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Nach der Währungsstabilisierung zeigte es sich, daß die so hochentwickelte, in den letzten Jahren erheblich weiter ausgebaute vertikale Konzentration in der Eisen- und Stahlindustrie keinen Schutz gegen Absatzstockungen und Preisunterbietungen gewährt. Eine Kartell­organisation fehlte hier gänzlich, nachdem es im Jahre 1920, infolge der Neu­gruppierungen und Kräfte­verschiebungen in der Industrie, zur Auflösung des Stahlwerk­verbandes gekommen war. Die seit jenem Zeitpunkt ständig in der Schwebe befindlichen Verhandlungen über die Neubildung des Syndikats kamen erst zu einem Abschluß, als auf dem Stahlmarkt eine ausgesprochene Preiskrise entstanden war. In den letzten Monaten fiel der Preis für Stabeisen auf 105 RM je Tonne – gegenüber einem Durchschnitts­preis von 110 RM während der zehn Vorkriegsjahre 1904/13. Dieser den augenblicklichen allgemeinen Preis­verhältnissen keineswegs entsprechende Preisstand war also offenbar auf Schleuder­konkurrenz zurückzuführen, was seine Bestätigung in der Tatsache findet, daß es gelungen war, die Stahl­produktion im verkleinerten deutschen Reichsgebiet ungefähr auf die Höhe der Vorkriegs­produktion zu bringen. Hierzu kam erschwerend einerseits die verringerte Aufnahmefähigkeit des Inlandsmarktes gegenüber der Vorkriegszeit, andererseits aber auch eine erhebliche Ausdehnung der Stahl­produktion im Ausland. Es erweist sich daraus, daß die Konzern­bildung den horizontalen Zusammen­schluß keineswegs ganz überflüssig macht, und diese Erkenntnis führte dann auch in erster Linie zur Gründung der „Deutschen Rohstahl­gemeinschaft“, die am 1. November durchgeführt wurde. Die kurz vorher erfolgte Zwangsgründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlen­syndikats (jetzt „Ruhrkohle“) hatte auf das Zustande­kommen des Nachbarverbandes einen großen Einfluß.

Die Rohstahl­gemeinschaft betrachtet es als ihre Aufgabe, die gesamte Rohstahlerzeugung des Inlandes den jeweiligen Bedürfnissen des Marktes anzupassen, mit andern Worten, etwa bestehende Miß­verhältnisse zwischen Angebot und Nachfrage durch Einengung resp. Erweiterung der Produktion auszugleichen. Bemerkenswert ist, daß der Kreis der Mitglieder im wesentlichen größer ist als der des alten Stahlwerks­verbandes. Einmal umfaßt er alle Stahl­produzenten des Inlandes1; Wichtiger ist jedoch die Tatsache, daß die gesamte deutsche Stahlerzeugung ohne Rücksicht auf die Herstellungs­methode und die Gestalt der Einzel­ergebnisse erfaßt wird. Nach dem Gemeinschafts­vertrag versteht man unter Rohstahl Halbzeug, Eisenbahn-Oberbaumaterial, Formeisen, Stabeisen, Walzdraht, Bleche, Röhren, Guß- und Schmiedestücke, hergestellt nach dem Thomas-, Bessemer-, Siemens-, Martin-, Tiegel-, Elektro- oder irgendeinem anderen Verfahren. Durch Einführung der Klausel „irgendein anderes Verfahren“ will man offenbar vermeiden, daß bei etwaigen technischen Fortschritten resp. bei der Einführung eines neuen Verfahrens die Produktion dem Bereich der Rohstahl­gemeinschaft entzogen wird, wie man es in früheren Zeiten erlebt hatte.

Im alten Stahlwerks­verband kam die Kartellierung nur für die sogenannten A-Produkte zustande, da die Siemens-Martin-Werke und die reinen Walz­werke nicht Mitglieder des Verbandes wurden. Für die B-Produkte kam es nicht zu einer Kontingentierung, sondern lediglich zu ganz losen Preis­vereinbarungen. Da die gemischten Werke, aus denen der Stahlwerks­verband sich ausschließlich zusammensetzte, hinsichtlich der Erzeugung der A-Produkte eng beschränkt waren, wandten sie ihre Ausdehnungs­bestrebungen mit der Zeit mehr und mehr den B-Produkten zu. Hierdurch entstanden Verschiebungen in der Produktions­weise, an die man bei der Gründung des Stahlwerks­verbandes nicht gedacht hatte.

Die Maßnahmen der Rohstahl­gemeinschaft zwecks Minderung des Miß­verhältnisses zwischen Angebot und Nachfrage, und daran anschließend zwecks Beeinflussung des Preisniveaus, unterscheiden sich ebenfalls grundlegend von denen des alten Stahlwerks­verbandes wie überhaupt der anderen zurzeit bestehenden großen Kartelle und lassen die Gemeinschaft geradezu als einen Verband sui generis erscheinen. Während die großen Kartelle grundsätzlich ihr Hauptaugenmerk auf die Preisfestsetzung lenken und ihrer genossen­schaftlichen Organisation entsprechend Rücksicht auf die am teuersten produzierenden Mitglieder nehmen müssen, vermeidet die Rohstahl­gemeinschaft die sich aus diesem Zwange, zumal in Zeiten schlechter Absatz­verhältnisse, ergebenden (durch die Kämpfe innerhalb des Kohlen­syndikats hinreichend bekannten) inneren Gegensätze und beschränkt sich auf die Kontingentierung der Produktion. Damit fällt notwendiger­weise auch ein gemeinsamer Vertrieb fort.

Hiermit wendet sich die Rohstahl­gemeinschaft grundsätzlich von der bisher üblichen Kartellpolitik, die letzten Endes auf eine Preis­hoch­haltung hinausläuft, ab und stellt sich in den Dienst der notwendigen Verbilligung der Produktion. Denn dadurch, daß die Preis­gestaltung den einzelnen Werken überlassen bleibt, die Konkurrenz also lediglich hinsichtlich der Menge, d. h. des Angebots, nicht jedoch der Preishöhe eingeengt ist, bleibt es den einzelnen Unternehmungen unbenommen, durch Produktions­verbilligungen auf technischem und organisatorischem Wege und durch entsprechende Preis­herab­setzungen im Rahmen ihres Kontingents eine Vermehrung ihres Absatzes herbeizuführen.

Eine indirekte Beeinflussung der Preishöhe seitens der Rohstahl­gemeinschaft ist in der Möglichkeit zu sehen, durch Einengung resp. Ausdehnung der Produktion einen Einfluß auf die Preis­gestaltung am Markte zu erhalten. Nicht ohne Gefahr ist dieses Verfahren dann, wenn der Verband (im Schutze eines etwaigen hohen Zolls) dazu übergehen sollte, durch Kontingentierung über das notwendige Maß hinaus eine künstliche Verknappung und damit eine Verteuerung herbei­zuführen, eine Gefahr, die jedoch weniger groß erscheint, wenn man bedenkt, daß – abgesehen davon, daß die Zollfrage noch im dunklen bleibt – die Rohstoff­gemeinschaft es sich zur Aufgabe gesetzt hat, das Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage nicht nur durch Beeinflussung der Angebotsseite, sondern auch der Nachfrage­seite, d. h. im Augenblick durch Steigerung der Nachfrage, zu vermindern. Hiernach muß der Mißbrauch der Kontingentierung wenigstens für die nächsten Zeiten als unwahrscheinlich gelten, zumal wenn man bedenkt, daß die schlechten Erfahrungen, die man in anderen Kartellen mit der Festsetzung der Preise gemacht hat, bei der Gründung der Rohstahl­gemeinschaft grundsätzlich zur Abkehr von jeglicher Preispolitik führte.

Nachdem die wichtigste Frage, nämlich die der Anpassung der deutschen Rohstahl­erzeugung an die Bedürfnisse des Marktes, gelöst ist, sind die Stahlerzeuger nunmehr zusammen­getreten, um Verhandlungen über die Kontingentierung der Produktion in den einzelnen Zweigen der deutschen Stahlerzeugung zu führen. Die Tatsache, daß bisher die Verhandlungen mit wenigen Ausnahmen noch immer im Anfangs­stadium stehen, zeigt deutlich, daß hier noch Schwierigkeiten mancher Art zu überwinden sind. Denn ein Zusammen­schluß in Spezial­verbänden bringt notwendigerweise eine weitere Beschränkung der Bewegungs­freiheit der Mitglieder mit sich. Insbesondere wird den Konzern­unternehmen, wenn in jedem Zweig der Rohstahlindustrie die Produktionsmenge der Mitglieder festgesetzt ist, die Möglichkeit genommen, entsprechend der jeweiligen Marktlage im Rahmen ihres Gesamt­kontingents sich mehr dem einen oder dem anderen Produkt zuzuwenden. Immerhin dürften die Schwierigkeiten zu überwinden sein angesichts der Tatsache, daß ja über das Gesamtproblem eine Einigung erzielt ist.

Abschließend kann gesagt werden, daß die Gründung der Rohstahl­gemeinschaft einen wichtigen Abschnitt innerhalb des industriellen Organisations­wesens Deutschlands darstellt. Wir treten nach der Periode der sog. Kartelldämmerung nunmehr offenbar in eine Ära einer neuen reformatorischen Kartell­bewegung ein; denn es ist zu erwarten – und Reform­vorschläge, von denen man aus anderen Industrien hört, bestätigen die Vermutung –, daß diese neue Kartellform schon bald in anderen Gewerbe­zweigen, die unter derselben Schleuderkonkurrenz zu leiden haben, nachgeahmt werden wird.

  • 1 Die Jahresbeteiligungsziffern lauten: Fried. Krupp A.-G. 1 580 640 t; Phönix 1 580 640 t; Thyssen 1 580 640 t; Deutsch-Luxemburg 1 005 640 t; Rhein. Stahlwerke 940 800 t; Gutehoffnungshütte 911 892 t; Klöcknerwerke 787 808 t; Stahlwerk Hoesch  A.-G. 746 616 t; Ilseder Hütte 542 928 t; Bochumer Verein 470 000 t; Linke-Hofmann 365 174 t; Maximilian 353 532 t; Mannesmann Röhrenwerke 335 980 t; Oberschlesische Eisenindustrie 324 324 t; Rombacher Hüttenwerk 230 208 t; Eisenwerk Krafft 228 000 t; Stahlwerke van der Zypen & Wissen 221 916 t; Henschel, Abteilung Heinrichshütte 207 912 t; Gußstahlwerk Witten 174 000 t; Geisweider Eisenwerk 143 660 t; Gelsenkirchener Bergwerks-A.-G. 104 000 t; Charlottenhütte 100 270 t; Eisenwerk Thale 99 300 t; Borsigwerke 98 160 t; Bremer Hütte 86 000 t; Rheinmetall 82 212 t; Friedrichshütte Wenbach 80 000 t; Westfälische Eisen- und Drahtwerke 70 800 t; Menden & Schwerte Eisenhütte 60 720 t; Eisenhütte Holstein 60 270 t; Oberschlesische Eisenbahnbedarfs-A.-G. 57 000 t.

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