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Seit einem Jahr erscheint in dem mit ihr zugleich gegründeten Verlag von Kurt Vowinckel, Berlin-Grunewald, die »Zeitschrift für Geopolitik«, herausgegeben von einem Kreis jüngerer Geographen unter Führung Karl Haushofers, eines Süddeutschen, der nach einer Tradition, welcher die Namen Roons und Moltkes angehören, die Eigenschaften eines Offiziers mit denen eines wissenschaftlichen Erforschers des Staatsraumes vereinigt. Die Anregung zu dieser publizistischen Unternehmung ging von Kurt Vowinckel selbst aus, einem jungen Rheinländer mit unternehmender Phantasie und einem sicheren Gefühl für den Formwert gedruckter Kundgebungen. Vom ersten Prospekt der Zeitschrift bis zur jüngsten Buchveröffentlichung des Verlags ist alles das Musterbild von Dingen, die durch sich selbst werben, ohne auch nur im mindesten in die Nähe des peinlichen Begriffes der Propaganda gerückt zu sein – Zeugnis zugleich von sachlich-deutscher Arbeit und reinem, offenem Weltsinn.

Über vier für die Ziele des Unternehmens aufschlußreiche Bücher soll hier berichtet werden. In der Sammlung »Der Weltenbummler«, die durch Schilderungen von Reisen und Abenteuern in die wirkliche Kenntnis fremder Länder einführen will, erschien eine Übertragung des Werkes von Haardt und Audouin-Dubreuil »La première traversée du Sahara en automobile«1. Im Winter 1922-1923 gelang es mit Hilfe eines nach jahrelangen Versuchen von André Citroën gebauten Raupenautomobils, die Sahara von Tuggurt nach Timbuktu zu durchqueren. Die rund 3500 Kilometer lange Strecke wurde von der Expedition, ohne daß auch nur einem einzigen ihrer fünf Wagen ein nennenswerter Unfall zugestoßen wäre, in 20 Tagen durchfahren; auch die Rückfahrt wurde ohne Zwischenfall, jedoch durch beabsichtigte Aufenthalte unterbrochen, durchgeführt. Eine Karawane von Lastkamelen, die jedes mit höchstens 150 kg beladen werden dürfen, benötigt sechs bis sieben Monate für den gleichen Weg, der auf Reitkamelen ohne andere Nutzlast als den knapp bemessenen Bedarf des Reiters in acht bis zehn Wochen zurückgelegt werden kann.

Der Wert des Unternehmens für die intensivere Herrschaft über den Raum des nordafrikanischen Kolonialreiches Frankreichs ist also offenkundig. Die Leistung ist ein ausgezeichnetes Beispiel der Verwirklichung einer geopolitischen Aufgabe. Sie ist überdies auch für den besonderen Charakter Frankreichs typisch, da ihre Ausführung und ihr literarischer Niederschlag ganz von jenem französischen Sinn für gloire und Geste, für die Theatralisierung des großen Lebens erfüllt sind. Er kommt überzeugend zum Ausdruck in dem Telegramm, das Herr André Citroën den Expeditionsleitern nach ihrer Ankunft in Timbuktu sandte:

»Au moment où vous entrez dans la perle du Niger après avoir accompli au prix d‘efforts surhumains un travail de Titans pour la cause de l‘humanité et pour le triomphe de l‘industrie française, je tiens à vous exprimer du fond du cœur la joie que je ressens. Tous mes collaborateurs, directeurs, chefs de services, contremaîtres, ouvriers et employés vous envoient ainsi qu‘à tous les membres de la mission leurs vives félicitations et l‘expression de leur profonde admiration. Pour moi personnellement, aucun mot ne peut traduire ma pensée. Merci à vous tous, merci, merci et vive la France.«

Die Übersetzung, mit Freiheit und gutem Gefühl für sprachliche Aequivalente vorgenommen, geht offenbar von der (mir im Original nicht bekannten) einfacheren französischen Ausgabe aus. Neben dieser ist noch eine mit 171 Photographien und 2 Karten sowie 16 künstlerischen Illustrationen versehene große, schön gedruckte Ausgabe erschienen, die im Haupttext gegenüber dem in deutscher Sprache vorliegenden nur einige Briefe und etliche, bei den Wüstenstämmen aufgenommene Beispiele ihrer Dichtung mehr enthält. Wichtiger aber ist die Einleitung von André Citroën, in der sich außer dem vorstehend wiedergegebenen Begrüßungstelegramm auch Angaben über die sehr sorgfältige administrative Vorbereitung der Reise befinden, die der deutsche Herausgeber im Buche selbst vermißt.

Aus der Machtsphäre eines siegbewußten Großstaates, aus Zonen, in denen hinter Erwerbsgier und Ehrgeiz Fieber und Tod durch Dürre und Hitze lauern, führt das Buch von Erich Obst, Russische Skizzen (251 S., 174 Abbildungen, 1 Übersichtskarte, RM 7.50), zu einem der Besiegten des Weltkrieges, bei dem freilich gleichfalls die Kunst der Inszenierung nicht gering zu achten ist. Sie bedeutet auch für den Reisenden, der weitab von der Moskauer Zentralregierung seine Wege sucht, noch eine Gefahr. Umso höher ist es zu bewerten, daß Obst sich von großen, generalisierenden Meinungsäußerungen oder gar parteipolitischen Betrachtungen nach der einen oder anderen Richtung freihält und einfach das zu schildern versucht, was seine Augen gesehen haben. Er bereiste den russischen Norden auf der Dwina und der von deutschen Kriegsgefangenen miterbauten Murmanbahn, dann Ukraine und Krim, fuhr die Wolga abwärts zum Kaspischen See und studierte abschließend die politischen Probleme des Kaukasusgebietes.

Der Bericht wird von außerordentlich guten photographischen Aufnahmen begleitet. Der Verfasser widersteht der Versuchung, das wissenschaftliche Ergebnis der Reise in wenige Sätze zusammenzufassen. Was er mitteilt, sind immer »Staatsmerkwürdigkeiten« wesentlicher Art, so etwa die Übersicht (S. 54 f.) über die wissenschaftlich-geographische Arbeit der Forschungsinstitute in Leningrad. Über dem Ganzen liegt Ehrfurcht vor der mit dem Intellekt nicht ausschöpfenden Vielgestalt des russischen Gebildes und etwas von jenem Gefühl, das auch Kjellén empfand, als er zur Kennzeichnung Rußlands jenes Wort Dostojewskys wählte.

An dem leidvollen Thema des Vertrages von Versailles zeigt Ernst Tiessen die Fruchtbarkeit geopolitischer Betrachtungsweise2. Eine Einleitung bietet in größter Knappheit Definitionen der wichtigsten geopolitischen Grundbegriffe, wobei die Abweisung eines gleichsam dynamischen Naturalismus besonders wertvoll ist; den Wissenschaften, die den Staat als Gebilde »vom Standpunkt geistiger Kombinationen« betrachten, wird das Daseinsrecht nicht bestritten.

Durch Kartenbild und Zahlen wird die »geographische Sphäre von Versailles« dargestellt, dann der Vertragsinhalt entwickelt. Besonders lehrreich ist hierbei die Art, wie die »Grenze« als ein Etwas von fast unheimlich lebendiger Wirkung behandelt wird, einmal durch Schilderung ihres neuen Verlaufs im Zusammenhang mit dem deutschen Raumgebilde selbst, sodann ihrer Durchbrechungen, das heißt der Antastung des Staatsinhaltes durch fremden Willen. In gleicher logischer Geschlossenheit werden der Völkerbund als die »geographische Sphäre von Genf« und das Dawes-Gutachten erörtert. Der Verfasser kommt zu dem Ergebnis, daß der Staatscharakter Deutschlands durch den Akt von Versailles bis auf einige Reste von Staatsformen negiert und in Versailles ein »Vertrag« zwischen Deutschland und den Gegnern nicht zustande gekommen sei. Dies mag geopolitisch richtig sein. Aber gerade dann wird man sich erinnern müssen, daß der Staatsbegriff der Geopolitik nur den Staat »in seiner Abhängigkeit von der Natur der Erdoberfläche« erfaßt. Es bleiben andere Begriffsinhalte, über welche die Aussagen anderer Geisteswissenschaften, vor allem die der Geschichte und des Staatsrechts, von großem Gewicht sind. Nur wer dies nicht vergißt, wird die leidenschaftlich kalte und ungeistige Darstellung Tiessens in ihrem bedeutenden Sinn und ihren bestimmten Grenzen richtig verstehen können.

Als einen Akt der Pietät und zugleich der eigenen wissenschaftlichen Legitimation darf man die Herausgabe einer neuen Übersetzung von Kjelléns Werk Der Staat als Lebensform bezeichnen3. Der Übersetzung liegt ein älterer, von den Nutzanwendungen auf den bei Niederschrift der letzten Auflage noch nicht ausgeschlossenen Weltkrieg befreiter Text zugrunde, ergänzt durch die gerade für Kjelléns Verhältnis zur deutschen Wissenschaft wichtigen (115) Anmerkungen sowie einen Aufsatz von 1901: Die Politik als Wissenschaft.

Von Kjellén stammt der Terminus »Geopolitik«. Aber es würde seiner eigenen Anschauung nicht entsprechen, wollte man den Eindruck hervorzurufen suchen, als ob es sich hier auch sachlich und stofflich um etwas völlig Neues handle. Einen ausgezeichneten Überblick über die Entwicklung der Fragestellung bietet Eugen Oberhummer in der Abhandlung Die politische Geographie vor Ratzel und ihre jüngste Entwicklung4. Sie schildert Ansätze und rückläufige Bewegungen in der Ausbildung einer politischen Geographie und gestattet das Urteil, daß der rasch verbreitete Begriff der Geopolitik, geprägt durch einen Forscher von Temperament und Einsicht, vor allem den hohen Aktualitätsgrad jenes Wissensgebietes anzeigt, für dessen Gestaltung Friedrich Ratzel Entscheidendes geleistet hat.

Es sind besondere Zeitumstände, die das für die Geopolitik und die Verbreitung ihrer Arbeiten zwar furchtbare, immer aber auch gefährliche Interesse eines Laienpublikums erklären. Auch die Förderung dieser Studien gerade durch deutsche Wissenschaftler ist Ausdruck einer bestimmten Seelensituation, die in wenigen Strichen gekennzeichnet sei. Kjellén selbst erleichtert die Deutung, wenn er auf das naturalistische Element der Geopolitik hinweist, auf jene Wiederanknüpfung an das Triebleben, die Rousseau für das Individuum gepredigt habe. Auf keinem Gebiet ist der Glaube an die Fähigkeiten bewußter menschlicher Führung und Zielsetzung stärker erschüttert, als auf dem des Staatslebens. Wäre ein Bestand an großen Führern für das Leben eines Staates in jedem Augenblick entscheidend, so wäre im gegenwärtigen Zeitpunkt das Fortbestehen zahlreicher Staaten schlechthin unerklärlich. Die Deutung wendet sich deshalb vom sichtbar Menschlichen ab, oft wohl nicht ohne begreiflichen dégout vor den Oberflächenformen des politischen Lebens, und versenkt sich in die in einem urtümlicheren Sinne gegebenen Zusammenhänge der Staaten mit dem mütterlichen Boden. In den psychischen Hintergründen des deutschen Interesses an der Geopolitik lauern die beiden Gefahren, sie als romantisches Quietiv oder als ein Stimulans zu betrachten, als einen neuen Wunderglauben an demiurgische Kräfte, die helfen sollen, wo des wachen Geistes Führung fehlt. Die Aufgabe besteht, der von allen Spannungen des Aktuellen umwitterten Geopolitik den Wahrheitscharakter einer Wissenschaft rein zu erhalten.

  • 1 Die erste Durchquerung der Sahara im Automobil: 201 Seiten, 55 Abbildungen und Übersichtskarte. Berlin-Grunewald 1924. Ganzleinen RM 5.-.
  • 2 Versailles und Fortsetzung. Eine geopolitische Studie. 62 Seiten, 2 Karten. In Pappband RM 1,80.
  • 3 227 Seiten, in Ganzleinen gebunden, RM 5.-:
  • 4Als Anhang zu Ratzel, Politische Geographie, 3. Auflage, München und Leipzig 1923, bei R. Oldenbourg. Sie enthält unangetastet den Text der zweiten, noch von Ratzel (1903) besorgten Auflage mit wertvollen, im Druck sorgsam unterschieden Ergänzungen und Berichtigungen Oberhummers.

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