Der Binnenmarkt ist seit dem 1. Januar 1993 vollendet. Jahrelang wurde diesem magischen Datum entgegengefiebert, und nun stellen viele Bürger und Unternehmer erstaunt fest, daß sich eigentlich gar nichts verändert hat. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig, weil zunächst einmal nur der Rechtsrahmen für den Binnenmarkt hergestellt wurde und auch dieser noch nicht vollkommen ist. Vieles, was gemeinhin als wesentliches Charakteristikum eines Binnenmarktes gilt, wie etwa eine einheitliche Währung oder gemeinsame Verwaltungsstrukturen, fehlt noch oder wird vielleicht sogar nie verwirklicht. Denn der Europäische Binnenmarkt wird noch nicht durch die politische Klammer einer europäischen Verfassung zusammengehalten, die überhaupt erst eine klare Abgrenzung der unterschiedlichen Entscheidungsebenen ermöglichen würde.
Im Binnenmarkt wird es noch auf absehbare Zeit ein ständiges Nebeneinander von gemeinschaftlichen und nationalen Zuständigkeiten geben, wobei allerdings streng darauf zu achten ist, daß sich aus den unterschiedlichen nationalen Regelungen keine erneuten Handelshemmnisse oder ungerechtfertigten Benachteiligungen für andere EG-Bürger ergeben. Der Binnenmarkt ist also noch keineswegs unwiderruflich verwirklicht, denn der Regulierungseifer in der Gemeinschaft ist nahezu unbegrenzt. Besonders aus Umweltschutzgründen werden in den Mitgliedstaaten ständig neue Gesetze und Verordnungen erlassen, die einander häufig genug widersprechen und damit einen gemeinschaftlichen Handlungsbedarf auslösen. Dies wird sich erst dann grundlegend ändern, wenn es eine auch verfassungsrechtlich eindeutig verankerte Kompetenzverteilung zwischen der EG und den Mitgliedstaaten gibt. Subsidiarität setzt daher in letzter Konsequenz die Idee eines europäischen Bundesstaates voraus, wenn damit mehr gemeint sein soll als das Prinzip des gesunden Menschenverstandes, das jeden darauf verpflichtet, andere nicht unnötig zu ärgern.
Die Vollendung des Binnenmarktes ist ein dynamischer Prozeß, der das Verhalten der wirtschaftlichen Akteure stark verändern wird. Insofern ist es falsch zu meinen, mit dem Binnenmarkt ändere sich nichts, nur weil sichtbare Effekte zunächst noch ausbleiben. Der damit verbundene Wachstumsimpuls läßt sich jedoch nur äußerst schwer abschätzen. So bereiten sich die europäischen Unternehmen schon seit einigen Jahren intensiv auf das Binnenmarktziel vor, so daß explosionsartige Wirkungen jetzt nicht mehr zu erwarten sind. Der Binnenmarkt hat aber das unternehmerische Denken grundlegend verändert. Auch mittelständische Unternehmen blicken jetzt verstärkt über die nationalen Grenzen hinaus, auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und preisgünstigeren Zulieferern. Der europäische Standortwettbewerb ist dadurch noch härter geworden, denn der Binnenmarkt kann künftig von einem einzigen Standort aus beliefert werden, so daß Standortnachteile schonungslos aufgedeckt werden.
Der Binnenmarkt wirkt wie ein reinigendes Gewitter, das bisher noch geschützte Wirtschaftszweige, wie etwa die Telekommunikation, Versicherungen oder den Verkehr, nun ebenfalls für den Wettbewerb von außen öffnet, nachdem alle nationalen Deregulierungsbemühungen vorher im Sande verlaufen sind. Zu Strukturbrüchen wird es trotzdem kaum kommen, weil auch die Konsumenten den Binnenmarkt erst noch entdecken müssen und es noch weitgehend an europäischen Vertriebsstrukturen fehlt. Von europaweiten Sonderangeboten bis zu einer flächendeckenden Bedarfsdeckung ist es doch ein weiter Weg, der häufig erst durch eine strenge europäische Wettbewerbsaufsicht freigekämpft werden kann. Jeder verteidigt seine alten Pfründe natürlich so gut er kann, und davon gibt es im Binnenmarkt eine ganze Menge.
Europäische Währung notwendig
Die positiven Wachstumseffekte des Binnenmarktes werden gegenwärtig überlagert von den konjunkturell bedingten Wachstumseinbrüchen in den meisten Mitgliedstaaten. Für 1993 ist nur ein geringes Wachstum zu erwarten. Es wäre jedoch ungerecht, dies dem Binnenmarkt anlasten zu wollen. Ohne die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraumes wären die konjunkturellen Hoffnungen noch sehr viel düsterer. Das Fehlen einer europäischen Währung wirkt sich ebenfalls schmerzlich aus. Die Bedeutung des innergemeinschaftlichen Warenaustausches hat in den letzten Jahren ständig zugenommen und wird auch weiter steigen. Um so wichtiger sind feste Wechselkurse. Es ist kein Zufall, daß das EWS zu einem Zeitpunkt unter Druck geraten ist, als erste Zweifel an der Ratifizierung von Maastricht aufkamen. Bereits das Ziel einer einheitlichen europäischen Währung wirkt wechselkursstabilisierend, weil es alle Mitgliedstaaten zu einer stabilitätsorientierten Geld- und Fiskalpolitik zwingt. Ohne einen solchen Anreiz würden einige Länder schnell wieder zu einer Politik des leichten Geldes zurückkehren, mit der Folge eines wieder höheren Inflationsgefälles und starker Wechselkursschwankungen.
Die Alternative zur einheitlichen europäischen Währung besteht daher letztlich in einem Regime flexibler Wechselkurse, verbunden mit häufigen Auf- und Abwertungen. Ein solches Wechselkurssystem ist jedoch wegen seiner wettbewerbsverfälschenden Wirkungen mit dem Binnenmarkt kaum vereinbar. Man kann nicht erwarten, daß abwertungsbedingte Wettbewerbsnachteile so einfach hingenommen werden. Zu einem einheitlichen Binnenmarkt gehört auch eine gemeinsame Währung, und deshalb ist es unbedingt erforderlich, daß das EWS als Vorstufe möglichst bald wieder funktionstüchtig wird.
Der Binnenmarkt muß in guten Zeiten ebenso funktionieren wie in schlechten. Einen Rückfall in die alten protektionistischen Abschottungspraktiken, etwa durch eine Überbetonung des Subsidiaritätsprinzips, darf es deswegen ebenso wenig geben wie andererseits sicherzustellen ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch im europäischen Alltag überall in gleicher Weise durchgesetzt wird. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Es geht gar nicht darum, neue europäische Verwaltungsstrukturen aufzubauen, auch wenn über wissenschaftliche Fragen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes möglichst von vornherein im Konsens entschieden werden sollte. Durch den Binnenmarkt sollen nationale Besonderheiten, wie z. B. das deutsche Reinheitsgebot für Bier, keineswegs angetastet werden, doch objektive Gesundheits- und Sicherheitsrisiken müssen nach gemeinsamen Kriterien beurteilt werden, wobei selbstverständlich kein Mitgliedstaat gezwungen werden kann, berechtigte Zweifel einfach zurückzustellen.
Riegel gegen staatliche Willkür
Die vielleicht größte Errungenschaft des Binnenmarktes liegt darin, daß solche Zweifel nicht mehr einfach behauptet werden können, sondern vernünftig zu begründen sind. Das schiebt staatlicher Willkür einen ganz entscheidenden Riegel vor, denn für viele Reglementierungen gibt es einfach keine überzeugende Begründung. Der Binnenmarkt stärkt damit zugleich die Selbstverwaltung der Wirtschaft. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß auch auf europäischer Ebene ein leistungsfähiges Normen- und Zertifizierungssystem entsteht, das staatliche Reglementierungen durch freiwillige Vereinbarungen ersetzt und damit das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung stärkt.
Noch immer wird europäischen Lösungen ein starkes Mißtrauen entgegengebracht. Was man der eigenen Regierung zubilligt, darf Brüssel noch lange nicht. Selbst nationale Gesetze, die vorher fast niemand kannte oder die sogar heftig kritisiert wurden, finden plötzlich ungeahnte Befürworter, wenn sie vom Europäischen Gerichtshof beanstandet oder durch eine Gemeinschaftsgesetzgebung verändert werden sollen. Manchmal hat man den Eindruck, als sei die nationale Identität weniger durch die eigene Sprache und Kultur als durch die Etikettierungsvorschrift für Marmelade geprägt, so leidenschaftlich wird darüber gestritten. In Wirklichkeit geht es dabei weniger um die Sache als um ein generelles Unbehagen darüber, wie in der EG über Fragen des täglichen Lebens entschieden wird. Unzufriedenheit mit der EG läßt sich häufig nur in Form blinden Zynismus artikulieren, weil es keine demokratische Möglichkeit zur Meinungsäußerung gibt. Das muß deshalb ebenfalls unbedingt geändert werden, damit der Binnenmarkt nicht nur von den Unternehmen, sondern auch von den Bürgern wirklich angenommen wird.