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Noch fehlt uns der zeitliche Abstand, um ein abschließendes Urteil über das Lebenswerk des Mannes zu fällen, in dem das kommunistische Rußland seinen Genius, Schöpfer und Repräsentanten, das übrige Russentum den Vernichter des alten Staates und seiner Kulturgebilde zu erblicken glaubt. Erst wenn man erkennen wird, daß „Tatsachen doch mehr als nur Tatsachen, daß sie Wirkungen sind und Ursache werden, daß in ihnen Prinzipien sich vollzogen haben und verwirklicht sind“ — erst dann wird das rettende Werk des einsam despotischen Staatsmannes das mißlungene Experiment des populären Ideologen Lenin im Gedächtnis der Menschen weithin überragen. Bis dahin mag Lenin immerhin der Menge als der große Marxist gelten, der es unternommen hat, dem russischen Staatswesen die Struktur des Zukunftsstaates zu geben; der mit beharrlichster Energie an der russischen Wirtschaft so lange herumexperimentierte, bis sie ins Prokrustesbett einer zentralistischen Planwirtschaft hineinpaßte; der schließlich der materialistischen Geschichtsauffassung das fehlende Beweismaterial eines wirklich entscheidenden, großen Klassenkampfes zu liefern versuchte, indem er das Proletariat sich verbluten und ein neues Kleinbürgertum aufkommen ließ. Eine spätere Zeit wird sich an diesem großartigsten, gewalttätigsten und typischsten Literaten der Geschichte recht bald satt bewundert haben, — wie etwa die russische Gegenwart kaum zwölf Jahre nach dem Tode Tolstois sehr anders denkt, wie im November 1911, wo man den Moralisten Tolstoi für einen Religionsstifter vom Range Buddhas zu halten pflegte. Ist heute Tolstoi in seiner ganzen Bedingtheit als unklarer, im Tiefsten unfruchtbarer Zweifler erkannt, dessen Lehren ein Volk hart an den Abgrund stießen und keinerlei belebende Kräfte und geistige Auftriebe schufen, so widerfährt andrerseits seinem Künstlertum reineres Lob wie damals. Die Nachwelt urteilt nicht nach den Wünschen und Intentionen der großen Individualitäten, sondern nach der Beständigkeit des Werkes: wem fiele es ein, Cicero den Gefallen zu tun, ihn als großen Politiker und Retter des Vaterlandes zu preisen, während die Spur seines literarischen, ihm weit anspruchsloser erscheinenden Lebenswerkes den Jahrtausenden Bestand hält? Mit Lenin dürfte das Umgekehrte geschehen: dem Autor der parteipolitischen Broschüren, der Bücher über die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland, die russische Agrarfrage und Polemiker, wird die Nachwelt nur geringes Interesse zuwenden können, denn diese Schriften enthalten nicht viel anderes als was die marxistische Literatur auch sonst in zahlreichen Varianten aufzuweisen hätte. Der Nationalökonomie und der Soziologie ist durch dialektische Marxkommentare keine wesentliche Bereicherung beschert worden. Bedeutsam ist an Lenins Schrifttum nur die vollkommene, peinlich-genaue Übereinstimmung der hier entwickelten Lehren mit dem tatsächlichen Sozialisierungswerke des Präsidenten des Rates der Volkskommissare während der ersten Periode seiner praktisch-politischen Wirkungszeit von 1917—1919. Hier erweist es sich, wie buchstaben-gläubig, fanatisch-theoretisch, dogmatisch und wirklichkeitsfremd dieser merkwürdige Mann war, dessen „Kommunismus“ nur verständlich wird, wenn man sich immer wieder vergegenwärtigt, daß Lenin die entscheidende Zeit von seinem 30. bis zu seinem 47. Jahre (1900—1917) vorwiegend und seit 1907 sogar ausschließlich im Auslande im dumpfen Kreise russischer Emigranten zugebracht hat. Daß in dieser Zeit großartig wachsende Rußland, in dem immer neue Lebenskeime aufschossen, war ihm völlig fremd geworden; wie hätte man in den Kaffeehäusern Zürichs etwas von jener Wandlung vernehmen können, die sich infolge der Stolypinschen Agrarreform in den Köpfen des russischen Bauerntums vorzubereiten begann? Daher gewöhnten sich die revolutionären Literaten daran, das Wort für den Geist, die Theorie für die Natur und den Beweis für die Tat zu nehmen, um dann vom Augenblick der ersten Möglichkeit an, den Lehren getreu, Staat und Wirtschaft systematisch „von Grund aus“ umzubauen. Lenin hat hierbei, in methodischer Hinsicht, unwahrscheinlich Großartiges geleistet; er hat zu den Lehren Karl Marxens einen Kommentar geliefert, der aus wuchtigsten Quadersteinen der Wirklichkeit bestand. Völlig im Geiste eines Literaten, der die Natur der Dinge prinzipiell leugnet, hat er seine geniale Organisationskraft, seinen ungeheuerlichen Tatwillen dazu mißbraucht, eine Theorie beweisen zu wollen. Wäre es nur dabei geblieben! Aber das Schicksal hat es so gefügt, daß diese Riesenleistung abstrakter Konstruktionen keinen harmlos ungefährlichen babylonischen Turmbau, sondern eine soziale Revolution erzeugten, die mongolische Schädelpyramiden zur Voraussetzung hatte. Lenin hat als ein zweiter schulmeisterlicher Henker vor nichts Halt gemacht, um nur ja eine regelrecht funktionierende Diktatur der Organisation, d. h. eine Gesellschaft zu erzeugen, die „ein Bureau und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn“ darstellt, in der „alle Bürger Angestellte und Arbeiter eines Staatssyndikates des gesamten Volkes“ geworden sind. Gewiß wird es ihn dabei gestört haben, die Funktionen eines Terroristen mit seinen großzügigen Planungen vermischen, nicht nur den Vorbereitungen zur Elektrifizierung jedes russischen Dorfes, sondern auch der Organisation der „Tscheka“ seine Aufmerksamkeit widmen zu müssen. Das von ihm oft wiederholte russische Sprichwort: Wo man hobelt, da fliegen Späne, dürfte ihn über diese peinliche Korrekturarbeit am realistischsten Druckwerke aller Zeiten hinweggeholfen haben. So zerbrach er denn unbekümmert alle Widerstände und schuf sein lückenloses Werk — das leider nur an der Natur der Dinge zerbrach. Denn da „alles“ erfaßt werden konnte, alle Vorarbeiten fertig waren, der Sozialisierungsapparat sich über ganz Rußland erstreckte, kein Stein mehr in der Maschine lag — da waren die Vorräte des Kapitalismus aufgezehrt, da konnte nichts mehr produziert, noch weniger erfaßt und nichts mehr expropriiert werden. Der Apparat lief leer. Der alte Staat war zertrümmert, an seiner Statt stand aber kein Organismus, sondern nur noch eine entseelte Organisation. Die geplante Realisierung des Marxismus hatte die Theorie ad absurdum geführt; der Beweis war zu einer schlagenden Wiederlegung des marxistischen Kommunismus geworden. Die wahrhaft ungeheuere praktische Leistung des Umstürzlers, Agitators und Revolutionären, die Arbeit des Parteiführers, Organisators und Diktators wurde vom Zusammenbruch des gedanklichen Werkes des Marxisten Lenin mit dem Untergange bedroht; das verfehlte Ziel schien das Mittel unmöglich gemacht zu haben; der Proletarierstaat Sowjetrußland war durch den ökonomischen Kommunismus in seiner Existenz gefährdet worden.

Da aber, zu Beginn des Jahres 1921, erwies es sich — zum Heile Rußlands —, daß Wladimir Iljitsch doch nicht nur ein Doktrinär und Literat, sondern auch ein Staatsmann großen Stiles war. In diesem schicksalhaften Augenblick vollzog sich im Innern dieses einsamen, rätselhaft verschlossenen Mannes eine unbegreifliche Wandlung. Ohne daß irgendwelche Anzeichen für eine radikale Sinnesänderung gesprochen hätten, erhob sich der Prophet des Kommunismus zu neuer, wahrhaft imponierender Größe, indem er brüsk und gewaltsam das Steuer umwarf. Lenin opferte den Kommunismus, um den Sowjetstaat zu retten. Als Tatmensch reinsten, ungehemmtesten Willens verzichtete er jetzt auf umständliche Motivierungen, überflüssige Kommentare. In unübertrefflicher Klarheit erklärte er, man habe sich geirrt; es sei ein furchtbarer Fehler gewesen, in Rußland den Sozialismus realisieren zu wollen; es müsse mit diesen Fehlern sofort aufgeräumt werden. Wer es nicht einsehen wolle, daß der Sowjetstaat nur gerettet werden könne, wenn man den privatkapitalistisch-kleinbürgerlich gesinnten Bauern sofort entgegenkomme, sei ein Feind des Staates und müsse vernichtet werden; wer fortan noch sozialisieren wolle, sei ein Narr oder schlimmeres; jeder Kommunist müsse fortan auf die Politik verzichten und Geschäftsmann werden; es gelte, zerbrochene Lokomotiven auszubessern und nicht den Marxismus zu diskutieren.

Wie von Anbeginn seiner praktisch revolutionären Wirksamkeit an, erreichte Lenin, was er wollte; ihm einzig und allein ist die entscheidende Novemberrevolution des Jahres 1917 und der Entschluß zum Frieden von Brest zu verdanken. Auch diesmal siegte sein Wille; widerspruchslos verließ das Volk die tosenden Betriebsräteversammlungen, kommunistischen Keimzellen, Konferenzsäle und Debattierklubs und ging an die Arbeit der Aufräumung der selbstgeschaffenen Ruinen. Die neue ökonomische Politik erwies sich wirklich als eine Produktionsdemokratie, denn nunmehr erwachte im russischen Volke die Fähigkeit freiwilliger Unter- und Einordnung, erwachten die Arbeitsintensität des Erwerbstriebes und der Ekel am Wort und der revolutionären Phrase. Der Staat war gerettet — der neue Weg gewiesen, die Epoche der sozialen Experimente überstanden, die Politik vom Ballast der Theorie und die Wirtschaft vom Zwange des Dogmas befreit. Die Natur der Dinge kam wieder vorbildlich und beispielgebend für alle anderen Völker zum Recht. Lenin ging hierbei womöglich noch gewalttätiger vor wie ehedem, denn kannte er früher keine Schonung seiner Gegner, so nahm er jetzt keinerlei Rücksichten auf seine Anhänger. Der Leninismus des neuen Kurses setzte sich denn auch aller ungeheuerlichen Widerstände ungeachtet durch; in wenigen Jahren ist Rußland wieder zu einem staatskapitalistischen Staatswesen, mit einer täglich erstarkenden neuen Bourgeoisie, einem wachsenden Kapital, einer dezimierten, entrechteten Arbeiterschaft und einem das Land als sein Privateigentum bearbeitenden Bauerntum geworden.

Mit dieser Preisgabe des Endzieles, der Idee und des Dogmas hat Lenin seine eigentliche, seine politische Schöpfung, den von proletarischer Gesinnung erfüllten, neuartigen, national-russischen, machtpolitisch fundierten Sowjetstaat erhalten. Dem Realpolitiker gelang, was dem Literaten mißglückte. Lenin, der Vernichter der Tradition, verband das neue Rußland durch das politische Band der nationalen Interessen erneut mit dem alten Reiche; die Kontinuität ist wiederhergestellt. Jetzt gilt es nur noch, die natürlich sich ergebenden Krisen der Wirtschaft (die an sich gewiß schwer genug sind) zu überwinden, die Beziehung zur Weltwirtschaft und Gemeinschaft der Nationen wiederherzustellen, das politische System des Sowjetismus mit dem ökonomischen der kapitalistischen Wirtschaft in Einklang zu bringen. Ob dies gelingen wird, seit Lenins zarische Autorität den Kommissaren fehlt, muß abgewartet werden; da der Diktator sein Werk aber nicht primär in der Masse, sondern in der aristokratischen Oligarchenherrschaft seiner Mitarbeiter verankerte, so hat er seinerseits das Möglichste getan. Rußland ist von ihm an den Rand des Chaos gestoßen, aber auch wieder zurückgerissen und gefestigt, der furchtbare Umweg geschichtlicher Entwicklung gesühnt worden durch die erstaunlichen Impulse der Aktivität, die dieser seit Peter dem Großen willensstärkste, unbedingteste Russe seinem Volke eingeflößt hat. Die dostojewskische Leidensermattung und die tolstoische Schwäche scheinen überwunden, Rußland durch Lenin der Tat zugewandt worden — dies allerdings mit dem Opfer einer Preisgabe des Anspruches, die Menschheit und das Proletariat führen und erlösen zu können.

Dr. Hans von Eckardt

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