftlichen Kaufkraft­bilanz genau registrieren zu können, müßte man das bäuerliche Budget in diesen drei Teilen, oder zum mindesten in den ersten beiden Teilen, mit denen die bäuerliche Wirtschaft in die Geldwirtschaft hineinragt, beobachten können.

Wie dem auch sei, die Getreidezollprojekte stoßen zunehmend auf immer größeren Widerstand, seitdem die Agrarkrisis ein wesentlich anderes Gesicht durch den erwähnten Preis­ausgleich bekommen hat und seitdem sich — last not least — der Verein für Sozialpolitik gegen Agrarzölle wie gegen Zölle überhaupt ausgesprochen hat.

Die Bedenken gegen den Getreidezoll müssen sich verstärken, wenn man genauer abwägt, welche Rückwirkungen die Verteuerung der Lebensmittel gerade in Deutschland erzeugt. Was theoretisch für eine jede Getreide­preissteigerung gilt, gilt gleicherweise für jeden Getreidezoll und Fleischzoll. Da die Getreide­preissteigerung eine internationale Erscheinung ist, die sich durch den schlechten Ausfall der Welternte bedingt, so glaubt man vielfach, daß von den Rückwirkungen alle Weltindustrien gleichmäßig betroffen würden, daß also keine Verschiebungen der Konkurrenzfähigkeit eintreten würden. Die Auffassung ist aber verkehrt. Internationale Getreidepreissteigerungen und nationale Getreidezölle verschieben die internationale Konkurrenz­fähigkeit der nationalen Industrien nach einem bestimmten Gesetz, das sich in der Praxis natürlich niemals rein auswirken wird, weil es durch andere Tendenzen überkreuzt wird. Um das Ergebnis unserer Betrachtungen vorwegzunehmen: Jede internationale Steigerung der Lebensmittelpreise, jeder nationale Getreide- und Fleischzoll belastet die Produktionskosten einer Industrie eines Landes um so stärker, je niedriger das Lohnniveau des betreffenden Landes im Vergleich zu demjenigen anderer Länder liegt. Die Auswirkung von Getreidepreissteigerungen und Getreidezöllen ist ihrer Stärke nach umgekehrt proportional zur Lohnhöhe dieses Landes. Diese Fest­stellung hat selbst­verständlich nicht den Charakter eines mathematischen Gesetzes, sondern den einer wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeit, die sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Voraussetzungen mit mehr oder weniger großer Genauigkeit auswirkt. Die Zusammenhänge sind dabei die folgenden: Es ist eine irrige Auffassung, wenn man vielfach annimmt, das Lohnniveau der großen industrie­wirtschaftlichen Kulturstaaten sei das gleiche oder auch nur annähernd das gleiche. Lujo Brentano hat in seiner temperamentvollen Art auf diese Tatsache auf dem internationalen Kongreß für Sozialpolitik in Prag mit Recht hinweisen können: Ich will es unterlassen, mich auf Statistiken zu stützen, die sehr oft anfechtbar sind, die aber das eine der Tendenz nach zweifelsfrei beweisen, daß die Lohnhöhen in den verschiedenen Ländern gegenwärtig außerordentlich stark voneinander abweichen. In Amerika dürften beispielsweise die Löhne nicht nur nominell, sondern auch der Kaufkraft nach gerechnet, drei- bis viermal so hoch wie in Deutschland sein, wenigstens was die qualifizierte Arbeit anbelangt. Wenn man nun die Rückwirkungen feststellen will, die eine Getreide­preissteigerung (ebenso wie eine Verteuerung anderer Lebensmittel) auf die internationale Entwicklung der Löhne und damit auf die Gestaltung der industriellen Produktionskosten in den verschiedenen Ländern erzeugt, so muß man dabei zunächst von der Gestaltung des durchschnittlichen Haushaltungsbudgets des Arbeiters bzw. einer Arbeiterfamilie ausgehen. Die Statistik der Wirtschafts­rechnungen ist zwar sehr sporadisch; sie hat jedoch trotz ihres geringen Umfangs Gesichtspunkte geliefert, die eine Beantwortung dieses Problems ermöglichen. Nach den im Jahre 1907 vorgenommenen statistischen Berechnungen1. stellt sich beispielsweise die Verteilung der Ausgaben in den Budgets von 852 Haushaltungen wie folgt:

Nahrungs- und Genußmittel ............... 45,5 %
Heizung und Beleuchtung .................... 4,1 %
Kleidung, Wäsche, Reinigung ............ 12,6 %
Wohnung und Haushalt ..................... 18,0 %
Sonstiges ......................................... 19,8 %

Nach dem Kriege sind in Deutschland statistische Erhebungen auf Grund von Wirtschaftsrechnungen nur ganz vereinzelt, beispielsweise vom Statistischen Amt der Stadt Breslau, vorgenommen worden. Immerhin lehrt dieser Zweig der Konsum­statistik ebenso wie die Beobachtungen des täglichen Lebens, daß die Kosten des Ernährungsbedarfs bei steigendem Einkommen eine relativ sinkende Quote der Gesamtausgaben im Haushaltungs­budget ausmachen. In einer deutschen Arbeiter­familie dürften jetzt nach dem Kriege wegen des gesunkenen Reallohns durchschnittlich eine um mehrere Prozent höhere Quote für Ernährungskosten verausgabt werden, als wie sie 1907 mit 45,5 Prozent festgestellt werden konnte. In dem amerikanischen und englischen Arbeiterbudget ist der absolute Aufwand für Ernährungs­kosten wegen der höheren Reallöhne natürlich größer, aber prozentual gemessen an den Gesamtausgaben des Budgets kleiner als in Deutschland. Je höher der Reallohn eines Arbeiters ist, desto größer werden natürlich seine Aufwendungen für Bekleidung, für kulturelle Zwecke und derartige Ausgaben sein. Die Ernährungs­kosten sind eben überall der am wenigsten kompressible Teil der Ausgabenwirtschaft eines Industrie­arbeiters. Auf Verteuerungen unter dieser Rubrik reagiert der Arbeiter selbstverständlich am empfindlichsten, weil das diejenigen Ausgaben sind, die den Bestand des physischen Existenz­minimums berühren. Die Verteuerung der Ernährungs­kosten trifft den Haushalt des Industrie­arbeiters um so schärfer, je niedriger sein Reallohn und je höher damit der Anteil der Ernährungs­kosten an den Gesamt­ausgaben ist. Bei hohen Löhnen ergeben sich innerhalb des Gesamt­budgets des Arbeiters stärkere Kompensationsmöglichkeiten. Aus diesem Grunde übt eine Getreide­preissteigerung und damit die Verteuerung des Brotes in Amerika bei den hohen Löhnen eine ganz andere Wirkung aus als in Deutschland bei den jetzt herrschenden niedrigen Löhnen. In Amerika kann eine Steigerung der Ernährungs­kosten um einige Prozent verhältnismäßig leicht und wenig fühlbar kompensiert werden durch eine Reduktion an den Ausgaben für Bekleidung sowie für kulturelle und sonstige Zwecke. Diese Teile des Budgets sind sozusagen das elastische Futter, das die aus Preis­steigerungen der lebens­notwendigen Artikel des Ernährungsbedarfes resultierenden Stöße aufzufangen geeignet ist. Aus diesem Grunde brauchen Getreide­preis­steigerungen in Amerika und in England nicht im ähnlichen Umfang wie in Deutschland sofort Lohn­erhöhungen und damit eine Verteuerung der industriellen Produktions­kosten herbeizuführen. In Deutschland erschüttert, wie man jetzt in diesen Tagen beobachten kann, jede stärkere Verteuerung des Brotes, des Fleisches und der Milch gleichzeitig das gesamte Lohnniveau und damit die Stabilität der Industrie­wirtschaft, die, soweit sie in das System der internationalen Konkurrenz verwoben ist, wie keine andere auf stabile Kalkulations­grundlagen angewiesen ist. Ich möchte diesen Vorgang in eine Parallele stellen mit der Art der Preisbildung, wie sie vor dem Kriege und nach dem Kriege in Deutschland zu verzeichnen gewesen ist. Trotz stabiler Währung weisen die Preise in Deutschland bis zum Einzelhandel hinunter viel größere Schwankungen auf als in der Vorkriegszeit, aus dem einfachen Grunde, weil heute die elastische Panzerung fehlt, die die Stöße im Preisgebäude abzufangen und abzumildern geeignet ist. Es war früher insbesondere die Funktion des Großhandels, Risikoträger für die Preisbildung zu sein und volkswirtschaftlich eine gewisse Stabilität der Preisentwicklung zu gewährleisten. Heute, wo der Großhandel und die ihm direkt benachbarten Stufen der Verteiler­wirtschaft über eine viel schwächere Eigenkapitalbasis verfügen, ist die Fähigkeit, Risikoträger in dieser Art zu sein, bedeutend geschwächt — eine Tatsache, die sich darin auswirkt, daß der Großhandel einen Teil des Risikos, das er früher allein getragen hat, sofort dem Einzelhandel in Gestalt diverser Risikozuschläge aufbürdet. Ähnlich wie hier liegen die Verhältnisse in der Lohnwirtschaft. Hohe Löhne, die auch den Industriearbeiter befähigen, einen Teil des Risikos der Wirtschafts­entwicklung mitzutragen, ermöglichen eine gesunde und stabile Wirtschaft. Das deutsche Wirtschaftsgebäude ist nicht zuletzt deshalb so außerordentlich empfindlich und in seinen Organäußerungen so außerordentlich nervös, weil der Lohnempfänger nicht mehr wie früher ebenfalls Risikoträger der Wirtschaft, wenn auch im beschränkten Umfang, sein kann.

Am schärfsten muß die industrielle Wirtschaft auf Verteuerungen der Lebenshaltung reagieren. Wenn internationale Getreide­preis­steigerungen und nationale Zölle die Ernährungs­kosten verteuern, dann müssen die daraus entstehenden Lohnsteigerungen umso größer sein, je größer der Anteil der Ausgaben für Ernährung an den gesamten Haushaltungs­ausgaben der Industriearbeiter, d. h. je niedriger das Lohneinkommen ist. Angenommen, die Weltgetreidepreise und die Fleischpreise steigen um 20 %. Der absolut notwendige Ernährungs­bedarf, berechnet auf eine Mindestzahl von Kalorien, würde dadurch um 15 % verteuert. Dann müßten, um die Kaufkraft des Lohnes auf der bisherigen Höhe zu halten, die Löhne beispielsweise erhöht werden: in Deutschland um 10 %, in England um 6 %, in Amerika um 3 %. Diese Zahlen sind nur theoretisch angenommen. Sie veranschaulichen ein Schema, von dem nicht behauptet werden soll, daß es unbedingt zutrifft. Ein Getreidezoll, der einseitig in einem einzelnen Land eingeführt wird, muß sich nach diesem Schema auswirken. Er verteuert also die industriellen Produktionskosten umso stärker, je niedriger das Lohnniveau des betreffenden Landes ist. Steigende Getreidepreise oder Getreidezölle verschieben die industriellen Produktionskosten am stärksten zuungunsten desjenigen Landes, das das niedrigste Lohnniveau aufweist. Umso stärker ist die Verpflichtung einer Regierung eines solchen Landes, alles zu tun, um diesen verhängnisvollen Auswirkungen entgegenzuarbeiten. Die Einführung eines Getreidezolles wäre schlechthin unverantwortlich, weil sie heute die Industriewirtschaft aus den bezeichneten Gründen weit stärker trifft als in Friedenszeiten, wo höhere Reallöhne und eine steigende Prosperität in der gesamten Wirtschaft verschiedenartige Kompensations­möglichkeiten gewährleisteten.

  • 1 Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reich. 2. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt. Berlin, Carl Heymanns Verlag 1909.

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