Im März vor fünf Jahren stellte der damalige Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung die Grundzüge der Agenda 2010 vor. Das Maßnahmenpaket umfasste Reformen am Arbeitsmarkt, bei der Sozialen Sicherung und in der Steuerpolitik. Welche Ergebnisse hatte die Reformpolitik und wie sind diese zu bewerten?
Agenda 2010: Neues unter Deutschlands Himmel?
Ziel der Agenda 2010 war es, Deutschland vor dem Hintergrund einer erheblichen Veränderung der Bevölkerungsstruktur angesichts einer stagnierenden Wirtschaftsentwicklung an die Herausforderungen der Globalisierung anzupassen. Das Motto „Fördern und Fordern“ aus den Hartz-Reformen gab die Leitlinie vor, Wirtschafts- und Sozialpolitik im Sinne der modernen Anreizökonomik neu auszutarieren. Es wurde folgerichtig ein umfassender Ansatz gewählt, der von der Sozialpolitik ausgehend alle Bereiche der Wirtschaftspolitik durchdrang. Als wesentliche Politikbereiche der Agenda 2010 wurden somit Konjunktur und Wachstum, Bildung- und Ausbildung, Arbeitsmarkt, Steuern, Alterssicherung und Familienförderung angesprochen. Im Vordergrund standen vielfach Reformen im Sinne der Neustrukturierung von Institutionen und institutionellen Regelungen.
Da es unmöglich ist, alle Details der Agenda 2010, insbesondere alle Aspekte des Herzstücks, der Hartz-Reformen, zu beleuchten, soll das Reformwerk vor dem Hintergrund seines allgemeinen ökonomischen Gestaltungsanspruchs bewertet werden. Im Sinne des Begriffs „Agenda“ wird dabei der Beurteilungsrahmen erweitert, da Teile der Reformen inzwischen reformiert (besser: zurückgenommen) wurden, andere Teile sich in ein neues wirtschaftspolitisches Umfeld einordnen müssen (Senkung des Steuertarifs, nach kurzer Zeit erhebliches Anheben des Mehrwertsteuersatzes).
Im Sinne dieser Gesamtsicht muss auch geprüft werden, ob die Probleme des Standorts Deutschland korrekt beschrieben worden sind, denn nur dann ist es möglich, angemessene Maßnahmen zu treffen. Besonders ist dabei vor dem Hintergrund der Globalisierung mit ihrer sich dynamisch verändernden internationalen Arbeitsteilung, ihrem weltweiten Druck auf hierarchische und zentralistische Koordinationssysteme die Zukunftsfähigkeit institutioneller Arrangements zu prüfen. Denn nur so lassen sich bestehende Fehlanreize, die sich als Rationalitätsfallen1 äußern, im gegenwärtigen System vermindern bzw. beseitigen. In der Regel gehen diese nämlich auf fehlende Rückkopplungen zurück, so dass das Aggregat von lokal effizientem Handeln kollektiv ineffizient ist.
Ausgangslage
Der Befund eines im Vergleich zu anderen frühindustrialisierten Ländern seit den 90er Jahren unbefriedigenden Wirtschaftswachstums und eines persistent hohen Niveaus der Arbeitslosigkeit, welches die sozialen Sicherungssysteme unter erheblichen Druck setzte, kaum Einkommensfortschritte ermöglichte und vor allem Geringqualifizierten wenig Chancen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt – und damit oft auch an der Gesellschaft – ermöglichte, wurde einerseits auf entmündigende und die Eigeninitiative zerstörende sozialpolitische Institutionen zurückgeführt, andererseits auf die infolge der Globalisierung verschärfte Standortkonkurrenz. Die wesentlichen das Sozial- und das Wirtschaftssystem gestaltenden Institutionen waren in diesem Sinne fehlangepasst. Analog zu Vorschlägen der Bayerisch-Sächsischen Kommission für Zukunftsfragen Ende der neunziger Jahre2 war damit das Erfordernis einer institutionellen Anpassung unter Bedingungen offener Grenzen nicht nur für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Menschen, sondern vor allem auch für Wissen zu thematisieren. Der Kern wurde dabei in der Reform der Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitsmarktinstitutionen gesehen. In der Tat ist hier der Reformrückstau am größten gewesen – aber nicht nur dort: Auch andere Felder der Wirtschaftspolitik wurden in integrativer Sicht als wesentlich für die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, seiner Unternehmen und Arbeitnehmer erkannt und daher einbezogen. Das gab der Agenda 2010 einen innovativen Zugang und führte auch zu der sehr positiven Bewertung beim Start.
Nicht berücksichtigt wurde in diesem Kontext eine wichtige Sonderentwicklung Deutschlands infolge der Euroeinführung. Inflationsdruck und Staatsverschuldung als spezifische Bedingungen der Deutschen Einheit führten zu einer restriktiven Geldpolitik der Deutschen Bundesbank und ließen den Kurs der D-Mark steigen. Der Beitritt zum Euro-System erfolgte damit auf einem Niveau, das in der Folgezeit abschmelzen musste. Das war nur durch einen Rückgang der Preise lokaler Güter, also weitgehend der Löhne und Immobilienpreise, möglich. Die daraus entstandenen niedrigen Lohnstückkosten erlaubten es in den letzten Jahren, die extrem positiven weltwirtschaftlichen Impulse stark auf Deutschland zu ziehen.3 In Ostdeutschland führte das zu einem besonders starken Druck auf die Löhne, mussten die Unternehmen doch, um wettbewerbsfähig zu werden, schneller als der Westen die Kosten senken. Das erschwerte die ohnehin erforderlichen Anpassungen auf dem Arbeitsmarkt in Ostdeutschland, der in der Agenda 2010 keine besondere Aufmerksamkeit erhielt, zusätzlich, obwohl viele Probleme sehr spezifisch sind.
Zentral organisierte Sozialsysteme in einer Marktwirtschaft
Die moderne Transaktionskostentheorie postuliert, dass die Organisationsstruktur von Institutionen den Transaktions- und den Transformationskosten folgt.4 Erweitert man diesen Gedanken um den Aspekt der Informationsasymmetrien, so kann man deutlich die Unterlegenheit zentral organisierter Systeme herausarbeiten.5 Dies ist vor allem ihrer Unfähigkeit, marktrelevante Informationen schnell und effizient zu sammeln und zu verarbeiten, insbesondere veränderte Knappheitsgrade in komplexen Systemen zu signalisieren und schnelle Anpassungen auszulösen, geschuldet. Es entstehen „politische Knappheitsgrade“, also Zustimmungsniveaus im öffentlichen Raum. Diese Dichotomie erzeugt Spannungen im System. Aufgrund des Primats der Politik muss sich der marktliche Bereich entweder unterordnen oder er wandert ab, verlegt also seine Aktivitäten an andere Standorte. Im Sinne einer guten Standortpolitik muss es also das Ziel sein, die sozialpolitischen Rückkopplungsmechanismen möglichst nahe an ökonomische Tatbestände heranzuführen.
Eine verstärkte Orientierung an offenen Märkten findet sich in der Agenda 2010 in der Sozialpolitik nur begrenzt und dann nur halbherzig. So wird beispielsweise der Wettbewerb zwischen den Gesetzlichen Krankenkassen durch eine Verbesserung der Wechselmöglichkeiten (auch in die Privatkassen) intensiviert, die Wirkung aber durch entsprechende Ausgleichsmechanismen bei unterschiedlichen Risikoprofilen und -niveaus weitgehend eliminiert, anstatt entsprechende Anreiztarife zu ermöglichen. Die Selbstbeteiligung durch Zuzahlungen und die Praxisgebühr erzeugen nur eine begrenzte Fühlbarkeit für die tatsächlichen Kosten. Einschränkungen des Leistungskatalogs sind nur scheinbar marktwirtschaftlich, wenn sie zentral aufoktroyiert werden, also nicht dem Wettbewerb der Leistungen und Tarife folgen.6
Kontrovers ist unter diesem Blickwinkel der im Nachgang zur Agenda 2010 entstandene Gesundheitsfonds zu sehen, der es durch den zentral geregelten Ansatz erlaubt, individuelle Anreize sowie den Wettbewerb der Kassen problemlos zu eliminieren, was wieder zeigt, wie gering das politische Vertrauen in die Marktkräfte ist. Analog blieb die Kostendämpfung im Arzneimittelmarkt auf halber Strecke stehen, weil nur Wettbewerb das Ziel niedriger Preise mit dem Erfordernis, den Produktionsstandort Deutschland für pharmazeutische Produkte attraktiv zu halten, in Einklang bringen kann. Die dafür sinnvolle Maßnahme der Angebotsausweitung mittels Versand- und Internethandel kommt aus institutionellen Gründen viel zu langsam in Gang. Gleichermaßen wurde, um die Beispiele abzuschließen, der Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenversicherung als „Preis der Altersstruktur“ in die Rentenformel eingebaut – aber er stellte eigentlich nur den „status quo ante“ wieder her und wirkt erst in der Zukunft, während bereits heute die Wettbewerbsfähigkeit des Faktors Arbeit durch die Höhe der Sozialtransfers überfordert wird.
Verzahnung von Steuer- und Sozialpolitik
Das Zusammenführen verschiedener Formen von Lohnersatzleistungen in Deutschland, insbesondere der Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe, durch die Kommunen als subsidiäre Einrichtungen Bedürftige unterstützten, stellt mit Sicherheit einen wesentlichen sozialreformerischen Erfolg dar, weil es die Komplexität des Systems zunächst einmal beachtlich reduzierte. Zugleich wurde über den einheitlichen Regelsatz der Anspruchslohn gesenkt und damit der Anreiz zur Erwerbstätigkeit erhöht. Im Sinne der Wahl zwischen zentralen und dezentralen Arrangements wurde hier ein einheitlicher Rahmen gesetzt, aber der Freiheitsgrad an der Schnittstelle zu den Betroffenen erheblich erweitert. Sie werden über ein konsistentes System erfasst, um die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft zu erleichtern, auch durch das bessere Nutzen von Kenntnissen über spezielle Bedingungen vor Ort.
Weiterhin wurde der Anspruch erhoben, die Fehlverwendung von Mitteln zu reduzieren. Von besonderem Interesse ist die Optionsklausel bei der Betreuung erwerbsfähiger ALG-II-Empfänger, die es ermöglicht, einen institutionellen Wettbewerb zwischen Kommunen oder der Arbeitsagentur als Träger auszugestalten. Für eine abschließende Bewertung ist es noch zu früh – und ob diese dann zielführend ist, bleibt offen, weil aus verfassungsrechtlichen Gründen das System ohnehin neu organisiert werden muss.
Die vorhandenen Anreiz- und Abstimmungsprobleme, auch das Auseinanderfallen von finanzieller und fachlicher Verantwortung, könnten weiter reduziert werden, würde man den Schritt einer stärkeren Verzahnung der monetären Elemente des Sozialsystems mit dem Steuersystem suchen (Stichwort negative Einkommensteuer). Heute arbeiten immer noch mehrere Bürokratien am gleichen Tatbestand, nämlich dem Festlegen eines Niveaus für ein menschenwürdiges Dasein. Hier wäre ein mutigerer Sprung sinnvoll gewesen, um Bürokratie zu vermindern. Das müsste im Sinne der öffentlichen Verwaltung sein, weil auch sie vor dem demographischen Hintergrund einer Reduktion ihres Personals entgegensehen wird. Aus diesem Grund scheint eine entsprechende Vereinfachung zwingend.
Grundsätzlich stellt sich die Frage nach der Verzahnung von Steuer- und Abgabensystem auch vor dem Hintergrund der Wettbewerbsfähigkeit einfacher Arbeit. Der Steuer- und Abgabenkeil wirkt in den unteren Einkommensschichten besonders stark – er fällt mit zunehmenden Einkommen zunächst infolge der Beitragsbemessungsgrenzen, dann aber auch, weil Selbständige ein erwünschtes Absicherungsniveau in der Regel billiger an privaten Märkten einkaufen können. Dies führt zu der ökonomisch unbefriedigenden Situation, dass mit sinkender Wettbewerbsfähigkeit eines Produktionsfaktors die Preisverzerrung zunimmt. Auch wenn Mindestlöhne in der Agenda 2010 nicht thematisiert werden, so darf man nicht verkennen, dass die Veränderung der Verteilungsrelationen durch den weltweiten Wettbewerb und die fehlende Anpassung im Bereich Steuern und Abgaben die Frage der „Gerechtigkeitslücke“ mitverursacht haben. Die Debatte könnte erheblich an Schärfe verlieren, wenn bei niedrigen Einkommen im Wege einer nachgelagerten Steuer- und Abgabenpflicht das Bruttoeinkommen an das verfügbare Einkommen herangeführt würde, statt unmittelbar Aufstockungsbeträge und anderweitige Hilfen zu gewähren.
Anreize
Eine Reihe von Maßnahmen hat die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts vorangetrieben, beispielsweise im Bereich des Kündigungsschutzes, den Hinzuverdienstmöglichkeiten, den Zumutbarkeitskriterien oder den Befristungsmöglichkeiten. Die positive Bewertung steht hier unter der Einschränkung, dass viele Konkurrenten in Europa hier wesentlich weiter gegangen sind. Neue institutionelle Strukturen haben immer Phasen von Versuch und Irrtum: Im Sozialbereich ist ein Durchspielen der Möglichkeiten des strategischen Missbrauchs daher immer dann zu fordern, wenn große Finanzsummen im Risiko stehen.
Hier wurde beim Arbeitslosengeld II unnötig leichtfertig verfahren: Einmal ist zu prüfen, ob der Staat „freiwillige Armut“, also die vordem nicht unerhebliche Dunkelziffer, identifizieren soll. Dies ist zu bejahen, wenn darauf aufbauend eine gezielte Armutsbekämpfung erfolgt – diese ist aber nicht in Sicht, möglicherweise, weil das an die Grenzen des liberalen Staats stößt. Fehlende begriffliche Konkretheit, hier die „Bedarfsgemeinschaft“, löste eine Ausgabenflut aus, weil die vom Gesetzgeber vorgesehene subsidiäre Verpflichtung innerhalb kleiner Gemeinschaften im Gegensatz zur individuellen Einkommensmaximierung steht. Erhöhte Unterstützungsleistungen konnten durch zusätzliche Lebensmittelpunkte vereinnahmt werden. Die Behörden müssen nun in detektivischer Kleinarbeit prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Für die kommunale Wohnungswirtschaft in Ostdeutschland besaß das Multiplizieren von Bedarfsgemeinschaften den positiven Nebeneffekt, dass bisher nicht bewohnte Mietwohnungen wieder belegt wurden. Ähnlich ausgabensteigernd wirken gegenwärtig die unpräzisen Grundlagen bei der Berechnung angemessener Aufwendungen für Unterkunft und Heizung.7
Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das einer Lösung harrt. Die in der Gesetzgebung zunehmend durchgesetzte politische Neutralität des Staats gegenüber verschiedenen Lebensformen und -gestaltungen müsste ihre Entsprechung in einem Verzicht auf das Einfordern von Solidar- und Subsidiärleistungen, also einer Individualisierung der Sozial- und Versicherungsleistungen im Sinne des „Anreizmenschen“ finden. In der Sozialpolitik existiert eine derartige Konsistenz nicht. Beim Arbeitslosengeld II wird auf Bedarfsgemeinschaften Bezug genommen, also kleine Gruppen. Bei der Kinderbetreuung geht der Weg hin zu zentralistischen und subventionierten Angeboten, die letztlich individuelle Wahlfreiheiten, sich beispielsweise in kleinen Gruppen zu organisieren, einschränken. Fehlende Kostentransparenz führt zu Übernachfrage, Zwangsbeiträge zu Anspruchshaltungen, die möglicherweise auf Dauer nicht zu finanzieren sind, beispielsweise auf dem Gebiet der Betreuung alter Menschen. Erfolgt keinerlei Diskussion über die normativen Grundlagen der Gesellschaft, in diesem Kontext beispielsweise der Bedeutung von Ehe und Familie, und im Anschluss ein Verdeutlichen relevanter Wertestrukturen, von denen sich die Politik leiten lassen muss, kann es offensichtlich keine ökonomisch konsistente Sozial- und Wirtschaftspolitik geben.
Das Fördern und Fordern kann auch nur funktionieren, wenn ein angemessenes Volumen an (zumutbarer) Arbeit angeboten werden kann. Die vom Sachverständigenrat geforderte Absenkung der ALG-II-Bedarfssätze mit dem Ziel, die Anreize zu Arbeitsaufnahme zu stärken, kann nur dann wirken, wenn es diese Arbeit gibt – und wenn sie keine vorhandene Arbeit vom Markt verdrängt, was auch ausdrücklich vom Sachverständigenrat erwähnt wird, weil es ein erhebliches Problem des Systems der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen darstellte. Das bedeutet, dass sich die Gesellschaft gegebenenfalls auf ein Leistungs- und damit Arbeitssegment verständigen muss, das nur unter den Bedingungen einer vorhandenen ALG-II-Reserve bedient wird (beispielsweise häufiges Reinigen öffentlicher Plätze).
Nachhaltige Finanzbasis und der weltwirtschaftliche Rahmen
Hohe Steuern dämpfen die Leistungsbereitschaft und wirken dem Ziel des Staats, Einnahmen zu erzielen, entgegen. Insofern war das Absenken des Einkommensteuertarifs ein konsequenter Schritt, um Wachstumskräfte zu mobilisieren. Die erheblichen Steuerausfälle im Unternehmensbereich aus der vorangegangenen Unternehmenssteuerreform wurden dann als Argument genutzt, Abschreibungsmöglichkeiten (als wichtigen Treiber der Modernisierung des Anlagevermögens) einzuschränken und die Steuerbasis vor allem durch Einschränkungen im Gewinn- und Verlustausgleich sowie durch Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer zu verbreitern. Damit wird für unternehmerisch tätige Einkommensteuerpflichtige ein Teil der Wirkungen der Steuerreform zurückgenommen. Das konterkariert wesentliche Wachstumsziele, die in der Agenda 2010 als zentral und insbesondere mit Blick auf die Förderung des Mittelstands thematisiert werden. Für letzteren muss die Ausgestaltung der Erbschaftsteuer als Existenzrisiko gesehen werden, weil die lange Laufzeit von 15 Jahren, bis Steuerfreiheit eintritt, und die Zwangspunkte bei Aufrechterhaltung von Beschäftigungsniveaus die Planbarkeit von Unternehmensentwicklungen deutlich überschätzen. Zudem stellt sie alles, was im Bereich der klassischen Wirtschaftsförderung an Bindungsfristen und -auflagen üblich ist, in den Schatten. Letztlich fehlt, ebenfalls als normatives Element, eine grundlegende politische Bewertung, wie mit der Konkurrenz der Standorte, insbesondere der europäischen Steuersysteme umzugehen ist.
Die Agenda 2010 kann nur im europäischen Rahmen stattfinden, und damit ist sie auch vor dem Hintergrund des Maastricht-Verschuldungskriteriums zu sehen. Folglich ist das Konsolidieren der Haushalte anzusprechen. Der Schwerpunkt liegt auf der Einnahmenseite,8 ohne die Folgen für die anderen Ziele der Agenda 2010, vor allem auch solche sozialpolitischer Art zu bedenken. Steuererhöhungen provozieren Ausweichverhalten (Schwarzarbeit) oder eine erhebliche Mindernachfrage, die wiederum die Einnahmenerzielung schwächt. Die Mehrwertsteuererhöhung konnte nicht vollständig abgewälzt werden – die damit gesunkenen Nettoumsätze schmälern entweder die Gewinne oder die Löhne und damit die dort abgeschöpften Steuern. Die Daten weisen sehr deutlich aus, dass ein erheblicher Teil der unbefriedigenden Binnennachfrage auf diesen Mehrwertsteuerschock zurückgeht. Offensichtlich muss die Ausgabenseite weit stärker bei der Sanierung der öffentlichen Haushalte einbezogen werden, um Agenda-2010-konform zu sein. Tatsächlich gab es zwar auf individueller Seite durch die abgesenkten Regelsätze Einschnitte, aber die besagte Verbreiterung der Ansprüche wirkte kompensierend.
Perspektiven und Fazit
Wenn es Ziel der Agenda 2010 war, die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und damit auch seiner Beschäftigten, also des Faktors Arbeit, zu verbessern, dann ist neben den grundlegenden ordnungsökonomischen Fragen, vor allem der Abstimmung zwischen zentralen und dezentralen (marktorientierten) Arrangements, immer wieder die Frage der Finanzierung des deutschen Sozialsystems zu stellen. Die Umfinanzierung mittels der Mehrwertsteuer beeinflusst über die nationalen Allokationseffekte hinaus, die oben thematisiert wurden, vor allem die Wettbewerbslage des Standorts Deutschland. Die Belastung von Importgütern steigt, die Lohnstückkosten und damit die Belastung von Exportgütern sinken. So problematisch Zeitpunkt und Umfang der Mehrwertsteueranhebung waren, so deutet sie doch insgesamt in eine sinnvolle Richtung der Weiterentwicklung des Steuer- und Sozialsystems. Allerdings ist zu bedenken, dass eine derartige Politik durch das Absenken der Lohnstückkosten und das Verbessern der internationalen, insbesondere der innereuropäischen Konkurrenzlage zu Spannungen im EU-Währungssystem führt, die nicht mehr wie vordem durch Anpassungen des Wechselkurses oder der nationalen Zinssätze ausgeglichen werden können.
Festhalten lässt sich in jedem Fall, dass der Modernisierungsansatz, sozialpolitische Reformen übergreifend, also unter Einbeziehung anderer direkter und indirekter sozial- und wirtschaftspolitischer Felder, durchzuführen, mutig und sachgerecht war. Man sollte an vielen Stellen zunächst einmal die Wirkungen abwarten; insofern sind die aktuellen Korrekturen, beispielsweise die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für Ältere falsch.
Die Einbettung in eine Gesamtsicht bedeutet auch, dass man die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmensbesatzes noch stärker gewichten muss und damit den ursprünglich breiten Kontext vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Gesetzesmaßnahmen einfordern muss. Dazu zählt in jedem Fall die Notwendigkeit, die Staatsquote zu senken, dabei die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren und Freiräume für die Bürger zu schaffen, um diesen mehr Freiheitsgrade für die soziale Absicherung – privat oder im öffentlichen System – zu ermöglichen. Nur dieses wird dem intensiven internationalen Wettbewerb standhalten.
- 1 Vgl. hierzu U. Blum, L. Dudley, F. Leibbrand, A. Weiske: Angewandte Institutionenökonomik: Theorien, Modelle, Evidenz, Wiesbaden 2005, S. 33.
- 2 Vgl. U. Beck, R. Berger, U. Blum, J. Gross, H. Henzler, M. Miegel, G. Obermaier, H. Oberreuther, E. Schiller: Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland, München 1998.
- 3 Vgl. hierzu U. Blum, U. Ludwig: Vom Sündenfall zum Sündenbock, in: Wirtschaft im Wandel, 6, 2005, S. 163. U. Blum, U. Ludwig: Deutschland – ein Hochlohnland, in: S. Empter, R.V. Vehrkamp (Hrsg.): Wirtschaftsstandort Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 263-278.
- 4Vgl. H. Coase: The Nature of the Firm, in: Economica, 4, 1937, S. 386-405. D.C. North: Institutions, in: Journal of Economic Perspective, 5, 1991, S. 97-112. O. E. Williamson: The Economic
- 5 U. Blum, L. Dudley: The Two Germanys: Information Technology and Economic Divergence, 1949-1989, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 155 (1999), 4, S.710-737.
- 6 F. A. von Hayek: The Use of Knowledge in Society, in: American Economic Review, 35, 1945, Nr. 4, S. 519-530.
- 7Vgl. Bundesrechnungshof: Unterrichtung 16/7570.
- 8Zur Überlegenheit einer ausgabenseitigen Konsolidierung vgl. K. van Deuverden: Stabilitäts- und Wachstumspakt: kein geeigneter Weg zur Haushaltskonsolidierung– Ein Plädoyer für die Implementierung eines Ausgabenpfades, in: Wirtschaft im Wandel, Heft 2, 2005; Arbeitskreis Konjunktur des IWH: Konjunkturausgleich 2005: Deutsche Binnenkonjunktur zieht allmählich nach, in: Wirtschaft im Wandel, Heft 1, 2005. Auch die fünf führenden Wirtschaftsforschungsinstitute plädieren mittlerweile für die Einführung einer Ausgabenregel zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Vgl. Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose: Aufschwung legt eine Pause ein – Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2007, in: Wirtschaft im Wandel, 2. Sonderausgabe, 2007.
Die Agenda 2010: Symbol eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels
In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 stellte der damalige Bundeskanzler Schröder die Grundzüge der Agenda 2010 vor, die eine beeindruckende Liste von Reformideen enthielt, welche dann mit einem bemerkenswerten Tempo auf den Weg gebracht wurden. Bereits rund ein Jahr vorher, am 22. Februar 2002, hatte die Bundesregierung eine Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz-Kommission“) berufen, die ihren Bericht am 16. August 2002 fertigstellte. Die Agenda 2010 nennt die auf den Vorschlägen der Kommission aufbauenden Hartz-Gesetze explizit als Teil ihrer Strategie.1
Die Agenda 2010 stellte weniger ein detailliert ausgearbeitetes Drehbuch konkreter Reformschritte dar, sondern bedeutete eher eine Chiffre für einen grundlegenden Politikwechsel der seinerzeitigen Bundesregierung. Die Agenda 2010 griff zum einen bereits vorgelegte Überlegungen auf, beispielsweise im Hinblick auf eine Änderung des institutionellen Regelwerkes auf dem Arbeitsmarkt in Anlehnung an die Ergebnisse der Hartz-Kommission. Zum anderen gab sie Anstöße zu weitreichenden wirtschaftspolitischen Projekten, etwa auf dem Gebiet der Steuerreform und des Gesundheitswesens. Die deutsche Wirtschaftspolitik schickte sich an, wenngleich reichlich verspätet, den quälenden Reformstau aufzulösen, den unter anderen Bundespräsident Herzog in seiner bekannten Berliner Rede 1997 („Ruck-Rede“) beklagt hatte.
Fünf Jahre später kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Reformmaßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 auf Druck politisch links orientierter Gruppierungen wieder zurückgenommen werden (sollen). Zwar bemänteln die betreffenden Politiker diese Gegenbewegung mit der Notwendigkeit, die Agenda 2010 „weiterentwickeln“ zu müssen, aber einzelne Maßnahmen, wie beispielsweise die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Arbeitnehmer, bedeuten den Beginn der Demontage der Agenda 2010. Dies ist umso unverständlicher, als sich seit den vergangenen beiden Jahren erste Erfolge auf dem Arbeitsmarkt einstellen, und lässt befürchten, dass der hohe politische Preis, den die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als die damals führende Regierungspartei für ihren Reformkurs in Form verlorener Wahlen hat zahlen müssen, vergebens war. Nichts spricht gegen ein „Weiterentwickeln“ der Agenda 2010, wenn damit die notwendige Fortsetzung des Reformkurses gemeint ist.
Damit ist die Thematik dieses Beitrags umrissen. Wie sind einzelne Reformmaßnahmen im Gefolge der Agenda 2010 zu bewerten? Wie muss es weitergehen? Drei Bereiche stehen hierbei im Mittelpunkt: der Arbeitsmarkt, die Unternehmensbesteuerung und die Systeme der Sozialen Sicherung.2
Reformen am Arbeitsmarkt
Wie bereits erwähnt, macht sich die Agenda 2010 Vorschläge der Hartz-Kommission als Teil ihrer Strategie zu eigen. Bereits vor der Agenda 2010 hatte die Bundesregierung ihren Willen bekundet, die Vorschläge der Hartz-Kommission „eins zu eins“ umsetzen zu wollen, sie sollten nicht „zerredet“ werden, was praktisch mit einer Bindung des Gesetzgebers an die Beschlüsse eines in der Verfassung nicht vorgesehenen und demokratisch nicht legitimierten Gremiums einherging und zu entsprechend kritischen Diskussionen führte. Ziemlich riskant war ferner der mit dieser vorbehaltlosen Zusage einer Umsetzung implizierte Nachteil einer unzureichenden wissenschaftlich fundierten Ex-ante-Tauglichkeitsüberprüfung der Empfehlungen der Hartz-Kommission, zumal in ihr Wissenschaftler aus dem Bereich der Ökonomie unterrepräsentiert waren. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Erfolgsbilanz der Agenda 2010 im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gemischt ausfällt, obschon die positiven Aspekte überwiegen.
Das Kernstück der Reformen am Arbeitsmarkt betrifft zielführende oder zumindest in die richtige Richtung gehende Reformen beim System der Lohnersatzleistungen. Andere Elemente der Agenda 2010, die auch auf Vorschlägen der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ beruhen, wie etwa Personal-Service-Agenturen oder Mini-Jobs, sind dagegen weitaus skeptischer zu beurteilen.
Die seinerzeitige Kürzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengelds auf in der Regel zwölf Monate und 18 Monate für Ältere war ein zielführender Schritt. Empirische Studien belegen, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit in erster Linie von der Zeitperiode einer Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosenunterstützung und weniger von deren Höhe beeinflusst wird. Die mit Beginn des Jahres 2008 in Kraft getretene Wiederanhebung auf bis zu 24 Monate stellt daher einen wirtschaftspolitischen Fehler dar. Das Argument, längere Beitragszeiten bei der Arbeitslosenversicherung müssten zu einer ausgedehnteren Bezugsdauer des Arbeitslosengelds führen, klingt zwar populär und mag wählerwirksam sein, verkennt jedoch den Charakter der bestehenden Arbeitslosenversicherung. Sie ist – wie eine Kranken- oder Hausratsversicherung – kein Sparplan, sondern eine Risikoversicherung, bei der im Gegenzug für die Beiträge die Versicherungsleistung im Schadensfall in voller Höhe und unabhängig von der Dauer des Versicherungsverhältnisses gewährt wird. Für einen völlig anderen Typ einer Arbeitslosenversicherung etwa in Form von Ansparkonten zu plädieren, ist legitim, doch in der Arbeitslosenversicherung als Zweig der Sozialversicherung haben die vorgenommenen Korrekturen konzeptionell keinen Platz, sie führen in die Irre.
Die Zusammenlegung der früheren Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II stellt einen sehr wichtigen Schritt zu einem funktionstüchtigen Unterstützungssystem bei Arbeitslosigkeit dar. Allerdings muss dieser Weg weiter beschritten und die Bezeichnung überdacht werden. Der Name Arbeitslosengeld II suggeriert fälschlicherweise, es handele sich um eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosengeld. Tatsächlich stellt das Arbeitslosengeld II eine Fürsorgeleistung der Gesellschaft dar, mit der – allerdings häufig als unwillkommen empfundenen – Implikation, dass erstens die Leistung nur bei Bedürftigkeit gewährt wird, eigenes Einkommen oder Vermögen folglich vorrangig einzusetzen ist, und zweitens die Gesellschaft einen Anspruch auf Gegenleistungen der Transferempfänger besitzt, nämlich in Form einer intensiven Suche nach einem Arbeitsplatz und von Arbeitsleistungen. Damit sind zugleich weitere Reformnotwendigkeiten angesprochen, nämlich das „Fördern und Fordern“ gleichgewichtig zu verstärken.
Diesbezügliche Vorschläge stammen von verschiedenen Institutionen und ähneln häufig einander. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat ein zielgerichtetes Kombilohnmodell entwickelt, welches im Wesentlichen auf drei Säulen beruht.3 Erstens können Empfänger von Arbeitslosengeld II in höherem Umfang Arbeitseinkommen beziehen, ohne dass dieses ganz auf die Unterstützungszahlungen angerechnet wird. Konkret schlägt der Sachverständigenrat für Bruttoeinkommen zwischen 200 Euro und 800 Euro eine Senkung der Transferentzugsrate von derzeit 80% auf 50% vor. Im Gegenzug wird der Regelsatz des Arbeitslosengelds II für erwerbsfähige Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft um 30% abgesenkt. Drittens können Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz finden, ihre Unterstützungsleistungen durch Tätigkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt („Arbeitsgelegenheiten“) wieder auf das gegenwärtige Niveau des Arbeitslosengelds II bringen. Die Arbeitsgelegenheiten gewährleisten mithin nicht nur das bisherige Mindestsicherungsniveau. Da sie gleichzeitig eine einzufordernde Gegenleistung der Arbeitslosen sind, erleichtern sie im Sinne einer Beweislastumkehr die eventuell notwendige Überprüfung der Arbeitsbereitschaft.
Die Agenda 2010 hat mit dem Arbeitslosengeld II bei aller berechtigten Detailkritik eine bedeutende Basis für eine erfolgversprechende Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insbesondere im Bereich gering qualifizierter Arbeit gelegt. Anderen Elementen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt kann dies nicht uneingeschränkt bescheinigt werden, teilweise erwiesen sie sich als komplette Fehlschläge. Ein Beispiel dafür sind die „Personal-Service-Agenturen“. Nach eigenem Bekunden der Hartz-Kommission stellten sie „das Herzstück des Abbaus der Arbeitslosigkeit“ dar. Davon konnte nicht im Entferntesten die Rede sein, was von Seiten der Wissenschaft auch umgehend thematisiert wurde.4
Ein weiteres Beispiel für problematische Entwicklungen sind die in der Agenda 2010 aufgeführten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die im Hinblick auf die Steuer- und Abgabenbelastung privilegiert sind. Bei diesen Erwerbstätigen handelt es sich zu einem erheblichen Teil um Hausfrauen, Rentner, Schüler und Studierende, also nicht um eine Gruppe, auf die sich Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit prioritär richten sollten. Ernstzunehmende Befürchtungen bestehen jedoch dahingehend, dass erstens die geringfügige Beschäftigung, die im Unternehmensbereich ausgeübt wird, dort andere sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängt. Zweitens erwächst aus den Mini-Jobs eine wirkmächtige Konkurrenz für gering qualifizierte Empfänger von Arbeitslosengeld II, die sich auf Grund hoher Transferentzugsraten schlechter stellen als ein Mini-Jobber. Die erhoffte Brückenfunktion zum ersten Arbeitsmarkt dürfte sich nach empirischen Studien in engen Grenzen halten.
Zu Besorgnis geben Mini-Jobs und andere Regelungen aber noch aus einem grundsätzlichen Blickwinkel Anlass. Der Arbeitsmarkt wird durch die Schaffung oder Neuordnung spezieller, atypischer Beschäftigungsformen an den Rändern liberalisiert. Der Sachverständigenrat hat seinerzeit bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es besser wäre, den erkannten Anpassungsdruck gleichmäßiger auf alle Beschäftigten zu verteilen, anstatt letztlich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu etablieren.5
Steuerpolitik
In der Agenda 2010 kommt die Notwendigkeit von Wachstumsimpulsen für die deutsche Volkswirtschaft mit Hilfe von Steuersenkungen deutlich zum Ausdruck. Die Rede ist von einem Vorziehen der dritten Stufe der damaligen Steuerreform, die eine Senkung des Eingangssteuersatzes der Einkommenssteuer auf 15% und des Spitzensteuersatzes auf 42% mit sich brachte. Ergänzt wurde der Wachstumsaspekt indessen in einer Presseerklärung des Bundesministeriums der Finanzen Ende Juni 2003 durch den Nachfrageaspekt, indem „… den Bürgerinnen und Bürgern mehr Geld in die Taschen gegeben und Konsum und Wachstum gefördert werden“. Unter der Prämisse einer Nachfragestimulierung wurde das Vorziehen der Steuerreform mit einer höheren Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte finanziert.
Den leichten Konjunktur stimulierenden Effekten sind aber mögliche langfristige negative Wirkungen gegenzurechnen. Nicht nur trug die zusätzliche Neuverschuldung dazu bei, dass Deutschland im Jahr 2004 zum dritten Mal in Folge gegen die Defizitbegrenzungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verstieß, obwohl die Fiskalpolitik im Jahr 2004 in der Summe restriktiv war, da bei den Ausgaben noch stärker zurückgefahren wurde. Sondern eine diskretionäre antizyklische Finanzpolitik unterliegt erheblichen Begrenzungen, die ihre Wirksamkeit beträchtlich einschränken, wenn nicht sogar ins Gegenteil des Gewünschten verkehren.6 Die konjunkturpolitische Dimension dieses Aspektes der Agenda 2010 unterliegt mithin einer skeptischen Einschätzung.
Dieses Bild hellt sich auf, wenn man, wie bereits erwähnt, den Bogen von der Agenda 2010 zu nachfolgenden Reformen – zugegebenermaßen weit – spannt, in diesem Fall zur Unternehmensteuerreform, die fünf Jahre nach der Agenda 2010 in Kraft trat. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel, für den die Agenda 2010 als Chiffre steht, war von der Erkenntnis geprägt, dass Deutschland im Hinblick auf die Unternehmensteuerbelastung im internationalen Vergleich seinerzeit ein Hochsteuerland war, wie Berechnungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) eindrucksvoll belegten.7 Folgerichtig wurde eine Unternehmenssteuerreform mit dem Ziel einer Verbesserung der steuerlichen Standortbedingungen in Angriff genommen, begleitet von einer Reihe von wissenschaftlichen Gutachten, insbesondere des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW),8 aber zudem seitens einer Kommission der Stiftung Marktwirtschaft. Die Vorschläge der Wissenschaft gingen aber nur teilweise in die Unternehmenssteuerreform ein, wie etwa die Entscheidung für eine Duale Einkommensteuer. Immerhin wurde die steuerliche Standortattraktivität Deutschlands deutlich verbessert, wohingegen das ebenfalls wichtige Kriterium für die Effizienz eines Steuersystems, nämlich seine Entscheidungsneutralität bezüglich des Finanzierungswegs einer Investition und der Wahl der Rechtsform des Unternehmens, gravierend verletzt wurde. Nach der Reform ist somit vor der Reform.
Soziale Sicherung
Die Agenda 2010 befasst sich im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung vornehmlich mit der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung.
Die wesentlichen Ausführungen der Agenda 2010 zur überfälligen Reform des Gesundheitswesens beziehen sich auf das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Modernisierungsgesetz), welches dann mit Beginn des Jahres 2004 in Kraft trat. Dieses stellte nun alles andere als den erhofften „großen Wurf“ dar, sondern enthielt im Wesentlichen Spar- und Umfinanzierungsmaßnahmen, die Beitragssenkungen ermöglichen sollten, wie etwa die Einführung einer Praxisgebühr, eine Tabaksteuererhöhung als Finanzierungsbeitrag, die indes zunächst statt der erhofften Mehreinnahmen Einnahmeausfälle mit sich brachte, und Änderungen im Arzneimittelbereich sowie bei den Zahnersatzleistungen. Keines der beiden grundlegenden Reformmodelle – Bürgerversicherung oder Bürgerpauschalen – wurde umgesetzt. Die Agenda 2010 – in der Fassung vom November 2003 – erwähnt diese Vorschläge der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ („Rürup-Kommission“), die ihren Bericht Ende August 2003 vorlegte, in einem Glossar, verweist sie aber ausdrücklich als außerhalb der Agenda 2010 diskutierte Modelle.
Weitere Vorschläge zu einer Reform des Gesundheitswesens stammen unter anderem vom Kronberger Kreis der Stiftung Marktwirtschaft und vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.9 Nicht nur vergab bereits die Agenda 2010 damit eine große Chance, sondern in den darauffolgenden Jahren erfolgte eine Umgestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung, deren veränderte Finanzierung in Gestalt eines Gesundheitsfonds zu Recht heftig kritisiert wurde; der Sachverständigenrat bezeichnete ihn gar als „Missgeburt“.10 Unter diesem Aspekt waren die Agenda 2010 und die anschließende Gesundheitspolitik ein Fehlschlag.
Anders stellt sich die Situation bei der Gesetzlichen Rentenversicherung dar. Hier enthält die Agenda 2010 bereits eine Reihe zielführender Ankündigungen wie beispielsweise die Einführung eines „Nachhaltigkeitsfaktors“ bei der Rentenanpassung – nachdem dieselbe Bundesregierung einen allerdings auf einer anderen Funktionslogik basierenden „Demographiefaktor“, wie er von ihrer Vorgängerregierung beschlossen und erstmals für das Jahr 1999 geplant war, abgeschafft hatte –, einen erhöhten Beitrag der Rentner zur Pflegeversicherung, eine Aussetzung der Rentenanpassung im Jahr 2004 sowie die Ankündigung (im Glossar der Agenda 2010), ab dem Jahr 2005 schrittweise die nachgelagerte Besteuerung der Renten einzuführen.
Am Ende dieses Reformweges beschloss die derzeitige Bundesregierung zu Beginn der Legislaturperiode die gleitende Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Die „Rente mit 67“ mag sicherlich den Geist der Agenda 2010 atmen, wurde indes von der rot-grünen Koalition zumindest offiziell dezidiert abgelehnt. Sofern es trotz erheblichen Drucks politischer Gruppierungen, die „Rente mit 67“ wieder zu verwässern, bei diesen Festlegungen bleibt, hat die Politik damit die letzte wichtige Maßnahme verabschiedet, um die Gesetzliche Rentenversicherung auf absehbare Zeit gegen die aus der Bevölkerungsalterung erwachsenden Probleme abzusichern, die Nachhaltigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung wurde deutlich erhöht. Jetzt kommt es darauf an, Versuchen zu widerstehen, diese Reformmaßnahmen wieder in Frage zu stellen. Das Erreichte darf nicht verspielt werden, wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Titel seines Jahresgutachtens 2007/08 zum Ausdruck bringt.
Fazit
Begreift man die Agenda 2010 in erster Linie als Zeichen für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel der seinerzeitigen Bundesregierung, belegen die nachfolgenden Umgestaltungen im Bereich der Arbeitsmarktverfassung, der Unternehmensbesteuerung und der Systeme der sozialen Sicherung die hohe Bedeutung der Agenda 2010, obwohl Teile dieser Reformen nicht zielführend oder zumindest wichtige Details kritikwürdig sind. Die Erfolge der sinnvollen Reformen jetzt aber aufs Spiel zu setzen, wie etwa durch die Einführung von Mindestlöhnen, bedeutet eine gravierende wirtschaftspolitische Fehlentwicklung, von der damit einhergehenden Demontage der Agenda 2010 ganz abgesehen. Hier ist ein Umschwenken erforderlich, gegebenenfalls in Form einer Agenda 2015.
* Die folgenden Ausführungen stützen sich auf einzelne Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der Beitrag steht jedoch in der alleinigen Verantwortung des Verfassers. Für eine kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Hinweise danke ich Stephan Kohns und Bert Rürup.
- 1 Grundlage dieses Beitrags ist nicht die Rede von Bundeskanzler Schröder vor dem Deutschen Bundestag, sondern der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebene Text: Agenda 2010. Deutschland bewegt sich, November 2003 (archiv.bundesregierung.de/artikel/81/557981/attachment/557980_0.pdf).
- 2Eine Beschreibung der Inhalte der Agenda 2010 und deren Bewertungen fi nden sich in mehreren Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beginnend mit dem Jahresgutachten 2003/04: Staatsfi nanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Ziffern 395 ff.
- 3Vgl. Sachverständigenrat: Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell. Expertise des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden 2006
- 4Vgl. unter anderem: den Brief an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit vom 10./11. Oktober 2002, S. 2241 ff.; Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: das Gutachten Die Hartz-Reformen – ein Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems?, 15./16. November 2002, S. 2245 ff., Sammelband der Gutachten von 1998 bis 2007, Stuttgart 2008.
- 5Vgl. Sachverständigenrat: Die Chance nutzen– Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten 2005/06, Wiesbaden 2006, Ziffer 260.
- 6Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2003/04, a.a.O., Ziffern 399 ff.
- 7 O. H. Jacobs, C. Spengel : Effective Tax Burden in Europe, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, in: ZEW Economic Studies, 15, Heidelberg 2002.
- 8 Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.): Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, Schriftenreihe Band 79, Bonn 2006.
- 9 J. B. Donges, J. Eekhoff , W. Franz, W. Möschel, M. J. M. Neumann, O. Sievert: Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, in: Schriftenreihe der Stiftung Marktwirtschaft, Band 39, Berlin 2002; Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2003/04, a.a.O., Ziffern 306 ff.
- 10Sachverständigenrat: Widerstreitende Interessen – Ungenutzte Chancen, Jahresgutachten 2006/07, Wiesbaden 2006, Ziffern 280 ff.
Gibt es eine Reformdividende?
Eine vorläufige Bilanz der Arbeitsmarktreformen
Wohl kaum ein zweites Thema hat die politischen und vor allem die wirtschaftspolitischen Debatten der vergangenen Jahre so bewegt wie die Arbeitsmarktreformen im Zuge der Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung. Die Urteile über diese Maßnahmen, die einer politischen Notlage aufgrund der zähen wirtschaftlichen Stagnation in Deutschland entsprungen waren, schwankten zwischen verhaltener Zustimmung und schroffer Ablehnung. Vielen Ökonomen gingen die Reformen nicht weit genug im Sinne einer Liberalisierung der Arbeitsmärkte, andere befürchteten eine massive Verarmung von Langzeitarbeitslosen.
Mit dem Aufschwung entspannte sich die Arbeitsmarktlage zusehends und es stellt sich die Frage, ob dies der Lohn für die Reformen ist. Zuweilen wird sogar behauptet, dass sie erst den Aufschwung ausgelöst hätten.1 Andere wiederum meinen, dass die Reformen ihn hinausgezögert hätten.2 Von diesen Überlegungen zu unterscheiden sind Aussagen darüber, wie die Reformen den Aufschwung geprägt haben, unabhängig davon, ob sie dessen Beginn beeinflusst haben; die meisten Ökonomen wollen in den Reformen zwar nicht den Auslöser des Aufschwungs sehen, glauben aber, dass der Arbeitsmarkt eindeutig von ihnen profitiert hat.3
Beide Themen sollen im Folgenden behandelt werden. Die Schlussfolgerungen haben zwangsläufig einen vorläufigen Charakter, da der Aufschwung zumindest nach den statistischen Kennzahlen, die derzeit zur Verfügung stehen, noch nicht abgeschlossen ist. Erst danach ist eine umfassendere Würdigung möglich. Dies ist auch deshalb so, weil die Kennzahlen des jüngsten Zyklus in Beziehung zu jenen früherer Zyklen gesetzt werden müssen. Nur im Vergleich von Aufschwungphasen, in denen die Maßnahmen in Kraft getreten sind, mit jenen, die vor deren Inkrafttreten stattfanden, lassen sich erste Erkenntnisse gewinnen. Gerade am Arbeitsmarkt wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche institutionelle Änderungen vorgenommen. Dies macht Vergleiche mit Zyklen, die weit zurückliegen, problematisch. Folglich wird lediglich der gegenwärtige mit dem vorherigen Aufschwung in Beziehung gesetzt. Ein solcher Zyklenvergleich soll im Folgenden als Basis für erste Schlussfolgerungen dienen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Abweichungen zwischen den Zyklen auch andere Ursachen haben könnten. Insofern muss die Interpretation vorsichtig bleiben.
Wann begann der Aufschwung?
Ein erster Schritt besteht in der Datierung der Zyklen. Für die Bestimmung von Konjunkturzyklen gibt es im Grundsatz zwei Konzepte. In dem ersten, dem ein so genannter klassischer Zyklus zugrunde liegt, werden die Niveaus des jeweiligen Bruttoinlandsproduktes betrachtet. Bei steigenden Niveaus befindet sich die Wirtschaft im Aufschwung, bei rückläufigen in einer Rezession. Nach diesem Konzept ergeben sich relativ wenige Konjunkturzyklen, weil das Niveau der wirtschaftlichen Aktivität selbst in Schwächephasen nicht unbedingt sinken muss.
Daher wird oft auf das zweite Konzept, den Wachstumszyklus, rekurriert. Hier ist ein Aufschwung durch steigende Zuwächse und ein Abschwung durch abnehmende Zuwächse definiert. Je nach Nebenbedingungen hinsichtlich der Zykluslänge können sich durchaus unterschiedliche Datierungen ergeben. Darüber hinaus wird bei dem klassischen Zyklus nicht nur das absolute Niveau des Bruttoinlandsproduktes betrachtet sondern eher sein relatives Niveau zu einem zu definierenden Trend, und bei dem Wachstumszyklus wird gefragt, ob die Abweichung vom Trend sich abwärts bewegt oder aufwärts. Dieser Trend wird zu diesem Zweck oft mit univariaten Methoden oder Filterungsmethoden berechnet.4 Damit ist ersichtlich, dass die Auswahl der Filterungsmethode auch Einfluss auf die Zyklendatierungen hat. Die vorliegende Analyse folgt dem Wachstumszyklus mit Trendfilterung.
Für die aktuelle Analyse wurde die Zykleneinteilung auf der Basis des deutschen saison- und kalenderbereinigten Bruttoinlandsproduktes ab 1991 vorgenommen. Diese Größe erfasst die gesamte wirtschaftliche Aktivität und ist somit als Referenzgröße geeignet. Dabei wurde die Einteilung, die auf der Basis des mit dem Hodrick-Prescott-Filter5 bereinigten Bruttoinlandsprodukts ermittelt wurde, verwendet. Damit ergeben sich für den untersuchten Zeitraum drei Konjunkturzyklen, wobei der jüngste noch nicht abgeschlossen ist. Für die letzten beiden Zyklen kommt man somit zu einer ähnlichen Einteilung wie die des Sachverständigenrats in seinem aktuellen Jahresgutachten und auch einer ähnlichen im Vergleich zu früheren Analysen des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK).6 Demnach begann der vorige Aufschwung im vierten Quartal 1997 und endete im ersten Quartal 2001. Der jüngste Aufschwung begann im vierten Quartal 2004 und ist bis zum vierten Quartal 2007 noch nicht beendet. Mit dieser Einteilung soll der angestrebte Zyklenvergleich durchgeführt werden. Wenn man die kumulierte Entwicklung zwischen den zwei Aufschwüngen vergleicht, sollte dieselbe Zeitspanne benutzt werden, um unverzerrte Aussagen treffen zu können. Deshalb beziehen sich die gegenübergestellten Berechnungen im Folgenden auf einen Zeitraum für beide Zyklen von jeweils zwölf Quartalen.
Die theoretischen Grundlagen
Die grundlegenden Reformen basieren auf Arbeitsmarktanalysen, die dem Arbeitsmarkt in Deutschland eine mangelnde Flexibilität attestierten.7 Als wesentlicher Beleg wurde die im Trend steigende Arbeitslosigkeit angeführt. Die Inflexibilität hat nach dieser Lesart ihre Wurzeln auf der Angebotsseite des Arbeitsmarktes. So wurden immer wieder angenommen, dass die vermeintliche Großzügigkeit des Sozialsystems Arbeitslosen einen zu geringen Anreiz zur Arbeitssuche und Arbeitsaufnahme vermittelt.8
Abbildung 1
Zyklenvergleich Arbeitskosten und Gewinne
(nominal)
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Abbildung 2
Zyklenvergleich Arbeitskosten
(nominal)
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Dauer der Unterstützung,9 die vor allem Langzeitarbeitslosen gewährt wurde. So wurde die Arbeitslosenhilfe nahezu zeitlich unbegrenzt gewährt. Deren Abschaffung war eines der zentralen Elemente der Arbeitsmarktreform im Rahmen von Hartz-IV. Hinzu kam der erhöhte Druck auf Arbeitslose durch Sanktionen und Kontrollen, damit sie sich aktiver an der Arbeitssuche beteiligen. Der Rückfall auf eine einkommens- und vermögenskontrollierte Grundsicherung nach spätestens einem Jahr Arbeitslosigkeit (für Ältere bis anderthalb Jahre), das Arbeitslosengeld II (ALG II), sollte den Anreiz, sich um Arbeit zu bemühen, deutlich verstärken. In die gleiche Richtung sollten neue Fördermaßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik wirken. Durch die so auch intendierte Reduzierung der Kosten für die Arbeitslosigkeitsversicherung erhoffte man sich, die Lohnnebenkosten und somit die Arbeitskosten zu senken, was die Arbeitsnachfrage für sich genommen begünstigen sollte.
Die Förderung atypischer Beschäftigung (Mini- und Midijobs) insbesondere im unteren Lohnsegment diente ebenfalls dazu, die Lohnnebenkosten und somit die Lohnkosten zu senken und – so die Argumentation – die Arbeitsnachfrage nach Geringqualifizierten, die man in diesem Segment überrepräsentiert vermutete, anzuregen. Hier ist aber durchaus als kontrovers anzusehen, ob nur die Lohnnebenkosten des unteren Segments gesenkt worden sind oder ob nicht darüber hinaus die Löhne in regulärer Beschäftigung insgesamt unter Druck gesetzt worden sind: Die weit reichende Kombilohnregelung durch Mini- und Midijobs seit 1999 sowie die Aufstockungsmöglichkeiten von Arbeitslosengeld II seit 2005 haben durchaus einen Niedriglohnsog hervorgerufen. Die verringerten Arbeitnehmersozialbeiträge, die mit Mini- und Midijobs einhergehen, sind de facto eine Subvention für Löhne bis 800 Euro/Monat. Minijobs zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen sehr hohen Niedriglohnanteil (niedriger als zwei Drittel des Medianstundenlohns) aufweisen.10 Es kann daher angenommen werden, dass die Beitragsreduzierungen letztendlich den Arbeitgebern in Form von niedrigen Bruttolöhnen zugute kamen.
Darüber hinaus wird vermutet, dass zumindest in den ersten Jahren der Reform viele sozialversicherungspflichtige Jobs in Minijobs umgewandelt wurden.11 Dies sollte sich an den Zahlen für den vorigen Zyklus zeigen. Die Frage von massiven Substitutionen wird immerhin kontrovers diskutiert.12
Die erwarteten Folgen waren, dass sowohl vom Arbeitsangebot (erhöhte Suchintensität der Arbeitslosen, Senken des Reservationslohns, größeren finanziellen Anreizen, der Jobaufnahme) als auch von der Arbeitsnachfrage (Lohnkostendämpfung, sei es durch Lohnnebenkostensenkung oder durch einen Lohndruck nach unten) Beschäftigungsimpulse ausgehen sollten.
Es sollte sich also sowohl ein höheres Arbeitsvolumen als auch eine erhöhte Zahl an Beschäftigten im Vergleich zum vorigen Zyklus zeigen. Da Arbeit dann günstiger wird, sollte zudem die Arbeitsintensität der Produktion steigen, d.h. die Arbeitsproduktivität geringer ausfallen als im vergangenen Zyklus.13 Noch stärker ausgeprägt als der Anstieg der Beschäftigung sollte der Rückgang der Arbeitslosigkeit sein. Denn neben den Abgängen in Beschäftigung sollten sich auch die Abgänge derjenigen auswirken, die nicht ernsthaft eine Beschäftigung anstreben oder anstreben können.
Im Endergebnis sollte es, trifft diese theoretische Argumentation zu, allen, die sich um Arbeit bemühen, besser gehen. Frühere Arbeitslose verfügen über eine Beschäftigung und damit höhere Einkommen. Unternehmen profitieren vom Lohndruck durch höhere Gewinne und ein verbesserte Wettbewerbsfähigkeit. Insgesamt sollte damit eine solcherart reformierte Wirtschaft kräftiger und beschäftigungsintensiver wachsen.
Es gibt jedoch auch Gegenargumente. Sie setzen in keynesianischer Denktradition an den Konsequenzen des Lohndrucks für die Einkommen an.14 Dabei werden die Vorteile für die Unternehmen nicht bestritten. Der zu erwartende Lohndruck wird ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und sie werden vor allem im Ausland ihren Absatz erhöhen. Für eine kleine offene Volkswirtschaft wäre dieses Argument bereits hinreichend, um höheres Wachstum und eine höhere Beschäftigung zu erzeugen. Für eine größere bzw. geschlossene Volkswirtschaft mit einem entsprechend größeren Binnenmarkt gilt dies allerdings nicht. Denn, so argumentieren Carlin/Soskice,15 der Lohndruck für die Arbeitslosen wird die Löhne und damit auch die Einkommen der Beschäftigten insgesamt negativ beeinflussen. Wird dies nicht an anderer Stelle kompensiert (durch z.B. Geld- oder Fiskalpolitiken) geraten die binnenwirtschaftlichen Einkommen und die Binnennachfrage, die für eine große Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung ist, unter Druck. Damit ist das Ergebnis von Arbeitsmarktreformen mindestens ungewiss, wenn nicht sogar negativ.
Abbildung 3
Zyklenvergleich Preise
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Abbildung 4
Zyklenvergleich
Reale Nettolöhne je Beschäftigten
(auf Basis des Harmonisierten Verbraucherpreisindex)
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Druck auf Arbeitslose
Ein erster aus angebotstheoretischer Sicht gewünschter Effekt ist eingetreten: Der Druck auf Arbeitslose hat sich beträchtlich erhöht. Dies zeigt eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) mit großer Deutlichkeit.16 So sind Arbeitsuchende nach Auskunft der Unternehmen seit den Arbeitsmarktreformen tatsächlich wesentlich konzessionsbereiter im Hinblick auf Arbeitsbedingungen und Löhne. Aber auch die Beschäftigten sind in ihrer Verhandlungsmacht um Löhne geschwächt, da sie die nunmehr schwerwiegenderen finanziellen Folgen von Arbeitslosigkeit fürchten. Die Reformen haben auch durch die starke Unterstützung atypischer Beschäftigung (Mini- und Midijobs, Zeitarbeit, Ein-Personen-Selbstständigkeit durch Ich-AG, befristete Verträge) und durch die Kombilohnregelungen von Hartz IV den Lohndruck auf die normale sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt.
Der Lohndruck ist also an verschiedenen Fronten zu spüren. Es macht sich eine tief greifende Veränderung des deutschen Arbeitsmarktes breit. Daher ist es nicht weiter erstaunlich, dass im jüngsten Aufschwung trotz der zum Teil sehr guten Konjunkturentwicklung die Löhne insgesamt nur sehr gering stiegen und damit die Lohnquote weiterhin rückläufig war (vgl. Abbildung 1 bis 4).17
So sind in diesem Aufschwung die Arbeitskosten je Stunde bisher nur um 1,6% gestiegen, im vorigen Zyklus war es noch ein Zuwachs von 5,4%. Da sich in den letzten drei Jahren die Arbeitszeit der Beschäftigten kaum änderte, stiegen die Arbeitskosten je Beschäftigten ebenfalls um rund 2%. Preisbereinigt sanken die realen Nettolöhne je Arbeitnehmer in diesem Konjunkturaufschwung um 5,5%. Insofern stimmt die Wahrnehmung vieler Arbeitnehmer, nicht am Aufschwung beteiligt zu sein, sondern sogar noch zu verlieren. Profitiert haben bislang nur die (sozialversicherungspflichtig) Beschäftigten, die zusätzlich eingestellt wurden, und die Bezieher von Einkommen aus Gewinnen und Vermögen.18 Dieses Ergebnis ist insofern bedeutend, als es deutlich macht, dass dieser Aufschwung durch eine gewaltige Einkommensumverteilung gekennzeichnet ist, die sich als Folge der gedämpften Lohnsteigerungen einstellt. Die höheren Einkommen, die durch die im Aufschwung zusätzlich Beschäftigten und höhere Gewinne entstanden sind, haben die Einbußen bei den Lohn- und Transfereinkommen nicht kompensieren können, denn die realen verfügbaren Einkommen sind in diesem Aufschwung bislang konstant geblieben, während sie im vorigen noch um knapp 5% zunahmen. Die Beschäftigungsdividende des Lohndrucks, so es die zusätzlichen Arbeitnehmer denn gibt, fällt somit für sie auf jeden Fall zu gering aus.
Abbildung 5
Zyklenvergleich Arbeitsvolumen
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Abbildung 6
Zyklenvergleich Beschäftigung
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Beschäftigungswirkung der Reformen
Die Berechnungen stützen sich auf zwölf Quartale konjunkturellen Aufschwungs (vom 1. Quartal 1997 bis zum 1. Quartal 2000 und vom 4. Quartal 2004 bis zum 4. Quartal 2007). In beiden Zyklen ist dies eine Spätphase mit hohen Zuwächsen an Beschäftigung. Bemerkenswert ist, dass nach zwölf Quartalen in beiden Perioden das reale Bruttoinlandsprodukt jeweils um gut 7% gestiegen ist. Dies erleichtert einen Vergleich, da unterschiedliche Wachstumseffekte keine Rolle spielen dürften.
Im Hinblick auf die Beschäftigung zeigt sich denn auch eine erste wesentliche Divergenz. Das Arbeitsvolumen, gemessen in geleisteten Arbeitsstunden, ist im derzeitigen Zyklus um einen Prozentpunkt höher als im vorigen. Für das Arbeitsvolumen der abhängig Beschäftigten sind es rund 0,7 Prozentpunkte. Damit haben die Reformen zumindest in gewissem Ausmaß das erwünschte Ergebnis gezeigt, nämlich die Beschäftigung erhöht. Dieses Ergebnis entspricht dem des Sachverständigenrates19 auf der Basis einer ähnlichen Zykluseinteilung aber einer älteren Datenbasis, sowie dem der Bundesbank,20 deren Resultate aber auf einer völlig anderen Zykleneinteilung und ebenfalls einer älteren Datenbasis beruhen, und auch dem des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB),21 die allerdings mit Jahresdaten arbeiten.
Den Aufschwung ausgelöst haben die Reformen definitiv nicht. Denn zu Beginn des derzeitigen Aufschwungs Ende 2004 war die Beschäftigungstendenz noch negativ. Erst nach sechs Quartalen, also mehr als ein Jahr nachdem die Hartz-IV-Gesetzgebung verabschiedet worden war, kam es zur Trendwende, und der Arbeitseinsatz begann zu steigen. Bereits nach zwei Jahren war die Zunahme größer als im vorigen Aufschwung. Der Abstand stieg sogar auf über einen Prozentpunkt an, verringerte sich in der Folge aber etwas.
Nicht in dieses positive Bild passt, dass sich die Zahl der Beschäftigten in diesem Aufschwung weniger erhöht hat als im vorigen. Hier macht sich eine Besonderheit des vergangenen Aufschwungs bemerkbar. Seinerzeit wurden die bereits oben erwähnten Mini-Jobs eingeführt. Die Zahl derartiger Beschäftigungsverhältnisse stieg damals rasch an. Dies dürfte die Zahl der Beschäftigten merklich stärker erhöht haben als sonst üblich. Daher wird wohl auch die Zahl der Erwerbstätigen im Zyklusvergleich für den vorigen Aufschwung tendenziell überzeichnet sein, so dass der Abstand geringer sein wird als hier ausgewiesen. Dafür spricht auch, dass die Entwicklung der (ungeförderten)22 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in diesem Zyklus inzwischen kräftiger ausfällt als im vorigen. Allerdings liegt das absolute Niveau nach 12 Quartalen mit knapp 27 Mio. Personen genau da, wo der letzten Zyklus angefangen hatte (1. Quartal 1997).
Abbildung 7
Zyklenvergleich Produktivität
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Abbildung 8
Zyklenvergleich Arbeitslosigkeit
Zyklus I: 1. Quartal 1997 bis 1. Quartal 2001; Zyklus II: 4. Quartal 2004 bis 3. Quartal 2007.
Quelle: Destatis, eigene Berechnungen.
Die starke Ausweitung von Minijobs schlägt sich wahrscheinlich auch im Produktivitätsvergleich nieder, da die Unternehmen mit der Vielzahl von Minijobs auch versuchten, Rationalisierungserfolge zu erzielen.23 Tatsächlich ist die Produktivität der Arbeit im jüngsten Aufschwung, allerdings erst seit kurzem (zwei Quartale), niedriger als im vorigen. Im vierten Quartal 2007 war sie sogar rückläufig. Dies ist aber vor dem Hintergrund des sich abschwächenden Wachstums zu sehen, da die Beschäftigung nur verzögert auf konjunkturelle Tempowechsel reagiert. Insgesamt zeigt aber der Produktivitätsvergleich, dass derzeit noch kein eindeutiges Urteil darüber möglich ist, ob in diesem Aufschwung die Produktion wegen der Lohnmoderation arbeitsintensiver gestaltet wurde.
Klarer fällt das Urteil im Hinblick auf die Zahl der Arbeitslosen aus. Sie ist in diesem Aufschwung spürbar stärker gesunken. Am Beginn sah es noch anders aus; seinerzeit lag die Arbeitslosigkeit noch über der Quote im vorigen Aufschwung. Dass danach die Arbeitslosigkeit in diesem Aufschwung vergleichsweise stärker zurückgegangen ist, hat einen anderen Grund: Das Arbeitsangebot geht derzeit zurück, während es im vorherigen Aufschwung noch relativ stark zunahm. Neben der guten Konjunktur ist also ein nicht zu vernachlässigender Angebotseffekt am Werk. Die Arbeitslosenzahl ist auch noch stark von den statistischen Effekten der Einführung von Hartz IV geprägt; nach der außerordentlichen Zunahme im Januar 2005 werden bis heute die Statistiken durch die „intensivere Betreuung von Arbeitslosen sowie die systematische Überprüfung des Arbeitslosenstatus“ bereinigt und durch das Einsetzen des seit 2006 neuen Saison-Kurzarbeitergeldes günstig beeinflusst.24
Wem hat es genutzt?
Zieht man eine vorläufige Bilanz der Arbeitsmarktreformen, fällt das Urteil doch sehr gemischt aus. Es hat sich als Illusion erwiesen, dass es nach diesen am Angebot orientierten Reformen am Ende allen besser gehen würde. Tatsächlich sind die Arbeitseinkommen unter Druck geraten und die Einkommenssituation der abhängig Beschäftigten hat sich im Vergleich zum vorigen Aufschwung bei insgesamt ähnlichem Wachstum verschlechtert. Hingegen sind die Gewinn- und Vermögenseinkommen vergleichsweise deutlich gestiegen.
Die Beschäftigung hat sich zwar stärker erhöht, jedoch nicht stark genug, um die durch Lohndruck geschwächten Einkommen zu stabilisieren. Fällt man daher sein Urteil ausschließlich auf der Basis der Beschäftigung wie der Sachverständigenrat und die Bundesbank, käme man zu vorsichtig positiven Schlussfolgerungen, die aber die Einkommenswirkungen völlig vernachlässigen. Positiv ist freilich, dass die Arbeitslosigkeit auch im Zyklenvergleich spürbar zurückgegangen ist. Der Erfolg ist jedoch primär durch das abnehmende Arbeitsangebot zu erklären. Wem haben also die Reformen genutzt? Mit Sicherheit den Unternehmen und den Gewinnbeziehern, vielleicht den Arbeitslosen, mit Sicherheit nicht den Beschäftigten insgesamt.
- 1 So M. Burda laut Bericht der Financial Times Deutschland vom 19.2.2008. Download 19.2.2008: http://www.ftd.de/wirtschaftswunder/index.php?op=ViewArticle&articleId=1185&blogId=10.
- 2 Unter Siehe G. Horn : Structural Reforms and Macroeconomic Policy, in: A. Watt, R. Janssen (Hrsg.): Delivering the Lisbon Goals. The role of macroeconomic policy, Brüssel 2006. W. Carlin, D. Soskice: Reformen, makroökonomische Politik und Wirtschaftsentwicklung in Deutschland, S. 107-109, in: R. Schettkat, J. Langkau (Hrsg): Aufschwung für Deutschland, Bonn 2007.
- 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Das Erreichte nicht verspielen, Jahresgutachten 2007/2008, Wiesbaden 2007, S. 309ff.; Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Nr. 8, Frankfurt/Main 2007, S. 47-48; RWI: Konjunkturberichte, Nr. 58(2), Essen 2007, S. 159-161; Vgl. H.-U. Bach, H. Gartner, S. Klinger, T. Rothe, E. Spitznagel: Arbeitsmarkt 2007/2008 – Ein robuster Aufschwung
mit freundlichem Gesicht, in: IABKurzbericht, Nr. 15. - 4 Vgl. G. Horn, C. Logeay, S. Tober: Methodische Fragen mittelfristiger gesamtwirtschaftlicher Projektionen am Beispiel des Produktionspotenzials, in: IMK- Studies, Nr. 1, 2007.
- 5 Vgl. R. Hodrick, E. Prescott: Post-war business cycles: an empirical investigation, in: Journal of Money, Credit and Banking, 29 (1997), 1, S. 1-16.
- 6 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Das Erreichte nicht verspielen, Jahresgutachten 2007/2008, Kasten 14, Wiesbaden 2007;
IMK: Der Aufschwung geht weiter, Frühjahrsprognose des IMK für 2007, in: IMK Report, Nr. 19, April 2007; G. Horn, C. Logeay, D. Stapff : Viel Lärm um Nichts?, in: IMK- Report, Nr. 20, 2007; G. Horn, K. Rietzler: Zu wenig Investitionen in Deutschland, in: IMK Report, Nr. 24, 2007. - 7 Vgl. OECD: The OECD Jobs Study, Facts, Analysis, Strategies, Paris 1994; H.-W. Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?, Berlin 2003; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zwanzig Punkte für Wachstum und Beschäftigung, Jahresgutachten 2002/2003, Wiesbaden 2002.
- 8 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung:
Zwanzig Punkte für Wachstum und Beschäftigung, Jahresgutachten 2002/2003, Wiesbaden 2002. - 9 Vgl. OECD, a.a.O.
- 10 Vgl. G. Bosch, T. Kalina: Niedriglöhne in Deutschland – Zahlen, Fakten, Ursachen, in: G. Bosch, C. Weinkopf (Hrsg.): Arbeiten für wenig Geld – Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland, Frankfurt/Main 2007, S. 20-105.
- 11 Vgl. H. Rudolph: Mini- und Midi-Jobs: Geringfügige Beschäftigung im neuen Outfit, in: IAB-Kurzbericht, Nr. 6, 2003; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Erfolge im Ausland – Herausforderungen im Inland, Jahresgutachten 2004/2005, Kasten 12, Wiesbaden 2004; J. Schupp, E. Birkner: Kleine Beschäftigungsverhältnisse: Kein Jobwunder. Dauerhafter Rückgang von Zweitbeschäftigungen?, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 34, Jahrgang 71, 2004.
- 12 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Mini- und Midijobs in Deutschland, Sonderbericht der Bundesagentur, Nr. 12, Nürnberg 2004; Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Nr. 2/2005, S. 40-41.
- 13 P. Bofinger hat mit Recht auf die Ambivalenz einer solchen Entwicklung hingewiesen, da sie auch zu niedrigerem Realeinkommenszuwachs führt, Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2007/2008, a.a.O., Ziffer 505 ff.
- 14 Vgl. W. Carlin, D. Soskice, a.a.O.
- 15 Ebenda.
- 16 Vgl. A. Kettner, M. Rebien: Hartz-IVReform: Impulse für den Arbeitsmarkt, in: IAB-Kurzbericht, Nr. 19, 2007.
- 17 Vgl. G. Horn, C. Logeay, R. Zwiener: Wer profi tiert vom Aufschwung?, in: IMKReport, Nr. 27, 2008.
- 18 Vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Nr. 9/2007.
- 19 Vgl. Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2007/2008, a.a.O.
- 20 Vgl. Deutsche Bundesbank: Monatsbericht, Nr. 8/2007.
- 21 Vgl. H.-U. Bach, H. Gartner, S. Klinger, T. Rothe, E. Spitznagel, a.a.O..
- 22 Also ohne Minijobs, Ein-Euro-Jobs und Beschäftigungsschaffende Maßnahmen im weiteren Sinne.
- 23 Vgl. D. Voss-Dahm: Verdrängen Minijobs „normale“ Beschäftigung? Warum die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigung erfolgreich und zugleich problematisch ist. Das Beispiel des Einzelhandels, in: Jahrbuch 2005 des Instituts Arbeit und Technik im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, S. 232-246.
- 24 Vgl. Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit: Der Arbeits-und Ausbildungsmarkt in Deutschland, Februar 2008, Nürnberg.
Agenda 2010 und Hartz-Reformen: Erfolg oder Reformirrtum?
Gegen viele Widerstände und trotz des erheblichen und durch jüngste Wahlerfolge beflügelten Störfeuers durch populistische Politiker („Hartz IV ist Armut per Gesetz“) wurden in der inzwischen beendeten Ära der Bundesregierung Schröder entscheidende Weichen für eine umfassende Neuausrichtung der deutschen Arbeitsmarktpolitik gestellt. Sie bilden das Herzstück der vom damaligen Bundeskanzler Schröder am 14. März 2003 verkündeten Agenda 2010, obwohl diese auch andere Politikbereiche im Blick hatte.
Dieser Beitrag argumentiert, dass die sogenannten Hartz-Reformen, die in vier Paketen jeweils zum 1. Januar der Jahre 2003 (Hartz I und II), 2004 (Hartz III) und 2005 (Hartz IV) in Kraft traten, im Prinzip eine Flucht nach vorne darstellten und im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten der aktiven Arbeitsmarktpolitik durchaus Erfolge erzielen konnten. Ihre Formulierung war eine letztlich unvermeidliche Antwort auf die lang anhaltende Schwäche der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Sie rüttelten an festgefahrenen Strukturen, wie etwa der hoheitlichen Attitüde der Arbeitsvermittlung, und am vormals unangetasteten Mythos einer ausschließlichen Opferrolle der Arbeitslosen. Mit der Einführung des Prinzips des „Förderns und Forderns“ wurde erstmals durch den Gesetzgeber festgeschrieben, dass Arbeitslose eine gewisse Eigenverantwortung für ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt (oder deren Ausbleiben) haben, aber auch die Arbeitsvermittlung effizienter zu gestalten sei.
Die Diskussion um die Hartz-Reformen
Die politische und gesellschaftliche Debatte der vergangenen Jahre war kein Wegbereiter für diese Reform des Arbeitsmarkts. Die Hartz-Reformen waren eher ein machtpolitischer Coup, ausgelöst durch die peinliche Offenbarung der mangelnden Leistungsfähigkeit staatlicher Arbeitsmarktpolitik, denn die Konsequenz eines breit angelegten Reformwillens. Die Hartz-Reformen stehen somit auch keineswegs im Widerspruch zum Eindruck einer weitgehend vom Willen zum Machterhalt getriebenen und vor allem dem Pragmatismus verpflichteten rot-grünen Bundesregierung.1 Ähnlich wie bei der überraschenden Entscheidung, 2005 eine vorzeitige Bundestagswahl anzustreben, hatte die sozialdemokratische Basis auch hier lediglich die Wahl zwischen der Akzeptanz der Vorgabe durch die charismatische Leitfigur Schröder und der politischen Niederlage. Der 2005 mit großem Erfolg geführte Bundestagswahlkampf des damaligen Kanzlers beruhte daher auch nicht von ungefähr auf einer taktisch motivierten radikalen Abkehr von der eigenen Reformpolitik.
Mittlerweile hat die Große Koalition einen „sozialreformerischen Kuschelkurs“ eingeschlagen und auf die konsequente Fortsetzung des Reformkurses am Arbeitsmarkt verzichtet.2 Stattdessen steht eher ein Rückbau der Hartz-Reformen zur Diskussion und es wird mit der möglichen Setzung staatlich fixierter Mindestlöhne sogar heftig über die Einführung eines neuen Regulierungselements am Arbeitsmarkt gestritten. Gleichzeitig haben die entschiedenen Gegner der Hartz-Reformen am linken politischen Rand jüngst beachtliche Wahlerfolge erzielt, was die Reformbefürworter angesichts des bereits laufenden Bundestags-Vorwahlkampfs offenbar sehr in die Defensive drängt. Dabei hat sich in den vergangenen zwei Jahren ein bemerkenswerter Abbau der Arbeitslosigkeit ergeben, den die Reformbefürworter mit gewissem Recht als einen Beleg für deren Wirksamkeit ins Feld führen könnten. Für deren Gegner ist dies hingegen eher unbequem, weshalb sie die Position verfechten, der Aufschwung käme bei den Arbeitnehmern nicht an.
Eine verwirrte Öffentlichkeit fragt sich angesichts dieses Hin und Her der Politik und der alles andere als entschlossenen Verteidigung selbst durch ihre ursprünglichen Befürworter umso kritischer, was denn die Hartz-Reformen letztendlich gebracht haben. Natürlich kommt diese Frage angesichts der begrenzten Erfahrungen mit dem neu ausgerichteten Sozialstaat nach den ersten Jahren seines Wirkens noch immer zu früh, aber eine erste Antwort ist sicherlich: eine gigantische Ausweitung des deutschen Sozialstaates.3 Statt einer Kürzung der Sozialausgaben, wie es die Parolen vom „Sozialabbau“ vermuten ließen, sind die staatlichen Ausgaben aufgrund der Hartz-IV-Reform im ersten Jahr ihrer Gültigkeit um rund 8 Mrd. Euro gestiegen.4 Ein Schlüssel zu diesem Anstieg waren die damals noch recht ungünstige gesamtwirtschaftliche Aktivität bzw. die damit einhergehenden Probleme am Arbeitsmarkt. Allerdings hatte die Politik im Vorfeld auch nicht damit gerechnet, dass sich als Reaktion auf die mögliche Anspruchsberechtigung neue „Bedarfsgemeinschaften“ bilden würden, was nahezu die Hälfte dieses Anstiegs erklärt.
Eine zweite Antwort scheint auf den ersten Blick ebenfalls offensichtlich. War die gesamtwirtschaftliche Aktivität bis einschließlich 2005 noch äußerst ernüchternd, obwohl das Wachstum der Weltwirtschaft wie ein gewaltiges Konjunkturprogramm für die deutsche Wirtschaft wirkte,5 so fielen das Wachstum und der Abbau der Arbeitslosigkeit in den Jahren 2006 und 2007 sehr erfreulich aus.6 Allerdings greift ein bloßer Vorher-Nachher-Vergleich von Arbeitslosenzahlen zu kurz, denn neben konjunkturellen Schwankungen spielen Veränderungen im Zuge der Globalisierung eine erhebliche Rolle. So hat sich auch innerhalb der vergangenen Jahre die Wettbewerbsfähigkeit niedrig qualifizierter Arbeitnehmer angesichts der stetig wachsenden Konkurrenz aus Niedriglohnländern weiter vermindert. Die richtige Frage sollte daher nicht lauten, ob die Arbeitslosigkeit nach Einführung der Hartz-Reformen gestiegen oder gefallen ist, sondern, ob die Beschäftigung weniger stark unter Druck geraten ist, als es ohne diese Reformen der Fall gewesen wäre. Dies ist zwar nur sehr schwer zu beantworten, aber ein starker Beleg gegen die Wirksamkeit der Hartz-Reformen sähe jedenfalls anders aus.
Schließlich wirken die Hartz-Reformen, drittens, in unterschiedlicher Weise auf verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern. So mussten sich vor allem diejenigen Langzeitarbeitslosen, die vor ihrer Arbeitslosigkeit ein hohes Arbeitseinkommen aufgewiesen hatten und die mit Hartz IV das vormalige Privileg recht hoher Lohnersatzleistungen verloren haben, als eindeutige Verlierer dieser Reform fühlen. Genau dies war natürlich auch beabsichtigt, wollte man sie doch „aktivieren“. Es ist allerdings weitgehend offen, inwieweit nicht auch diese Arbeitnehmer letztendlich von den Reformen profitiert haben, denn diese machten mit dem Ansatz des „Förderns und Forderns“ die Arbeitsmarktpolitik insgesamt erfolgreicher und veränderten nicht nur die Lohnersatzleistungen. So wird beispielsweise der Zugang zu Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung erfolgsorientierter gehandhabt als zuvor.
Versagen der aktiven Arbeitsmarktpolitik
Ursprünglich erschöpften sich die Aufgaben der Bundesagentur für Arbeit bzw. ihrer Vorgängerin in der Verwaltung der niedrigen Arbeitslosigkeit.7 Erst die Ölkrise von 1973/74 und die wirtschaftspolitischen Fehler, die bei ihrer Bewältigung gemacht wurden, hievten die Arbeitslosigkeit auf ein erstes bedenkliches Sockelniveau und veränderten das Aufgabenspektrum der Bundesagentur für Arbeit hin zu einer staatlichen Einrichtung, die über ein breites Instrumentarium, z.B. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), aktiv in das Arbeitsmarktgeschehen eingriff. Die Betonung lag dabei zunächst auf dem Bemühen, die Anpassung der Arbeitnehmer an den wirtschaftlichen Strukturwandel gezielt zu beflügeln, etwa durch Umschulung. Freilich war in dieser veränderten Rolle der Ansatz einer Erfolgskontrolle durch unabhängige Beobachter nicht einmal im Keim angelegt.
Bis zur deutschen Wiedervereinigung blieb dieses Aufgabenspektrum weitgehend unangetastet. Nicht zuletzt die massiven Arbeitsmarktprobleme im Osten Deutschlands, die durch den Übergang von einer Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft in den frühen 1990er Jahren aufgedeckt wurden, führten dazu, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik bis zur Jahrtausendwende überwiegend als Instrument verstanden wurde, um die sozialen Folgen der Beschäftigungslosigkeit abzufedern.8 Dieses Verständnis drückt sich unter anderem in einem deutlich höheren Anteil des Einsatzes von ABM in den neuen Bundesländern aus.9 Anreizmaßnahmen, wie etwa Lohnsubventionen, wurden vergleichsweise wenig beachtet. Weder gab es zu dieser Zeit handfeste Anhaltspunkte über die Wirksamkeit noch wurde die Frage nach einer systematischen Evaluierung der eingesetzten Instrumente von Politik oder Verwaltung aufgeworfen. Dementsprechend gab es in dieser Zeit auch keine formale Strategie bei der Zuweisung von Arbeitsuchenden zu unterschiedlichen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen („Profiling“).
In einem ersten wichtigen Reformschritt sah das Arbeitsförderungsreformgesetz (AFRG) von 1998 die Dezentralisierung der Entscheidungen über den Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente von der Ebene der Landesarbeitsämter zu den Arbeitsamtsbezirken vor.10 Das Job-Aqtiv-Gesetz von 2002 war sodann der direkte Vorläufer der Hartz-Reformen, der jedoch ebenfalls keine begleitende Evaluation nach wissenschaftlichen Standards vorsah. Dieses Gesetz sollte als eine umfassende Reform der Arbeitsmarktpolitik deren als vorwiegend reaktiv wahrgenommene Ausrichtung durch präventive Maßnahmen ersetzen.11 Dabei sollten sich auch die Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik an den individuellen Vermittlungserfordernissen des einzelnen Arbeitslosen orientieren, festgehalten durch eine Eingliederungsvereinbarung. Ein organisatorischer Umbau der Bundesagentur für Arbeit war allerdings nicht vorgesehen. Ein weiteres Standbein der Arbeitsmarktpolitik sollte die verstärkte Nutzung von öffentlich geförderter Beschäftigung sein, insbesondere in den neuen Ländern, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits eine umfassende internationale Literatur öffentlich subventionierter Beschäftigung ein schlechtes Zeugnis ausstellte.12
In ihrer Gesamtheit verfolgen die Hartz-Reformen die Strategie, den Umbau des deutschen Arbeitsmarkts durch drei ineinander greifende Ansätze voran zu treiben.13 An erster Stelle stehen (i) die Verbesserung der Arbeitsmarktpolitik und der Arbeitsvermittlung, unter anderem durch den Versuch einer umfassenden Modernisierung der Arbeitsverwaltung und die Einführung neuer Instrumente. Hinzu treten Bemühungen, die beiden Seiten des Arbeitsmarkts – vor allem für niedrig qualifizierte Arbeitnehmer – besser zu verknüpfen. So sollen durch eine Veränderung der Anrechte und Förderprinzipien (ii) die Arbeitslosen zu verstärkten eigenen Bemühungen um ihre Wiedereingliederung gedrängt und durch Deregulierungsmaßnahmen (iii) die Arbeitgeber zu einer höheren Arbeitsnachfrage angeregt werden. Diese Grundstrategie ist sicherlich sinnvoll. Zu befürchten war jedoch angesichts der Reformwiderstände in Deutschland, dass der Umbau der Arbeitsverwaltung zu zaghaft verläuft, dass das Beschneiden der Privilegien der (Langzeit-)Arbeitslosen bei seiner Umsetzung Angst vor der eigenen Courage erzeugt und dass die angekündigte Deregulierung eine mehr oder weniger rhetorische Übung bleibt.
Erste Reformerfolge
Auch wenn die aktuelle Diskussion diesen Befürchtungen neue Nahrung gibt, sind zumindest bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik gewisse Fortschritte zu erkennen. Die Aussicht auf eine aussagekräftige Überprüfung dieser Maßnahmen und ihrer Reform waren noch vor wenigen Jahren recht gering. Das Grundproblem jeder Wirkungsanalyse staatlicher Eingriffe ist die Unbeobachtbarkeit der kontrafaktischen Situation, d.h. der Arbeitsmarktsituation, die sich ergeben hätte, wenn die Teilnehmer an dieser bestimmten Maßnahme nicht teilgenommen hätten. Eine überzeugende Evaluierung wirtschaftspolitischer Maßnahmen muss deshalb ein glaubhaftes beobachtbares Gegenstück für diese Situation konstruieren, um erfolgreiche Maßnahmen als solche zu erkennen und erfolglose zu enttarnen. Vermittlungs- oder Verbleibsquoten oder Entlastungsrechnungen der Arbeitsagenturen werden dieser Anforderung in keiner Weise gerecht. Es war deshalb dringend notwendig, die Auswertung der Daten aktuellen wissenschaftlichen Standards anzupassen.
Dies setzt allerdings voraus, dass dieser Auswertungsprozess durch unabhängige Dritte durchgeführt wird und nicht intern in der Bundesagentur für Arbeit. Bis zum Jahr 2002 war nicht abzusehen, dass in der Politik hinreichende Kräfte freigesetzt würden, um diese Öffnung in Gang zu setzen. Der sogenannte Vermittlungsskandal von 2002 hat das Job-Aqtiv-Gesetz – und damit auch die Skepsis über mögliche umfassende Reformen – überholt, noch bevor es überhaupt in der praktischen Arbeit Fuß fassen konnte. Der Vermittlungsskandal konfrontierte die Öffentlichkeit mit der für sie erschreckenden Erkenntnis, dass die Arbeitsmarktpolitik bis dahin weitgehend nach Gefühl und ohne wirksame Erfolgskontrolle umgesetzt worden war und man einer rein internen Berichtslegung nicht unbesehen trauen konnte.
Unter diesem frischen Eindruck hat der Gesetzgeber eine Evaluation durch unabhängige Gutachter nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft eingefordert. Auch dies ist nichts weniger als eine kleine Revolution, durch die die Arbeitsmarktpolitik auf einen Schlag zum Vorreiter für andere Bereiche staatlichen Handelns geworden ist.
Nach der Formulierung eines umfassenden Evaluationskonzepts wurde der Bewertungsauftrag in Arbeitspakete und Module unterteilt.14 Mit der Bearbeitung dieser Module wurden Konsortien von Forschungsinstituten aus der Wirtschaftswissenschaft und der Soziologie beauftragt, die ihre Analysen auf administrative Verlaufsdaten und eigens durchgeführte Befragungen gestützt und teilweise anspruchsvolle ökonometrische Methoden genutzt haben. Die methodischen Herausforderungen waren besonders hoch, da die Reformen derart umfassend waren. Mit ihnen änderten sich die arbeitsmarktpolitischen Instrumente und die institutionellen Rahmenbedingungen gleichzeitig – gefragt ist aber nach ihrer jeweiligen isolierten Wirkung. Zudem waren alle Arbeitsuchenden von diesen Änderungen betroffen, so dass es keineswegs offensichtlich war, wer als Vergleichsgruppe herangezogen werden konnte.
Trotz dieser Widrigkeiten ist man auf der Basis der Gesamtheit der einzelnen Module bzw. Arbeitspakete nunmehr in der Lage, eine vorläufige Bilanz der Reformpakete Hartz I bis Hartz III zu präsentieren, während die Evaluierung von Hartz IV noch andauert. Ihre offene Flanke ist sicherlich die äußerst kurze Zeit, die seit den Reformen verstrichen ist. Schnelle Erfolge sind angesichts der massiven Probleme und Verkrustungen des Arbeitsmarkts nicht zu erwarten. Jedoch gibt es auch in der kurzen Frist bereits handfeste Erkenntnisse, die in der politischen Debatte und bei der künftigen Neujustierung der Arbeitsmarktpolitik zur Kenntnis genommen werden sollten. Ein komprimiertes Fazit ziehen Jacobi und Kluve,15 die den Reformen insgesamt attestieren, zu einer leicht gestiegenen Wirksamkeit (ausgehend von einem niedrigen Niveau) der Arbeitsmarktpolitik beigetragen zu haben. Dabei wird vor allem der Reorganisation der Arbeitsverwaltung ein recht positives Zeugnis ausgestellt, mit Ausnahme von der Auslagerung von Vermittlungsaktivitäten.
Gleichzeitig wurde offenbar die Wirksamkeit einiger arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen verbessert, insbesondere der beruflichen Fort- und Weiterbildung, die mittlerweile durch eine größere Zielgenauigkeit der Teilnehmerauswahl und verkürzte Maßnahmedauern charakterisiert ist. Subventionen zur Unterstützung der Einstellung von Arbeitnehmern mit Vermittlungshemmnissen (Eingliederungszuschüsse) bzw. zum Eintritt in die Selbständigkeit (Existenzgründungszuschüsse) wirken anscheinend positiv, auch wenn es schwierig sein dürfte, Mitnahmeeffekte zufriedenstellend auszuschließen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hingegen werden nach wie vor als schädlich für die Teilnehmer eingestuft. Zwar werden sie weitgehend nicht mehr genutzt, aber ihre negativen Implikationen für die Teilnehmer dürften sich auf die Arbeitsgelegenheiten (sogenannte Ein-Euro-Jobs) übertragen lassen. Insgesamt ist somit das Prinzip „Fordern und Fördern“ offenbar der richtige Schritt. Zu einem sehr ähnlichen Fazit gelangen Schneider et al.16
Die mittlerweile vorliegenden mikro-ökonometrischen Belege lassen sich durch eine Betrachtung auf regionaler Ebene und im internationalen Vergleich ergänzen. So analysieren beispielsweise Fertig et al.,17 welche Wirkungen die aktive Arbeitsmarktpolitik auf der Ebene der Arbeitsmarktregionen hat. Dabei stellt sich im Einklang mit den oben erwähnten Resultaten heraus, dass die aktive Arbeitsmarktpolitik nur einen bescheidenen Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit leisten kann. Im Hinblick auf den Policy Mix wird klar, dass die subventionierte Beschäftigung am zweiten Arbeitsmarkt keine Erfolg versprechende Strategie darstellt, während Lohnsubventionen am ersten Arbeitsmarkt trotz möglicher Mitnahmeeffekte aussichtsreicher sind. Auch diese Studie erkennt im Zuge der Hartz-Reformen leichte Fortschritte. Schließlich demonstrieren auch internationale Vergleiche,18 dass Fortbildungsmaßnahmen positiv wirken können, dies aber oft nicht tun, dass Subventionen am ersten Arbeitsmarkt und eine gezielte Unterstützung bei der Stellensuche häufig positive Effekte zeigen und dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ihren Teilnehmern eher schaden denn nützen. Diese Resultate ergeben sich unabhängig von allen berücksichtigten kontextuellen Faktoren.
Fazit
Intellektuell gestützt durch eine umfassende und handwerklich solide wissenschaftliche Begleitforschung stellen die Hartz-Reformen nicht nur eine moderate Verbesserung der deutschen Arbeitsmarktpolitik, sondern auch einen erheblichen Schritt in Richtung einer längst überfälligen Überprüfung staatlichen Handelns dar. Es ist nahezu unausweichlich, dass sich in Zukunft andere wirtschaftspolitische Eingriffe, z.B. bei der Forschungspolitik, im öffentlichen Gesundheitswesen oder im Bildungswesen, ebenfalls einer objektiven Überprüfung werden stellen müssen. Es zeigt sich in der Gesamtheit der Resultate deutlich, dass ein Ruf nach neuen Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik unangebracht ist, denn es gibt auch dort keine neuen Allheilmittel. Stattdessen sollte die aktive Arbeitsmarktpolitik als Ergänzung einer vernünftigen Lohnpolitik betrachtet werden. Ein begründeter Anlass, die Hartz-Reformen zurückzunehmen, existiert jedenfalls nicht.
*Ich bedanke mich für hilfreiche Kommentare bei Michael Fertig und Joachim Schmidt.
- 1 Zur Regierungsbilanz siehe unter anderem W. Eichhorst, K. F. Zimmermann: Eine wirtschaftspolitische Bilanz der rot-grünen Bundesregierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 43 (2005), S. 11-17.
- 2 Vgl. H. Schneider, W. Eichhorst, K. F. Zimmermann: Konzentration statt Verzettelung: Die deutsche Arbeitsmarktpolitik am Scheideweg, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Vol. 7 (2007), S. 379-397.
- 3 Vgl. H. Schneider et al., a.a.O.
- 4 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten 2005/06, Wiesbaden 2005.
- 5 Vgl. z.B. R. Döhrn , G. Barabas, H. Gebhard t , A.-R. Milton, G. Schäfer, T. Schmidt, H.-K. Starke, U. Taureg: Die wirtschaftliche Entwicklung im Inland: Aufschwung
kräftigt sich, in: RWI Konjunkturberichte, Vol. 57 (2006), Nr. 1, S. 25-71. - 6 Vgl. z.B. R. Döhrn , G. Barabas, H. Gebhard t , G. Schäfer, T. Schmidt,
K.-H Starke und T. Zimmermann: Die wirtschaftliche Entwicklung im Inland: Belastungen
für den Aufschwung nehmen zu, in: RWI Konjunkturberichte, Vol. 58 (2007), Nr. 2, S. 113-163. - 7 Vgl. L. Jacobi, J. Kluve: Before and After the Hartz Reforms: The Performance of
Active Labour Market Policy in Germany, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, Vol. 40
(2007), Nr. 1, S. 45-64. - 8 Vgl. K. F. Zimmermann: Eine Zeitenwende am Arbeitsmarkt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Vol. 16 (2005), S. 3-5.
- 9 Vgl. M. Fertig, Ch. M. Schmidt: Discretionary Measures of Active Labor Market
Policy: The German Employment Promotion Reform in Perspective, in: Schmollers Jahrbuch, Band 120 (2000), S. 537–565. - 10 Vgl. ebenda.
- 11 Vgl. K. F. Zimmermann, a.a.O.
- 12 Vgl. Ch. M. Schmidt, M. Fertig, J. Kluve, K. F. Zimmermann: Perspektiven
der Arbeitsmarktpolitik. Internationaler Vergleich und Empfehlungen für Deutschland,
Berlin 2001. - 13 Vgl. L. Jacobi, J. Kluve, a.a.O.; vgl. K. F. Zimmermann, a.a.O..
- 14 Vgl. M. Fertig, J. Kluve, Ch. M. Schmidt, H. Apel, W. Friedrich, H. Häerle: Die Hartz-Gesetze zur Arbeitsmarktpolitik. Ein umfassendes Evaluationskonzept, in: RWI Schriften, Vol. 74, Berlin 2004; M. Fertig, J. Kluve: A Conceptual Framework for the Evaluation of Comprehensive Labor Market Policy Reforms in Germany, in: Applied Economics Quarterly (Supplement), Vol. 55 (2004), S. 83-113; T. Hagen, A. Sperman: Hartz-Gesetze: Methodische Ansätze zu einer Evaluierung, in: ZEW Wirtschaftsanalysen, 74, Baden-Baden 2004.
- 15 Vgl. L. Jacobi, J. Kluve, a.a.O.
- 16 Vgl. H. Schneider et al., a.a.O.
- 17 Vgl. M. Fertig, J. Kluve, Ch. M. Schmidt: Die makroökonomische Wirkung aktiver Arbeitsmarktpolitik – eine Panelanalyse auf Ebene regionaler Arbeitsmärkte, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, Vol. 39 (2006), Nr. 3 und 4, S. 575-601.
- 18 Vgl. J. Kluve, Ch. M. Schmidt: Can Training and Employment Subsidies Combat European Unemployment?, in: Economic Policy, 35, 2002, S. 411-448; J. Kluve: The Effectiveness of European Active Labor Market Policy, in: RWI Discussion Papers, Vol. 37 (2006).
Die Agenda 2010: Ein geschichtsträchtiger gesellschaftspolitischer Reformaufbruch
Die Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom 14. März 2003 stellt das Kerndokument der als Agenda 2010 bekannt gewordenen Reformpolitik dar. Sie war der Fokus der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der zweiten Regierung Schröder,1 blieb aber auch prägend für die erste Hälfte der Legislaturperiode der seit 2005 amtierenden Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Eher technokratische Arbeitsliste, denn visionäres Grundsatzpapier, stellte diese Rede den Versuch dar, in Zeiten großer wirtschaftlicher und sozialer Verwerfungen und engster politischer Handlungsspielräume Orientierung und Selbstverpflichtung zu bieten. Sie knüpfte an vergangener Regierungspolitik an und band laufende Reforminitiativen, wie etwa die Hartz-Reformen, mit ein. Sie kündigte neue Maßnahmen an, häufig solche, die mit der Opposition, die über eine Mehrheit im Bundesrat verfügte, auch politisch zu realisieren waren. Sie appellierte an die gemeinsame Verantwortung aller gesellschaftspolitischen Kräfte, drohte aber auch insbesondere den Tarifpartnern mit unangenehmen Gesetzen, sollten sich diese nicht freiwillig besser in den Reformprozess einbringen. Theoretisch konnte sich die Regierung auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens der reformorientierten Kräfte in Deutschland stützen.2
Die wirtschaftspolitische Ausgangslage war denkbar schlecht. An den Börsen Deutschlands waren in den drei Jahren zuvor etwa 700 Mrd. Euro vernichtet worden. Das Land stand in der Mitte einer hartnäckigen Wachstumsschwäche, die deutlich strukturelle Ursachen hatte. Seit längerem blieb das Land bei den Wachstumszyklen hinter seinen zentralen Handelspartnern zurück. Die Lohnnebenkosten hatten schwindelnde Höhen erreicht und stellten eine zunehmende Belastung für die Konsumnachfrage der Arbeitnehmer und für den Wunsch der Unternehmer, Arbeitsplätze zu schaffen, dar. Wirtschaft und Gesellschaft erwiesen sich zunehmend als unfähig, die im Zuge der Globalisierung nötigen Anpassungen durchzuführen. Dazu trug der Primat der Sozialpolitik für Wirtschaft und Arbeitsmarkt, ein zentraler Konsens im deutschen Parteiensystem über viele Dekaden, wesentlich bei. Soziale Absicherung und Umverteilung standen immer über der Allokation, der besten Sicherung und der Grundlage für die Ausweitung der ökonomischen Potentiale. Als Folge wurden aus den Problemgruppen des Arbeitsmarktes dauerhafte Opfer: Gering Qualifizierte, ältere und ausländische Staatsbürger wurden mehr und mehr zu Dauerarbeitslosen. Angesichts geringerer Einzahlungen, höherer Belastungen und an dauernder Wachstumsschwäche drohten die sozialen Sicherungssysteme bereits vor den in den folgenden Jahren dazukommenden demographischen Umwälzungen zu kollabieren.
Ziele, Aufgaben und Meilensteine des Reformaufbruches
Nach dem Dornröschenschlaf der letzten Kohl-Regierungsjahre und den ersten sozialpolitisch motivierten Gehversuchen der neuen rot-grünen Regierung rang sich Bundeskanzler Schröder zu Beginn seiner zweiten Amtszeit zu einem konsequenten Reformkurs durch, der als einziger Ausweg aus einer wirtschaftspolitischen Sackgasse erschien. Die Agenda 2010 hatte deshalb das Ziel, die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung durch einschneidende Reformen nachhaltig zu verbessern. Dazu sollten Leistungen des Staates gekürzt, Eigenverantwortung gefördert und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abgefordert werden. Alle Kräfte der Gesellschaft sollten einen Solidarbeitrag liefern. Mit „Mut zur Veränderung“ sollte das Sozialsystem angepasst, nicht beschädigt, werden: „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.“3 Die Agenda 2010 stellt deshalb das Konzept von „Fördern und Fordern“ vor dem Hintergrund des Anpassungsdrucks aus der Globalisierung in den Kontext der Sicherung der sozialen Marktwirtschaft. Die Reforminitiative kann deshalb kaum als Versuch einer „Demontage des Wohlfahrtsstaates“ angesehen werden, wie das in der Hitze der gesellschaftspolitischen Diskussionen der letzten Jahre zu Unrecht häufig geschah.
Die Agenda 2010 brachte zahlreiche, weitreichende Strukturreformen in die Debatte ein und setzte bewusst eine langfristige Perspektive über mehrere Parlamentsperioden. Damit sollte kommuniziert werden, dass die Gesundung der Wirtschafts- und Sozialsysteme viele Jahre und hartnäckige Anstrengungen in Anspruch nehmen würde. Die Notwendigkeit eines langen Atems, mit Stetigkeit in der Politik und Geduld beim Wähler, blieb aber letztlich unvermittelt. Drei Schwerpunkte wollte die Regierungspolitik nach der Ankündigung des Bundeskanzlers legen: (i) Konjunktur und Haushalt, (ii) Arbeit und Wirtschaft (auch als „Herzstück“ der Reformagenda bezeichnet) und (iii) das System der Sozialen Sicherung.
Unter dem Stichwort „Konjunktur und Haushalt“ bekannte sich die Regierung zu makroökonomischen bzw. keynesianischen Elementen und damit zu einem Zusammenspiel von Struktur- und Nachfragepolitik: „Ohne Strukturreformen verpufft jeder Nachfrageimpuls. Ohne konjunkturelles Gegensteuern laufen die Reformen indessen ins Leere.“4 Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte flexibel interpretiert,5 die staatlichen Investitionen im Bund und die Finanz- und Investitionskraft der Kommunen sollten gestärkt werden. Im Schwerpunkt „Arbeit und Wirtschaft“ ging es um die Flexibilität der Arbeitsmärkte, die Verstärkung der Arbeitsanreize und die effektive Reorganisation der Arbeitsvermittlung. Beim „System der Sozialen Sicherung“ sollte über die Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe Hilfsbedürftigkeit an der Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme abgeprüft werden. Damit bekannte sich die Regierung zum Workfare-Prinzip („Wer zumutbare Arbeit ablehnt ..., der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“)6 Das Gesundheits-, Pflege- und Rentensystem sollte durch Leistungseinschränkungen und Wettbewerb finanzierbar gemacht werden, und dies sollte zur Senkung der Lohnnebenkosten beitragen.
Der Fokus der rot-grünen Regierungspolitik lag allerdings bei der Gesundung der Arbeitsmarktentwicklung. Dies erklärt, dass zahlreiche Seitenaspekte der Agenda 2010 in der Folgedebatte untergingen. Dazu gehören das Streben nach einer neuen europäischen Industriepolitik, die Förderung von Existenzgründungen, die Reform der Handwerksordnung, die Bekämpfung der Schwarzarbeit, die Verbesserung der Situation bei der Lehrlingsausbildung, die Förderung von Bildung, Forschung und Familie und der Bürokratieabbau. Die Agenda 2010 stand in der Folge eher für harsche Reformen am Arbeitsmarkt.
Die Bundestagswahl 2005 brachte führende Vertreter aller Parteien zur Erkenntnis, dass den Wählern viele komplexe Reformnotwendigkeiten (noch) nicht nahe gebracht werden können. Die SPD hatte die Wahl verloren, obwohl sie sich bereits im Wahlkampf von der Agenda 2010 zu distanzieren begann. Die CDU/CSU hatte sich mit einem reformerischen Wirtschaftsprogramm in die Auseinandersetzung begeben, war aber weit hinter dem lange erwarteten Wahlergebnis zurückgeblieben und hatte sich schließlich nur knapp an die Spitze der Regierung gerettet. Seitdem war für die Große Koalition aus relativen Wahlverlierern klar, dass eine Fortsetzung der Reformpolitik nur in Kombination mit einer ausgeprägten Umverteilungsrhetorik zu erreichen ist. Die Sanierungsministerien (Finanzen, Arbeit und Soziales, Gesundheit, Verkehr) verblieben bei den Sozialdemokraten, während sich die Union die Zukunftsthemen (Wirtschaft und Innovationen, Bildung und Forschung, Familie) sicherte. Um die Klimathematik kümmerte sich die Kanzlerin trotz eines aktiven sozialdemokratischen Umweltministers selbst.
Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Großen Koalition kann dennoch als Fortsetzung und Weiterentwicklung der Agenda 2010 verstanden werden. Das zeigte sich zunächst in der Konjunktur- und Haushaltspolitik: 2006 enthielt der Haushalt wegen eines explizit keynesianischen Investitionsförderungs- und Ausgabenprogramms zunächst nochmals stimulierende Elemente. Dies trug der in der Agenda dargelegten Auffassung Rechnung, dass Reformpolitik nur zusammen mit einer nachhaltigen Wirtschaftserholung Erfolg haben würde. 2007 kam es dann zu einer deutlichen Mehrwertsteuererhöhung, die erst 2008 zur versprochenen Senkung der Lohnnebenkosten führte.
Konjunkturpolitisch kann dieser Ablauf der grundsätzlich überfälligen Maßnahmen als sehr geglückt angesehen werden, da die Steuererhöhung in einer Boomphase erfolgte, währenddessen die Senkung der Lohnnebenkosten jetzt zu Zeiten einer Konjunkturabschwächung in Kraft tritt. Zu den erfolgreichen Reformakzenten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gehören deshalb die Föderalismusreform, die Sanierung der Staatshaushalte durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Senkung der Lohnnebenkosten durch einen Abbau der Abgaben bei der Arbeitslosenversicherung (finanziert durch Einsparungen im Budget der Arbeitsagenturen und durch die Mehrwertsteuererhöhung), die Verschiebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre und die Unternehmenssteuerreform. Eine ebenfalls beschlossene weitere Gesundheitsreform sollte die Kostensituation zumindest stabilisieren, ihr Erfolg steht aber in den Sternen. Trotz aller Unzulänglichkeiten hat die Große Koalition in der Reformpolitik mehr erfolgreich bewegt, als vermutlich alle denkbaren politischen Alternativen dies letztlich in dieser historischen Phase der Politik gekonnt hätten, da für diese Initiativen breite Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat nötig waren.
Schwierigkeiten und Erfolge der Agendapolitik
Die Reformagenda 2010 symbolisiert in Verbindung mit zahlreichen Neuorientierungen der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik einen Wendepunkt und einen Prozess der Umkehr. Die große Bedeutung dieses Aufbruchs wird erst im langfristigen Zusammenhang richtig erkannt werden, weil sie erst dann richtig wirksam werden wird. Wegmarken der Arbeitsmarktpolitik sind die präventive Orientierung der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und das Bekenntnis zu ihrer regelmäßigen wissenschaftlichen Evaluation sowie die Fokussierung der Arbeitsagentur auf Vermittlung, intensivere Kontakte zur Wirtschaft, die Verstärkung der Anreize zur Arbeitsaufnahme und den Abbau wirkungsloser Förderprogramme.
Elementar ist auch die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe mit einer konsequenten Orientierung an einer Arbeitsaufnahme bei Beschäftigungsfähigkeit. Dazu kamen deutliche Steuersenkungen, das Zuwanderungsgesetz, Liberalisierungen in Form einer Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten und der Reform der Handwerksordnung sowie eine Rehabilitierung der Hochschuleliten im Rahmen der Exzellenzinitiative. Die Politik begann zu verstehen, was die demographischen Umwälzungen mit der gleichzeitigen Alterung und Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung für Gesellschaft, Arbeitsmarkt und insbesondere die sozialen Sicherungssysteme bedeuten werden.
Allerdings war die Agenda 2010 nicht visionär, sie war nicht eingebettet in einen gesellschaftspolitischen Aufbruch, der das Land zu neuen festen Ufern hätte führen wollen. Ein politisches Konzept, das Freiheit, Flexibilität, Eigenverantwortung, aber auch soziale Verpflichtung und gesellschaftspolitische Solidarität verband, war nicht in Sicht. Zu komplex erschienen die ökonomischen Sachzwänge, als dass sie den Wählern wirklich nahe zu bringen waren.7 So wirkte der handelnde Politiker eher als Handwerker, der solide Probleme „fixte“, oder als Krisendompteur mediengerecht den Brand löschte – bevor er an anderer Stelle wieder aufloderte. Es ging letztlich im Schröder‘schen Sinne schlicht nur um die „richtige“ Wirtschaftspolitik.8 So ist die Chance verpasst worden, die „Gerechtigkeitsapostel“ der Gesellschaft in der Umverteilungsdebatte am Kern ihres Irrtums zu packen: In der Wohlstandsgesellschaft kann Gerechtigkeit nicht mehr primär als Nehmerqualität verstanden werden. Gerechtigkeit ist nicht mehr der Rechtsanspruch auf soziale Dauersubventionen, gerecht ist der faire Zugang zu Bildung und Arbeit. Die Debatte, Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit zu verstehen, hätte stärker geführt werden müssen. Die Perspektiven der Globalisierung und der Informations- und Kommunikationsgesellschaft für vielfältigere Lebensgestaltungen und die großen Chancen für eine bessere und flexiblere Vereinbarung von Beruf, Familie und Freizeit hätten thematisiert werden können.
Der größte Fehler in der Arbeitsmarktpolitik der Agenda 2010 liegt in der Konstruktion von „Hartz IV“, der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Das durch den Beschluss über Parteigrenzen hinweg zwischen Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft weithin unbestrittene Projekt geriet durch ein Musterbeispiel von Politikversagen in Misskredit. Ziel der Operation waren Effizienzgewinne in Verwaltung und Vermittlung, eine größere Nähe zu den arbeitsplatzschaffenden Unternehmen und stärkere Anreize zur Arbeitsaufnahme durch eine Absenkung oder Androhung der Kürzung von Leistungen. Die konkrete Umsetzung war im Rahmen des „Weihnachtsreformpokers“ im Dezember 2003 im Ringen zwischen Bundestag und Bundesrat und ihren kontroversen Mehrheiten ausgehandelt worden und legte die Grundlage für die Wahlniederlage Schröders 2005. Hartz IV bildet auch heute noch das (Negativ-)Symbol für die Reformpolitik der Agenda und dient als das Gespenst eines drohenden Endes des Wohlfahrtsstaates.
Unklare Verwaltungsstrukturen
Zwar gelang Anfang 2005 die geregelte Auszahlung des neuen Arbeitslosengeldes II, das die alte Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe ersetzte. Aber für die Verstärkung der Vermittlungsbemühungen blieb den damit betrauten Bürokratien kaum Zeit. Da sich die Parteien in dem legendären Verhandlungskompromiss im frühen Morgengrauen vor Weihnachten 2003 nicht darauf einigen konnten, wer genau für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen zuständig sein sollte, vereinbarte man ein organisatorisches Durcheinander. Zuständig wurde im Regelfall die Arbeitsgemeinschaft aus Bundesagentur für Arbeit und der jeweiligen Kommune oder die sogenannte „Optionskommune“ allein, wenn dies lokal präferiert wurde. Dazu kam, dass infolge ungeschickter oder offen beabsichtigter Detailregelungen die meisten Bezieher von Arbeitslosengeld II de facto mehr Geld als zuvor erhielten und aus der Tiefe des gesellschaftlichen Raumes eine Unzahl neuer Leistungsempfänger zu Nutznießern des Systems wurden. Da gleichzeitig die Arbeitslosenstatistik für diese Transferempfänger geöffnet wurde, explodierten die Arbeitslosenzahlen und diskreditierten das ganze Reformkonzept. Die Regierung stand somit im Frühjahr 2005 urplötzlich und völlig unberechtigt mit leeren Händen da: Ein im Ansatz richtiges Reformprogramm, das über Einschnitte zu mehr Beschäftigung hätte führen sollen, wurde zum Wohlfahrtsstaatsprogramm mit mehr Arbeitslosen.
Durch die Wissenschaft konnte Hartz IV aus Zeitgründen bisher noch nicht abschließend evaluiert werden. Aber organisationsökonomisch gesehen, waren die unklaren Verwaltungsstrukturen von Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen, da zudem nicht sorgfältig wissenschaftlich begleitet, und die Bildung der Arbeitsgemeinschaften selbst mit den zu erwartenden Reibungsverlusten zwischen den Akteuren von Anfang an als höchst problematisch angesehen worden. Schwerer wiegt noch, dass sich die Bundesagentur in ihrer Förderpolitik faktisch von den potentiell Langzeitarbeitslosen abgewandt hat und lieber einen Aussteuerbetrag zahlt, da sie dann am Ende nicht mehr für das Schicksal dieser Arbeitslosen verantwortlich ist. Dauerarbeitslose sind aber die wichtigste Zielgruppe der Arbeitsmarktpolitik, da sie für den hohen Sockel in der Arbeitslosigkeitsstatistik verantwortlich sind. Potentiell Langzeitarbeitslose (Ungelernte, Ältere, Bürger mit ausländischem Pass) müssten bereits bei Kündigung eine spezielle Betreuung erfahren, wie das bereits das „Job-Aqtiv-Gesetz“ von 2002 vorsah. Hier müssen eine konsequentere Organisation und bessere institutionelle Regelungen geschaffen werden, um dies effektiver in die Praxis umsetzen zu können.
Seit Dezember 2007 liegt aber nun ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor, das die Form der Verwaltung der Empfänger von Arbeitslosengeld II als nicht verfassungsgemäß bewertet.9 Im Fokus der Kritik steht, dass die Einrichtung der Arbeitsgemeinschaften dem Grundsatz der eigenverantwortlichen Aufgabenwahrnehmung der zuständigen Verwaltungsträger von Bund, Ländern und Gemeinden widerspricht. Die Entscheidung des Gerichts wird die Politik nun zwingen, die dringend nötigen Anpassungen voranzutreiben. Es wäre zu empfehlen, bei dieser Re-Reform nicht nur den juristischen sondern auch den ökonomischen Sachzwängen besser Rechnung zu tragen.
Wissenschaftliche Analyse
Ein bleibender Verdienst der Agenda 2010 ist, dass in ihrem Geleitzug das Prinzip der wissenschaftlichen, kontrafaktischen Analyse machtvoll und nachhaltig zumindest im Bereich der Arbeitsmarktpolitik Einzug gehalten hat. Seitdem gilt eine Maßnahme nur dann als erfolgreich, wenn sich die von ihr Betroffenen dadurch am Arbeitsmarkt besser stellen als ohne die Maßnahme. Inzwischen ist die Arbeitsmarktpolitik der mit Abstand am besten wissenschaftlich bewertete Politikbereich in Deutschland.10 Nur für einen Teil der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik liegt jedoch bisher eine belastbare Wirkungsanalyse vor. Systematisch untersucht wurden nur die „klassischen“ Instrumente der Arbeitsmarktpolitik sowie die mit den Hartz-Reformen neu eingeführten Maßnahmen. Von den evaluierten Instrumenten wirken die Eingliederungszuschüsse, d.h. befristete Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber, aber auch Maßnahmen der öffentlich geförderten beruflichen Weiterbildung, die Vermittlungsgutscheine sowie die Förderung der selbstständigen Tätigkeit vergleichsweise positiv. Negative Wirkungen auf die Aufnahme einer Beschäftigung gehen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Personal-Service-Agenturen aus.
Nach den jüngsten Evaluationsberichten (die nur knapp ein Drittel der Ausgaben abdecken) können 28% der Mittel als wirksam eingesetzt bezeichnet werden (Förderung der beruflichen Weiterbildung und der selbstständigen Tätigkeit sowie Eingliederungszuschüsse), während der Anteil negativ einzuschätzender Maßnahmen mittlerweile auf wenig mehr als 1% zurückgegangen ist (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Strukturanpassungsmaßnahmen und Personal-Service-Agenturen). Unklare oder neutrale Befunde zeigen sich bei 2% der Ausgaben (Transferleistungen und Beauftragung Dritter). Ohne Evaluation sind nach wie vor insbesondere die großen Ausgabenblöcke der Maßnahmen für Behinderte und für Jugendliche mit 16,3 bzw. 11,2%. Nicht evaluiert sind bis dato auch die Instrumente des Sozialgesetzbuchs II, welche 2006 Ausgaben von 3,8 Mrd. Euro bzw. ein Viertel der Aufwendungen darstellten.
Grundsätzlich haben sich viele der Vorschläge im Reformpaket der Agenda 2010 und der traditionellen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik als unwirksam erwiesen oder werden das noch bei weiteren Untersuchungen tun. Das kann auch an der entsprechenden Ausgestaltung oder der Umsetzung liegen. Politik wie Wissenschaft dürfen das Versagen solcher Instrumente nicht als Versagen der Politik oder der sie begleitenden Wissenschaft werten, denn gehandelt wird hier auf einem unsicheren Arbeitsfeld. Unwissenheit entsteht durch fehlende Erfahrungen. Dies erfordert den Mut zu Experimenten, aber auch die Bereitschaft, unproduktive Instrumente zurückzuziehen und produktive verstärkt einzusetzen. Die Bundesagentur für Arbeit geht inzwischen diesen Weg konsequent und hat dafür Anerkennung verdient. Generell ist die Arbeitsverwaltung auf dem Wege, den durch die Agenda 2010 formulierten großen Herausforderungen, zu fördern und zu fordern, gerecht zu werden. Der Bundesagentur sollte deshalb die Ausfüllung ihrer Möglichkeiten überlassen bleiben. Sie sollte dabei nicht durch ständig neue Gesetze und Regelungen durch die Politik bei der Erfüllung ihrer Aufgaben behindert werden.
Zwischenfazit
Die Erfolge der Agenda 2010 werden erst in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts in genügender Tiefe wissenschaftlich fundiert zu ermitteln sein. Dennoch stimmen viele Anzeichen positiv. Die Botschaft ist angekommen. Die seit der Bundestagswahl 2005 zunehmend aufkommenden Verteilungsdiskussionen und die daraus folgenden politischen Widerstände zeigen dies. Entscheidend ist, dass Kurs gehalten wird. Dies betrifft insbesondere das „Flagschiff“ der Agenda 2010, die Arbeitsmarktpolitik. Hier sind alle Richtungsentscheidungen getroffen, alle wesentlichen Instrumente bereitgestellt. Vor der Agenda gab es in Deutschland weniger ein Erkenntnis-, denn ein Entscheidungsproblem. Jetzt haben wir weniger ein Entscheidungs-, sondern ein Umsetzungsproblem. Die Reformpolitik muss konsequent umgesetzt werden. Die Bundesagentur in Nürnberg, aber auch Unternehmen und Gewerkschaften sind am Zug. Die eigentlichen Akteure aber sind die Arbeitslosen, die die Chancen und Herausforderungen, die Reformen und Wirtschaftsaufschwung in diesen Jahren bereit stellen, aktiv annehmen müssen.
Dass dies von Erfolg sein kann, zeigt eindrucksvoll die derzeitige Arbeitsmarktentwicklung:11 Wie in der Agenda angelegt, führen die Reformen getragen vom Wirtschaftsaufschwung nicht zu einem Nachhinken, sondern zu einem Voranschreiten der Verbesserung der Lage der Problemgruppen des Arbeitsmarktes. Junge, Ältere, Ungelernte, ausländische Mitbürger und generell die Langzeitarbeitslosen profitieren von diesem Aufschwung besonders. Sie sind bereit, schneller Arbeit aufzunehmen als früher. Was soll das Gerede, der Aufschwung komme nicht breit in der Bevölkerung an? Dies ist der Aufschwung für die Arbeitslosen. Sie erhalten viele sozialversicherungspflichtige, gute Jobs. Weit mehr, als das im letzten Aufschwung möglich war. Können wir zufriedener sein? Fehlversuche der sozialen Absicherung, wie die Wiederverlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I oder die Diskussion um den Mindestlohn, sind Rückschritte, die letztlich auf dem Rücken der Arbeitslosen ausgetragen werden. Vor ihnen muss gewarnt werden. Sie gefährden die bereits erreichten, aber auch die weiter möglichen Erfolge.
- 1 Für eine nähere Untersuchung vgl. Werner Eichhorst, Klaus F. Zimmermann: Die Agenda 2010 als Teil der rot-grünen Regierungspolitik, erscheint in: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Band 77 (2008). Zu einer Bewertung der Agenda 2010 vgl. auch die anderen Beiträge in dieser Ausgabe der Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, die ganz der Analyse dieser Reforminitiative gewidmet ist.
- 2 So hatten fast die gesamten deutschen Universitätsprofessoren der Nationalökonomie durch Unterschrift unter einem Reformaufruf die Richtung der Agenda 2010 unterstützt. Siehe die Dokumentation in Klaus F. Zimmermann (Hrsg.): Reformen – jetzt! So geht es mit Deutschland wieder aufwärts, Wiesbaden 2003, S. 193-199.
- 3 Vgl. die Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14.3.2003 vor dem Deutschen Bundestag, wiederabgedruckt im Appendix der Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Band 77 (2008).
- 4 Siehe Fußnote 3.
- 5 Vgl. Klaus F. Zimmermann: Nur Reformen retten den europäischen Stabilitätsund Wachstumspakt, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Vol. 53 (2004), Nr. 1, S. 72-80.
- 6 Siehe Fußnote 3.
- 7 Dazu trug sicherlich auch bei, dass die die Agenda 2010 unterstützende akademische Szene ständig auf die Notwendigkeit von weit größeren Reformen pochte, als sie in der Politik diskutiert wurden. Vgl. dazu die Beiträge in Klaus F. Zimmermann (Hrsg.): Deutschland – was nun? Reformen für Wirtschaft und Gesellschaft, München 2006.
- 8 Schröder hatte formuliert: „Es gibt keine linke oder rechte, sondern nur richtige Wirtschaftspolitik.“
- 9 Vgl. dazu auch die Beiträge im ZEITGESPRÄCH „Wie sollte die Betreuung der Langzeitarbeitslosen geordnet werden?“, in: WIRTSCHAFTSDIENST, 88. Jg. (2008), H. 2, S. 79-99.
- 10 Vgl. für einen Überblick über die Evaluationsergebnisse Werner E i c h h o r s t , Hilmar Schneider, Klaus F. Zimmermann: Konzentration statt Verzettelung: Die deutsche Arbeitsmarktpolitik am Scheideweg, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, Vol. 7 (2006), S. 377-394, und Werner E i c h h o r s t , Klaus F. Zimmermann: And Then There Were Four ... How Many (and Which) Measures of Active Labor Market Policy Do We Still Need?, in: Applied Economics Quarterly, Vol. 53 (2007), S. 243-272.
- 11 Vgl. dazu beispielsweise Karl B renke, Klaus F. Zimmermann: Reformagenda 2010 – Stukturreformen für Wachstum und Beschäftigung, in: DIW Wochenbericht, 75. Jg. (2008), Nr. 11, S. 117-124; und Anja Kettner, Martina Rebien: Hartz-IV-Reform: Impulse für den Arbeitsmarkt, in: IABKurzbericht, Nr. 19/2007.