Die Volkswirtschaftslehre ist, soweit sie den Charakter einer ernsthaften Wissenschaft erstrebt, weniger eine Lehre von Quantitäten, als von Funktionen. Sie macht keine Aussagen über Gewichtsmengen und Warenpreise, sondern benutzt vielmehr ihrerseits diese der Erfahrung zu entnehmenden Daten, um ihre Betrachtungen über gegenseitige Abhängigkeiten in den Verhältnissen des Güterverkehrs daran zu knüpfen.
Deshalb können auch Gedanken, die den wirtschaftlichen Ereignissen der Zukunft vorausspüren möchten, niemals eine zuverlässige Prognose über die Preise und Umsatzmengen von Gütergesamtheiten sein, sondern nur die allgemeinen formalen Bedingungen zeigen, unter denen sich bestimmte Vorgänge, wenn überhaupt, verwirklichen können. Gleichwohl sind auch die Bestrebungen, sich über die meßbaren Größen des Güterverkehrs ein Vorwissen zu verschaffen, nicht wertlos. Da jegliche Konjunkturprognose jedoch vom Augenblick ihrer Bekanntgabe an psychisches Material für neue Entschlüsse wird, die ohne diese Prognose gefaßt waren, wodurch alsbald die Voraussetzungen eben dieser Prognose sich verändern, so liegt ihre Bedeutung einstweilen nicht darin, das wirklich Kommende zu prophezeien, sondern jenen, die in die Zukunft planen müssen, geordnetere Daten einer Urteilsbildung in die Hand zu geben. Daraus mag in langsamer Entwicklung eine richtige Voraussage der Zukunft entstehen, allerdings nicht, weil ihr Dunkel durchschaut wird, sondern weil man die Grundlagen des Kommenden, die heute in gegenseitiger Fremdheit voneinander verlaufenden Motivationen der Wirtschaftenden, durch Ausrichtung auf ein gemeinsam geglaubtes Ziel gleichsam parallel kämmt.
Solcher auf künftige Zahlen hinweisende Blick in die Zukunft des deutschen Außenhandels ist hier nicht beabsichtigt, zumal dieser eine nach Einfuhr und Ausfuhr ebenso komplexe Größe ist wie der sogenannte Weltmarkt, der weder als geographische noch als wirtschaftlich quantitativ bestimmte Einheit vorhanden ist. Alle Umsätze im zwischenstaatlichen Verkehr sind prinzipiell der gleichen Ausdehnung oder Einengung unterworfen wie die volkswirtschaftliche Produktion, deren Umfang innerhalb der durch Naturbedingungen geschaffenen Möglichkeiten in hohem Grade eine Frage der Entscheidung, des wirtschaftlichen Willens, ist.
Keinem Volke der Welt ist dieser Zusammenhang sichtbarer gemacht worden als den Deutschen. Die über die Bevölkerungsverminderung weit hinausgehende Einschränkung seiner produktiven Kräfte, insbesondere der abzubauenden Bodenschätze, hat den Charakter Deutschlands als eines exportierenden Industriestaates mit starker, wenn auch nicht ausreichender Agrarwirtschaft, nicht grundsätzlich verändert. Die neuen Daseinsbedingungen haben jedoch einem Faktor noch größere Bedeutung als zuvor gegeben: dem formenden Element, das in jeglicher Art der Arbeit, von der einfachsten Betätigung am sichtbaren Objekt bis zur kühn gespannten Planung des Unternehmenden, enthalten ist.
Schon die Fortnahme der Bodenschätze und agrarischer Überschußgebiete würde Deutschland nötigen, zur Bezahlung unerläßlicher Einfuhr die Warenausfuhr beträchtlich zu steigern. Dieser wirtschaftliche Zwang ist aber durch den politischen der Reparationspflichten noch verschärft: Es sollen im Reparationsjahr 1925/26 Werte in Höhe von 1220 Mill. M und ab 1928/29 regelmäßig in Höhe von 2500 Mill. M auf ausländische Besitzer ohne Gegenleistungen durch irgendeine Einfuhr übertragen werden. Die Schwierigkeiten der Transferierung kommen zunächst nicht in Frage. Deutschland muß in der Tat versuchen, einen Ausfuhrüberschuß von 2 Milliarden zu erzielen, und zwar nicht als auswärtige Kapitalanlage, sondern als Kontribution.
Diese Natur der Zahlung ist freilich primär nur eine Aufgabe der Steuerpolitik, nicht der Volkswirtschaft; sie bedeutet, daß der Staat dem Einkommen des Einzelnen mehr entziehen muß, als in irgendeinem anderen Staate, und daß er das Steueraufkommen insoweit nicht zu öffentlichen werbenden Anlagen verwenden darf.
Aber gleichwohl ergeben sich auch für die Politik der Volkswirtschaft sehr bestimmte Folgerungen, selbst dann, wenn die Erzielung jenes im Dawes-Gutachten vorgesehenen Ausfuhrüberschusses nicht für möglich gehalten werden sollte.
Deutschland hat etwas von der an sich gesunden, für die Verwurzelung der Volkskraft wesentlichen vegetativen Schwere eingebüßt und ist gleichzeitig vor eine Aufgabe gestellt, die stärkste Entwicklung der von Materie unbelasteten Energiequellen verlangt. Die Wirtschaft muß deshalb auch das Organische künftig rationaler behandeln; selbst der Boden muß, frei von aller Romantik, wie eine Maschine betrachtet werden. So ist die Möglichkeit des Exports hochwertiger Agrarerzeugnisse ernsthaft ins Auge zu fassen. Solche Verpflichtung, den Arbeitsprozeß überall mit höchster intellektueller Kälte durchzuführen, ist gewiß als Dauerform für das Dasein eines Kulturvolkes nicht erwünscht; die Gefahr des Raubbaues an allen Kräften steht dahinter.
Als Übergang aber zu wirklicher Freiheit scheint es das Notwendige, Deutschland mit vollem Bewußtsein in alle weltwirtschaftlichen Verbindungen wieder einzuschalten, es vorübergehend gleichsam in die klare Luft eines abstrakten, rein ökonomischen Wirtschaftskalküls zu stellen, um alle unsachlichen Kostenelemente aus seinem Produktionsapparat herauszutreiben.
Diese Umstellung der Wirtschaft auf einen – idealtypisch gesehen – Höchstleistungsbetrieb erfordert, daß dem Druck auf die Warenausfuhr möglichst Freiheit der Wareneinfuhr entspricht. Für Monopolpositionen, wie sie durch Zölle potentiell geschaffen, durch geschickte Kartellierungen nahezu völlig ausgenutzt werden können, ist in der deutschen Wirtschaft einstweilen kein Raum. Die gegebene zollpolitische Lage mag als Ausgang für handelsvertragliche Verhandlungen bestehen bleiben, dagegen würde ein Verlangen nach Zollerhöhungen von Seiten irgendeiner Industrie bedeuten, daß sie sich gegenüber dem Leistungsanspruch der gegenwärtigen Lage Deutschlands unzulänglich fühlt und inmitten der allgemeinen Verpflichtungen auf Kosten der Gesamtheit eine bequeme Ruhestellung zu beziehen wünscht. Die gegenwärtigen Industriezollsätze mögen, unter Berücksichtigung der gestiegenen Weltmarktpreise, als eine Fiskalzölle sich annähernde Form der Steuererhebung betrachtet werden. Neue und höhere Zölle würden die schon in ihnen enthaltene Tendenz der Zuweisung des volkswirtschaftlichen Arbeitsertrages an einzelne Produzentengruppen verstärken, da bei der zurückgegangenen Bedeutung Deutschlands im internationalen Handel der ausländische Anbieter der übermäßig geschützten Ware weniger leicht zum Preisnachlaß gezwungen werden kann; der Zoll wird also in aller Regel ganz im Inlandspreis erscheinen, namentlich dann, wenn eine inländische Produktionsmöglichkeit durch die Knappheit ihrer natürlichen Basis oder durch kartellmäßige Mittel eingeschränkt ist.
Bewegungsfreiheit in der Heranziehung von Waren aus dem Ausland ist notwendig, da Ein- und Ausfuhr nicht getrennte Abteilungen der Volkswirtschaft sind, vielmehr fast alle Preise von Einfuhrwaren irgendwie Kostenelemente der Ausfuhr sind, und deshalb von allen Verteuerungen frei bleiben müssen, die nicht als eine Form der Besteuerung alle Einkommen relativ gleich und absolut gerecht belasten.
Es braucht nicht näher dargelegt zu werden, daß diese Anschauungen bei der gegebenen Preislage für landwirtschaftliche Erzeugnisse zur Ablehnung von Agrarzöllen führen, sogar zu der Hoffnung, daß einem Teil der küstennahen deutschen Landwirtschaft eine ähnliche Entwicklung zum Export gelingen möge, wie der Dänemarks, Hollands und Belgiens.
Die Annahme einer Handelspolitik, die mit mäßigen Zollsätzen unter Freilassung der Nahrungsmittel, und durch Abschluß von Verträgen mit uneingeschränkter gegenseitiger Meistbegünstigung auf einen, wenn auch wehrhaft bleibenden, Freihandel abzielt, bedarf wirtschafts- und steuerpolitischer Ergänzungen.
Als Erstes wird man auf die Notwendigkeit verweisen müssen, auch die letzten Hemmungen des Warenverkehrs in Form von Verboten und besonderen Erlaubnissen zu beseitigen, und zwar möglichst noch vor der sechsmonatigen Frist, deren Lauf mit der Ratifikation des deutsch-englischen Handelsvertrags beginnt.
Ein weiteres wichtiges Erfordernis ist die Rationalisierung der inneren Verwaltung und die stärkste Einschränkung der Ansprüche, die der Staat aus irgendwelchen Rechtstiteln an die Ergebnisse der Wirtschaft zu stellen hat. Denn alles Kapital muß zur Durchführung einer besseren Betriebsorganisation verwendet werden, die vor allem menschliche Arbeit auf wesentlich zweckmäßigere Weise mit maschinellen Einrichtungen verbindet, als dies bisher geschehen konnte. Das kann niemals die Preisgabe der menschlichen Arbeitskraft zu schrankenloser Ausbeutung bedeuten, da es für eine mehr auf funktionale Energie als auf substantiellen Reichtum gestellte Volkswirtschaft wie die deutsche nur eine einzige Form „billiger Arbeit“ gibt: das ist der mit einem anständigen Anteil am Arbeitsertrag beteiligte, aus innerer Willensübereinstimmung in den Gesamtprozeß der Wirtschaft eingeordnete Mitarbeiter.
Die Exportfähigkeit eines Landes hängt, wenn überhaupt allgemeine Voraussetzungen gegeben sind, weder von Zoll- noch von Lohnsachbruchteilen ab, sondern von dem wirtschaftlichen Tempo. Entscheidend ist, bis zu welcher Tiefe der Schichten die Kräfte, sei es der objektiven, sei es der menschlichen Natur, vom Arbeitswillen erfaßt werden. Jedes Volk ist frei, sein nationales Minimum selbst zu bestimmen und also auch bei hohem Verbrauch noch exportfähig zu sein, sofern nur die Steigerung der Lebensansprüche mit einer Steigerung der Produktionswucht Schritt hält.
Deutschland befindet sich in der besonderen Lage, seine Produktionswucht zunächst für die Ansprüche anderer steigern zu müssen. Das Problem wird dadurch seelisch, aber, soweit die Leistungserwartungen nicht das technisch Mögliche überschreiten, nicht volkswirtschaftlich komplizierter, da die Lebenshaltung auch im Zusammenhang mit der Reparationspflicht nicht unter das menschlich Würdige herabsinken darf.
Innerhalb dieser Grenzen – stärkster Warenausfuhr bei stärkster Energieentfaltung und dennoch gleichzeitiger Erhaltung des deutschen Menschentums – liegt der Weg zur Befreiung Deutschlands von fremder Abhängigkeit. Ob es vom Ausland klug war, einem Volke das Problem zu stellen, sich bis zum Höchstmaß wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu entfalten, bleibe unbeantwortet.
Solange es aber in Form der Reparationen gestellt ist, muß Deutschland jede Bindung an internationale Arbeitszeitabmachungen verweigern, ganz besonders solche, nach denen die Arbeitszeit nur für einzelne Produktionsprozesse festgelegt werden soll. Eine Gleichheit der Konkurrenzbedingungen kann dadurch nie geschaffen werden, weil jeder also gehemmte Produktionsvorgang offene oder versteckte Subsidien aus anderen frei ausnutzbaren Wirtschaftszweigen beziehen kann, mit denen er sich verbindet.
Auch auf dem Gebiete der internationalen Sozialpolitik muß Deutschland sich der schweren und verpflichtenden Sonderstellung bewußt bleiben, die es einstweilen noch in der Weltarbeit einnimmt. In der verbissenen Verwirklichung der ihm gestellten Aufgabe innerhalb der weltwirtschaftlichen Zusammenhänge liegt einer der möglichen Wege zu jenem Reich der Freiheit, in dem die Ökonomie sich in der Rolle der Dienerin höherer Lebenswerte zu bescheiden hat.