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Die öffentlichen Haushalte sind durch die Wirtschafts- und Finanzkrise stark in Anspruch genommen. Außerdem wurde, noch bevor der Ausgang der Krise absehbar war, in Deutschland die Schuldenbremse beschlossen. Bei den Autoren besteht Einigkeit darüber, dass die Nachkrisenzeit einer sensiblen Fiskalpolitik bedarf. Über deren Ausgestaltung gehen die Auffassungen jedoch auseinander.

* Dieses Zeitgespräch basiert auf: Panel 3: Fiskalpolitik nach der Krise, der Jahrestagung 2010 des Vereins für Socialpolitik in Kiel.

Die fiskalpolitischen Handlungsspielräume Deutschlands mit der Schuldenschranke

Die Finanzkrise und der mit ihr verbundene Einbruch des Wirtschaftswachstums haben in den öffentlichen Haushalten in allen OECD-Ländern tiefe Spuren hinterlassen. Nun stellt sich die Frage, wie die Fiskalpolitik der kommenden Jahre gestaltet werden soll. Die aktuelle Konjunkturentwicklung zeigt deutliche Erholungstendenzen, gleichzeitig wird jedoch vielfach befürchtet, dass die wirtschaftliche Erholung in Europa erlahmen könnte. Der wichtigste Grund für diese Sorge besteht darin, dass viele Länder die Staatsverschuldung so weit in die Höhe getrieben haben, dass ihre Bonität an den Finanzmärkten in Zweifel gezogen wird und diese Länder nun gezwungen sind, ihre Staatsausgaben teils drastisch zu kürzen und Steuern zu erhöhen. Das gilt vor allem für die hoch verschuldeten Länder in der Eurozone, aber auch für andere, beispielsweise für Großbritannien.

Auch in Deutschland ist die Neuverschuldung im Laufe der Krise stark angestiegen, gleichwohl ist die Verschuldungssituation hier weniger kritisch. Die Bonität Deutschlands wird an den Finanzmärkten nicht in Zweifel gezogen, ganz im Gegenteil. Entsprechend sind die Zinsen deutscher Staatsschuldtitel sehr niedrig. Hinzu kommt, dass die konjunkturelle Entwicklung in der Eurozone derzeit asymmetrisch verläuft. In Deutschland scheint die wirtschaftliche Erholung deutlich dynamischer zu verlaufen als im Rest der Eurozone. Im Jahr 2010 wird das Wirtschaftswachstum voraussichtlich zwischen 3% und 4% liegen, während die Eurozone insgesamt wohl bei weniger als 2% Wachstum bleiben wird. Einige Länder werden möglicherweise sogar wirtschaftlich stagnieren. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Wirtschaftsleistung in Deutschland 2009 stärker eingebrochen ist als in den meisten anderen Ländern. Nach vorliegenden Prognosen wird die Wachstumsrate in Deutschland 2011 auch wieder niedriger sein und bei etwa 2% liegen. Dennoch wird der deutschen Fiskalpolitik im In- und Ausland vorgeworfen, angesichts der Möglichkeiten zu wenig für die Erholung der Weltwirtschaft zu tun und zu viel Gewicht auf die Rückführung der Staatsverschuldung zu legen.

Dieser Kritik hält die Bundesregierung entgegen, in Deutschland bestehe kein Konflikt zwischen Haushaltskonsolidierung und wirtschaftlicher Erholung, weil es in der Bevölkerung eine ausgeprägte Abneigung gegen Staatsverschuldung gebe, vor allem wegen der mit öffentlicher Verschuldung verbundenen Inflationsgefahren. Daher sei der Abbau der Defizite in den öffentlichen Haushalten kein Hindernis, sondern wegen seiner Vertrauen schaffenden Wirkung geradezu eine Voraussetzung für eine Rückkehr des Wirtschaftswachstums. Wichtiger als eine kurzfristige Stimulierung der Konjunktur sei eine nachhaltige Finanzpolitik. Auch vor dem Hintergrund der alternden und schrumpfenden Bevölkerung in Deutschland verbiete sich eine weitere Ausdehnung der Verschuldung. Hinzu komme, dass die Fiskalpolitik in Deutschland durch die neuen Verschuldungsregeln im Grundgesetz, die so genannte Schuldenschranke, in ihren Spielräumen für expansive Fiskalpolitik begrenzt sei.1

Die Regelungen zur Schuldenschranke verpflichten die Politik in Deutschland in der Tat dazu, das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt bis 2016 weitgehend abzubauen. Bis 2019 müssen die Bundesländer folgen. Das bedeutet, dass die vorhandenen Spielräume nicht allein von der wirtschaftlichen Lage bestimmt werden, sondern auch von den bestehenden Verfassungsregeln. Wegen der herausragenden Bedeutung dieser Regeln ist die Debatte über die deutsche Fiskalpolitik zu einem guten Teil zu einer Debatte über die Frage geworden, ob die Schuldenschranke die deutsche Fiskalpolitik über Gebühr einschränkt und daher eventuell reformbedürftig ist. Das Pro und Contra der Schuldenschranke steht deshalb auch im Mittelpunkt dieses Beitrags.

Die Argumente, die gegen die Schuldenschranke vorgebracht werden, lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Erstens werden grundsätzliche Argumente dagegen vorgetragen, die Finanzpolitik zu ausgeglichenen Haushalten zu verpflichten. Zweitens wird vorgebracht, die aktuelle wirtschaftliche und demographische Lage Deutschlands, die von der Wirtschaftskrise und der Alterung der Bevölkerung geprägt ist, spreche dagegen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Schuldenbremse einzuführen.

Grundlegende Einwände gegen die Schuldenschranke

Zunächst zu den grundlegenden Einwänden. Ist es sinnvoll, die Handlungsspielräume der Politik in Hinblick auf die Verschuldung durch Regeln einzuengen? Es gibt durchaus gute Argumente dafür, dem Staat das Instrument der Verschuldung nicht ganz aus der Hand zu nehmen. Richtig eingesetzt kann das Instrument Staatsverschuldung sehr nützlich sein. Genau an diesem Punkt setzen die Kritiker der Schuldenschranke an. Sie argumentieren, dass eine Begrenzung der Verschuldungsspielräume beispielsweise eine konjunkturgerechte Finanzpolitik verhindere. Denn es ist sinnvoll, in Zeiten schlechter Konjunktur Staatsdefizite zuzulassen, die dann in Zeiten guter Konjunktur wieder ausgeglichen werden können. Es kann darüber hinaus sachgerecht sein, öffentliche Investitionen mit Krediten zu finanzieren, um zu verhindern, dass gegenwärtige Generationen zu Gunsten künftiger Generationen übermäßig belastet werden. Spricht all dies nicht dafür, dass die Einführung der Schuldenschranke ein Fehler war, geboren aus einer kurzsichtigen Aversion gegenüber dem „Schuldenmachen“?

Das Argument, dass die Schuldenschranke im Grundgesetz nicht gebraucht wird, weil man damit einer optimalen Verschuldungspolitik die Spielräume nimmt, beruht auf einem Missverständnis. Wenn die Politik das Instrument der öffentlichen Verschuldung bisher so eingesetzt hätte, wie es die Theorie der optimalen Staatsverschuldung verlangt, dann hätte das dazu geführt, dass bei schlechter Konjunktur Schulden aufgenommen worden wären, die bei guter Konjunktur wieder getilgt worden wären; größere Investitionen wären mit Krediten finanziert worden, aber in dem Ausmaß, in dem der öffentliche Kapitalstock sich abnutzt, hätte man die Kredite wieder getilgt. Wenn die Welt so aussehen würde, käme wohl niemand auf die Idee, eine Schuldenschranke ins Grundgesetz zu schreiben. Die Realität sieht aber ganz anders aus.

Die Finanzpolitik der letzten vier Jahrzehnte bestand gerade nicht darin, bei schlechter Konjunktur Defizite zuzulassen und sie bei guter Konjunktur wieder auszugleichen. Tatsächlich wurde stets mehr ausgegeben, als der Staat einnahm. Dabei galt die Maxime, dass man dem Abschwung nicht „hinterhersparen“, den Aufschwung aber auch nicht „kaputtsparen“ darf. Es kann auch keine Rede davon sein, dass die Finanzpolitik besonderes Gewicht auf eine gerechte Lastenverteilung zwischen heutigen und künftigen Generationen gelegt hätte. Stattdessen sind die Interessen künftiger Generationen vernachlässigt worden. Die Einführung der Schuldenbremse ist gerade eine Reaktion darauf, dass es unter den bisherigen finanzpolitischen Spielregeln nicht gelungen ist, den Anstieg der Staatsverschuldung zu begrenzen.

Indessen sind die Regelungen der Schuldenschranke keineswegs so starr, wie oft behauptet wird. Sie lassen durchaus gewisse Spielräume für öffentliche Verschuldung zu. Beispielsweise sind die Verschuldungsspielräume bei schlechter Konjunktur größer als in Boomjahren. Die Kritik, dass die Regeln zur Berechnung der zulässigen Defizite unvollkommen sind, ist zweifellos berechtigt. Es wäre auch empfehlenswert, diese Regeln immer wieder zu evaluieren und sie gegebenenfalls anzupassen. Wenig überzeugend ist es jedoch, die Schuldenschranke mit dem Argument zu kritisieren, sie hindere die Politik daran, eine hypothetisch denkbare, ideale und jeweils situationsgerechte Finanzpolitik zu betreiben. Man müsste schon darlegen, dass die real existierende, aus dem demokratischen Prozess hervorgehende Finanzpolitik ohne die Schuldenschranke zu besseren Ergebnissen führt.

Das könnte man unter Verweis auf zumindest zwei außergewöhnliche Ereignisse versuchen. Das eine ist die Wiedervereinigung Deutschlands. Sie wäre ohne Staatsverschuldung kaum zu bewältigen gewesen. Das andere Ereignis ist die jüngste Finanzkrise. Im Fall der Finanzkrise würde wohl die in den Regelungen der Schuldenschranke vorhandene Klausel greifen, dass in Notsituationen eine zusätzliche Kreditaufnahme möglich ist. Im Fall historischer Umwälzungen wie der deutschen Wiedervereinigung hingegen würde die Klausel für Notfälle vermutlich nicht greifen. In solchen Situationen würde die Politik sich aber sicherlich auf eine Grundgesetzänderung verständigen können, die eine zeitlich begrenzte Ausdehnung der Verschuldung zuließe. Derartige Ausnahmesituationen sollten jedoch nicht die institutionellen Regeln für den Normalfall bestimmen.

Gegen die Schuldenschranke wird auch das folgende Argument angeführt: Um die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen zu sichern, brauche man nur sicherzustellen, dass die Schuldenquote sich stabilisiert. Dafür benötige man keinen ausgeglichenen Haushalt. Ein ausgeglichener Haushalt führe dazu, dass die Staatsschuldenquote dauerhaft gegen Null konvergiere, gehe also zu weit. Dazu kann man nur sagen: Richtig, aber für die heute lebenden Generationen wohl nicht relevant. Auch wenn der Staat in Deutschland sofort aufhört, neue Schulden zu machen, wird es viele Jahrzehnte dauern, bevor die Schuldenquote sich dem Wert Null nähert. Wenn das eintritt, wird sicherlich niemand etwas dagegen haben, neu über die Verschuldungsregeln nachzudenken.

Einwände gegen die Einführung der Schuldenschranke in der aktuellen Lage Deutschlands

Der Plan, eine Schuldenschranke im Grundgesetz zu verankern, ist im Rahmen der Föderalismuskommission II lange diskutiert und vorbereitet worden. Die entscheidenden Beschlüsse wurden aber im Mai 2009 gefällt. Das ist insofern bemerkenswert, als dies der Zeitpunkt war, an dem die aktuelle Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, aber durchaus unklar war, wann eine wirtschaftliche Erholung eintreten würde. Es ist also nicht so, dass die Schuldenschranke eingeführt wurde, weil man nicht genug Phantasie hatte, sich eine Wirtschaftskrise mit den Ausmaßen der jüngsten Finanzkrise auszumalen. Trotzdem wird gegen die Schuldenschranke immer wieder angeführt, die aktuelle Krise erfordere größere Spielräume für den Staat, sich zu verschulden und die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stärken. Daher komme die Schuldenschranke zum falschen Zeitpunkt.

Ich halte diese Kritik nicht für stichhaltig. Ganz im Gegenteil war es sogar sehr hilfreich, gerade im Mai 2009 die Schuldenschranke zu verabschieden. Das hat den folgenden Grund. Für die Wirksamkeit einer expansiven Fiskalpolitik kommt es nicht nur auf die unmittelbare Nachfragewirkung an, sondern auch auf die Auswirkungen auf die Zukunftserwartungen von Konsumenten und Investoren. Um Vertrauen zu schaffen, ist es wichtig, nicht nur kreditfinanzierte Ausgabenprogramme aufzulegen, sondern eine Strategie für den Ausstieg aus dieser Politik und den Abbau der Defizite zu liefern. Erst die Kombination aus beidem erlaubt es der Fiskalpolitik, in schweren Wirtschaftskrisen einen Beitrag zur Stabilisierung zu leisten. Aus diesem Grund kam die Schuldenschranke nicht zum falschen, sondern genau zum richtigen Zeitpunkt. Sie definiert einen sanften, schrittweisen Abbau der öffentlichen Defizite und verleiht diesem Ausstiegsplan eine hohe Glaubwürdigkeit. Die Schuldenschranke ist ein wichtiger Grund dafür, dass Deutschland trotz eines recht hohen Niveaus öffentlicher Verschuldung die Rolle eines Stabilitätsankers in der Eurozone spielen kann.

Eine andere Form der Kritik setzt an der demographischen Lage Deutschlands an und ihren Implikationen für die Lastenverteilung zwischen den Generationen. Der vorgesehene Defizitabbau auf Null innerhalb des kommenden Jahrzehnts setzt die derzeit im Berufsleben stehende Generation einer Doppelbelastung aus: diese Generation muss nicht nur höhere Steuern zahlen und auf öffentliche Leistungen verzichten, damit der Staatshaushalt ausgeglichen wird. Sie muss wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung auch höhere Sozialversicherungsbeiträge zahlen und stärker private Altersvorsorge betreiben. Deshalb sei diese Generation zu sehr belastet. Dieses Argument ist nicht falsch, aber unvollständig. Es ist gleichzeitig in Rechnung zu stellen, dass die geburtenstarken Jahrgänge sich derzeit in der Mitte ihres Erwerbslebens befinden und diese Generation weniger für Kinder sorgen muss als vorangehende Generationen. Damit besteht derzeit so etwas wie eine „demographische Dividende in Deutschland“2, die man unter allen Umständen dazu nutzen sollte, die Staatsverschuldung abzubauen oder sie zumindest einzudämmen. Der stärkste Anstieg der finanziellen Belastung der sozialen Sicherungssysteme durch die Alterung ergibt sich voraussichtlich erst in den Jahren ab 2020. Wenn es bis dahin gelingt, den Anstieg der Staatsverschuldung einzudämmen, ist schon viel gewonnen.

Gleichwohl muss man einräumen, dass es bei den heutigen jüngeren Beitragszahlern über den Lebenszyklus hinweg zu einer erheblichen Belastung kommt. In einer idealen Welt würde die Politik die Lasten aus der bislang angehäuften expliziten und impliziten Staatsverschuldung unter allen künftigen Generationen vielleicht gleichmäßig verteilen oder für eine andere auf gesellschaftlichem Konsens beruhende Lastenverteilung sorgen. Aber darauf zu setzen, dass dieser Idealzustand eintritt, wenn man auf die Schuldenschranke verzichtet, ist unrealistisch. Vermutlich würde die bisherige Praxis, Lasten durch Verschuldung in die Zukunft zu verlagern, weitergehen.

Verschiedentlich wird auch argumentiert, selbst ein hoher Schuldenstand des Staates sei dann kein Problem, wenn die öffentlichen Schuldtitel von Inländern gehalten werden und darüber hinaus die Zinsen so niedrig sind wie gegenwärtig. Denn der inländischen Staatsverschuldung steht dann entsprechendes inländisches Vermögen gegenüber. Das ist zwar prinzipiell richtig, ändert aber nichts daran, dass die Bedienung der Staatsschuld mit Steuern finanziert werden muss, deren Erhebung hohe Kosten mit sich bringt. Diese mögen noch überschaubar sein, solange die Zinssätze niedrig sind. Aber niemand weiß, wann die Zinsen wieder steigen werden. Vielleicht würde das bereits eintreten, wenn Deutschland von seinem Kurs der Konsolidierung der Staatsfinanzen abweichen würde. Ein hoher Schuldenstand bringt für den Staatshaushalt ein Zinsänderungsrisiko mit sich, das umso größer ist, je kürzer die Laufzeiten der Schuldtitel sind. Die hoch verschuldeten Staaten der Eurozone leiden derzeit unter den Auswirkungen eines solchen Zinsanstiegs. Hinzu kommt, dass eine hohe Schuldenquote spätestens dann von Nachteil ist, wenn die nächste Wirtschaftskrise kommt. Aus diesen Gründen ist es durchaus wichtig, auch bei niedrigen Finanzierungskosten die Schuldenstandsquote zu senken. Wenn die Zinsen ansteigen, könnte es dafür zu spät sein.

Schlussfolgerungen

Die Fiskalpolitik der kommenden Jahre wird in Deutschland wie in vielen anderen Ländern davon geprägt sein, dass die Folgen der Finanzkrise überwunden werden müssen. Die Schuldenschranke steckt dabei den Rahmen ab, in dem die Staatsverschuldung sich bewegen kann. Dass sie einen klaren Pfad zu einem schrittweisen Defizitabbau vorgibt, stärkt die Glaubwürdigkeit der deutschen Finanzpolitik und erleichtert insofern die Überwindung der Krise. Gleichzeitig ist klar, dass die Schuldenschranke nicht alle finanzpolitischen Probleme lösen kann. Sie kann die Politik beispielsweise nicht daran hindern, von expliziter auf implizite Verschuldung auszuweichen. Wenn öffentliche Bauten im Rahmen von sogenannten Public Private Partnerships mit privatem Kapital gebaut werden, statt mit öffentlichen Krediten finanziert zu werden, und der Staat den privaten Kapitalgebern dann entsprechende Mieten zahlen muss, ist damit unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen letztlich wenig gewonnen. Jedenfalls dann nicht, wenn mit dieser Form der Finanzierung nicht sonstige Effizienzvorteile verbunden sind. Die Schuldenschranke kann die Politik auch nicht daran hindern, statt auf der Einnahmenseite auf der Ausgabenseite kurzsichtig zu handeln. Gerade wenn es nun darum geht, auch bei den Ländern die Haushalte auszugleichen, wird es wichtig sein, zu verhindern, dass das auf Kosten der Zukunftsinvestitionen geht. In den Länderhaushalten spielen Zukunftsinvestitionen wie etwa Bildungsausgaben ein zentrale Rolle. Aber das Problem der Vernachlässigung von öffentlichen Investitionen war auch schon zu Zeiten vor der Schuldenschranke wichtig.

Die Schuldenschranke wird Deutschland auch nicht davor bewahren können, für die Schulden anderer Mitgliedstaaten der Eurozone haften zu müssen, wenn es nicht gelingt, die fiskalpolitischen Institutionen in Europa so zu reformieren, dass eine derartige Solidarhaftung verhindert werden kann. Die Herausforderungen, denen die Fiskalpolitik nach der Krise begegnen muss, gehen weit über die Fragen der nationalen Haushalte hinaus. Trotzdem ist die Schuldenschranke nicht als eine hinderliche Einengung, sondern als eine wichtige Stütze der deutschen Fiskalpolitik der kommenden Jahre zu sehen.

  • 1 Vgl. Wolfgang Schäuble: Nachhaltiges Wachstum durch nachhaltiges Sparen – die deutsche Finanzpolitik ist auf dem richtigen Weg, Gastbeitrag im Handelsblatt vom 24.6.2010, http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_88146/DE/Presse/Reden-und-Interviews/20100624-Handelsblatt-D.html.
  • 2 Vgl. B. Wigger: Raus aus der Schuldenfalle: Der Weg zu mehr Wachstum, Vortrag beim 17. Forum für Zukunftsfragen, Bad Neustadt a.d. Saale, 19.10.2010.

Konsolidierung ist ohne Alternative

„The curious tasks of economics is to demonstrate to men how little they know about what they imagine they can design.“1

Die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist in den meisten Industrieländern bedroht. Defizite, Staatsausgaben und Staatsschulden bewegen sich auf Rekordniveau. Hinzu kommen fiskalische Lasten durch die Bevölkerungsalterung und potentieller, weiterer Interventionsbedarf aufgrund der Verschuldung des Privatsektors insgesamt und der Banken im Speziellen. Dies birgt große Risiken für Stabilität und Wachstum in der Zukunft. Neu ist dabei, dass die übermäßige Verschuldung mit der Wirtschafts- und Finanzkrise zu einem globalen Problem geworden ist. Und neu ist die Wucht und Geschwindigkeit, mit der Schieflagen in den Staatsfinanzen, dem Finanzsystem und der Realwirtschaft interagieren, auch über Ländergrenzen hinaus. Dies kannte man bisher nur von Schwellen- und Entwicklungsländern.

In diesem Umfeld ist die Haushaltskonsolidierung oberstes Gebot, nicht nur aus langfristiger, sondern auch aus kurzfristiger Perspektive, um makroökonomische Stabilität und Wachstum nicht zu gefährden.2 Die Fortsetzung des keynesianischen Experiments der letzten zwei Jahre mit mehr „fiscal fine-tuning“ wäre dagegen extrem riskant.

Rekordbelastung der Staatsfinanzen

Die Tatsachen sind unbestritten: die Haushaltsdefizite der Industrieländer haben mit der Finanzkrise extreme Ausmaße angenommen und zu einem massiven Anstieg des Schuldenstands geführt. Das Defizit der Eurozone wird laut Frühjahrsprognose der EU-Kommission für 2010 bei 6,6% des BIP gesehen. Für die G7 beträgt es sogar knapp 9% (vgl. Tabelle 1). Die Staatsverschuldung wird in der Eurozone dieses Jahr beinahe 85% erreichen und in der G7 deutlich über 100% liegen. Die hieraus resultierende fiskalische Belastung wird in den kommenden Jahren durch steigende Ausgaben für die Sozialsysteme einer alternden Bevölkerung noch weiter verschärft werden.3 So sieht der IWF den Konsolidierungsbedarf der G7 für die nächsten Jahre im Schnitt bei 10% des BIP.4

Tabelle 1
Öffentliche Finanzen
in % des BIP
  Budgetsaldo Verschuldung Zunahme der alters­abhängigen Ausgaben (%-Punkte des BIP) Notwendige Konsolidierung
  2010 1999 2007 2010 2007-2060 2010-20
Belgien -5,0 113,7 84,2 99,0 6,9 4,7
Deutschland -5,0 60,9 65,0 78,8 4,8 4,0
Irland -11,7 48,5 25,0 77,3 8,9 9,8
Griechenland -9,3 94,0 95,7 124,9 15,9 9,2
Spanien -9,8 62,3 36,2 64,9 9,0 9,4
Frankreich -8,0 58,8 63,8 83,6 2,7 8,3
Italien -5,3 113,7 103,5 118,2 1,6 4,1
Zypern -7,1 51,8 58,3 62,3 10,8
Luxemburg -3,5 6,4 6,7 19,0 18,0
Malta -4,3 57,1 61,9 71,5 10,2
Niederlande -6,3 61,1 45,5 66,3 9,4 5,5
Österreich -4,7 67,2 59,5 70,2 3,1 4,7
Portugal -8,5 51,4 63,6 85,8 3,4 7,8
Slowenien -6,1 23,9 23,4 41,6 12,8 4,0
Slowakei -6,0 47,9 29,3 40,8 5,2 4,1
Finnland -3,8 45,7 35,2 50,5 6,3 4,4
Eurozone -6,6 71,7 66,0 84,7 5,2
Kanada -3,4 91,4 65,0 81,7 4,4
Japan -7,6 127,0 167,0 199,2 13,1
Großbritannien -12,0 43,7 44,7 79,1 5,1 9,0
USA -10,7 60,4 61,9 89,6 12,0
G7-Durchschnitt -8,7 77,3 78,8 106,7 10,0

Quellen: Europäische Kommission: Economic Forecast, Frühjahr 2010 (AMECO); und OECD Economic Outlook (Juni 2010) für Kanada, Japan und USA. Die Gewichte für die Berechnung des G7-Durchschnitts basieren auf BIP-Daten aus OECD Economic Outlook (Juni 2010). Die Daten über notwendige Konsolidierung entstammen IMF: Fiscal Monitor (Mai 2010). Die Angaben zum Anstieg der altersabhängigen Ausgaben stammen aus European Commission und EPC: Ageing Report, 2009.

Aber das sind noch nicht alle potentiellen Belastungen für die Staatsfinanzen. Erhebliche Zusatzkosten könnten aus den Rettungsschirmen für die Bankensysteme, dem in einigen Ländern überschuldeten Privatsektor und länderübergreifenden Finanzhilfen (wie im Rahmen des europäischen EFSF) entstehen.5 Zwar steht die Eurozone als Ganzes erheblich besser da als die USA, Japan oder Großbritannien. Aber ohne rasche und ambitionierte Konsolidierungsschritte gerät die Schuldendynamik auch hier in den meisten Ländern auf einen explosiven Pfad (vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1
Mittelfristige Entwicklung der durchschnittlichen Schuldenquote in der Eurozone 2010-2020
in % des BIP
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Quelle: EZB.

Die drei Szenarien basieren bezüglich Primärsaldo und Schuldenquote 2010 auf Europäische Kommission: Economic Forecast, Frühjahr 2010. Ab 2011 basieren die fiskalischen Entwicklungen auf drei unterschiedlichen Szenarien. Szenario 1 sieht eine relativ rasche Konsolidierung von 1 Prozentpunkt pro Jahr vor, bis ein ausgeglichener Haushalt erreicht ist. Szenario 2 beruht auf einem weniger ehrgeizigen Konsolidierungsplan. Der Primärsaldo verbessert sich nur um 0,5 Prozentpunkte des BIP pro Jahr, bis ein ausgeglichener Haushalt erreicht ist. Szenario 3 enthält keinerlei Konsolidierungsmaßnahmen. Der Primärsaldo bleibt über den Projektionszeitraum konstant. Es gelten die folgenden makroökonomischen Annahmen: Nominales Wachstum des BIP aus IMF World Economic Outlook (April 2010) bis 2015; anschließend ist das Wachstum gleich dem durchschnittlichen Wachstum der Jahre 1996-2015 von 3,4% (Schätzung aus IMF World Economic Outlook). Der implizite Nominalzins auf die Staatsschuld bleibt konstant auf dem Niveau von 2008 (Werte für 2009 könnten durch die Finanzkrise verzerrt sein).

Der Anstieg der Haushaltsdefizite ist größtenteils die Folge eines starken Anstiegs der staatlichen Primärausgaben vor und während der Krise. Nur Deutschland, Österreich und Finnland und außerhalb Europas Kanada haben das letzte Jahrzehnt für die deutliche Verringerung der Staatsquote genutzt (vgl. Tabelle 2). Schon in der „guten Zeit“ haben die USA, Großbritannien und einige Eurozonenmitglieder ihre Ausgaben nominal und sogar relativ zum BIP massiv nach oben gefahren. In der Krise haben dann die Fortführung der hohen Ausgabendynamik und der Einbruch des BIP zu Staatsausgabenquoten geführt, die über oder nahe an den bisherigen historischen Rekordständen lagen. Für den Durchschnitt der Eurozone und Großbritanniens erwartet die Kommission 2010 eine Staatsquote von über 50% mit einem Höchstwert von ca. 56% für Frankreich. Nur Kanada, Deutschland und Österreich liegen etwa auf demselben Niveau wie 1999. Die Staatsquote in den USA stieg von ca. 1/3 des BIP auf deutlich über 40%.

Tabelle 2
Öffentliche Ausgabenquote
in % des BIP
  Gesamtausgaben Veränderung (in Prozentpunkten des BIP)
  2010 1999-2007 2007-2010
Belgien 53,7 -1,8 5,4
Deutschland 48,0 -4,4 4,4
Irland 47,1 2,5 10,5
Griechenland 48,4 0,4 3,7
Spanien 45,7 -0,6 6,5
Frankreich 56,1 -0,3 3,8
Italien 51,3 -0,3 3,4
Zypern 48,3 5,4 6,1
Luxemburg 43,2 -3,0 7,0
Malta 46,0 -0,6 3,5
Niederlande 52,3 -0,5 6,8
Österreich 52,5 -5,0 3,9
Portugal 51,0 2,5 5,3
Slowenien 50,7 -4,1 8,3
Slowakei 40,3 -13,8 6,0
Finnland 55,9 -4,4 8,6
Eurozone 50,8 -2,1 4,8
Kanada 43,2 -3,5 4,0
Japan 40,8 -2,7 4,9
Großbritannien 52,6 5,3 8,4
USA 41,6 2,6 4,8
G7-Durchschnitt 44,8 1,0 4,5

Quellen: Europäische Kommission: Economic Forecast, Frühjahr 2010 (AMECO); und OECD Economic Outlook (Juni 2010) für Kanada, Japan und USA. Die Gewichte für die Berechnung des G7-Durchschnitts basieren auf BIP-Daten aus OECD Economic Outlook (Juni 2010).

Konsolidierung und die lange Frist

Der langfristige Nutzen von Konsolidierung und soliden Staatsfinanzen ist unumstritten. In einem Umfeld sicherer Erwartungen über zukünftige Entwicklungen resultiert dieser im Wesentlichen aus der niedrigeren Absorption von gesamtwirtschaftlichen Ersparnissen durch den Staat. Diese Ersparnisse stehen dann für andere, produktive Investitionen zur Verfügung, die das langfristige Wachstumspotential steigern. Erfolgt die Konsolidierung auf der Ausgabenseite, erhöht sich der positive Effekt, da nach erfolgreicher Ausgabensenkung verzerrende Steuern reduziert und somit Wachstumshemmnisse vermindert werden können.

Von möglicherweise größerer Bedeutung ist die Reduzierung der Unsicherheit durch solidere Staatsfinanzen. Unsicherheit über die Nachhaltigkeit der öffentlichen Haushalte treibt die Risikoprämien für Kreditzinsen in der gesamten Volkswirtschaft nach oben, wodurch die Attraktivität von Investitionen im Privatsektor abnimmt. Darüber hinaus werden Unternehmer ihre Investitionsentscheidungen verzögern, wenn sie (möglicherweise abrupte) künftige Steuererhöhungen aufgrund entstehender Haushaltsnotlagen befürchten müssen. Das Gleiche gilt für Investitionen von Haushalten in Bildung und den Aufbau von Humankapital.

Empirisch liegt inzwischen einige Evidenz für die wirtschaftliche Relevanz dieser Effekte vor. Insbesondere wurde ein positiver Einfluss des staatlichen Schuldenstandes auf das Zinsniveau beobachtet. Mehrere Studien belegen zudem den negativen Zusammenhang zwischen hohen Staatsschulden und wirtschaftlichem Wachstum auch in Industrieländern.6

Im gegenwärtigen Umfeld gilt zusätzlich zu bedenken, dass hohe Staatsschulden nicht mehr ein vereinzeltes, sondern ein weltweites Phänomen geworden sind. Dieser Umstand sowie das insgesamt volatile globale Umfeld werden die negativen Effekte von „crowding out“ und Unsicherheit auf Investitionen und Wachstum in der Zukunft eher noch verstärken.

Konsolidierung und die kurze Frist

Der kurzfristige Nutzen der Konsolidierung erscheint auf den ersten Blick gemischt oder vielleicht sogar negativ. Denn Ausgabensenkungen und Steuererhöhungen wirken zunächst einmal dämpfend auf die Gesamtnachfrage. Neben diesen „keynesianischen“ Effekten ist jedoch im gegenwärtigen Umfeld von bedeutsamen „nicht-keynesianischen“ Effekten auszugehen. Diese sind zwar in den vergangenheitsbezogenen, empirischen Studien nur selten gefunden worden. Dies ist jedoch vor allem darauf zurückzuführen, dass die bisherige Datengrundlage dieser Studien notgedrungen aus „ruhigeren Zeiten“ stammt und daher nur begrenzt repräsentativ ist für die gegenwärtige Situation. Die ökonomische Theorie gibt wichtige Anhaltspunkte dafür, dass die rein keynesianische Sicht zu kurz greift.

  • Erstens sind angesichts der gegenwärtigen Ungleichgewichte und der Schuldendynamik hohe ricardianische Effekte zu erwarten. Diese drücken sich darin aus, dass Konsumenten und Investoren bei einer Ausweitung der Staatstätigkeit zukünftige gegenläufige Maßnahmen des Staats antizipieren. Folglich stellen sie sich darauf ein, dass eine Ausweitung des Staatskonsums oder Steuersenkungen konterkariert werden müssen und steigern ihre Sparquote, statt zusätzliches verfügbares Einkommen für den Konsum zu verwenden. In Zeiten, in denen die Konsumenten und Investoren über die Zukunft der Staatsfinanzen stark verunsichert sind, ist zu erwarten, dass diese Effekte besonders ausgeprägt sind und eine zusätzliche fiskalische Expansion weitgehend ins Leere liefe. Während die Nachfrage in Deutschland z.B. im Laufe des Jahres 2010 wieder anzuspringen begann und gleichzeitig eine fiskalische Konsolidierung in Aussicht gestellt wurde, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein weiteres Konjunkturpaket das Vertrauen der Bürger untergraben und damit kontraproduktiv auf die Nachfrage gewirkt hätte. Auch Großbritannien hat sich mit dem Argument des Vertrauensgewinns auf den Pfad der Konsolidierung begeben.
  • Zweitens sind alle Eurozonenländer konkrete Konsolidierungsverpflichtungen unter dem Stabilitäts- und Wachstumspakt eingegangen. Deren Einhaltung stellt ein wesentliches Bekenntnis zu den Prinzipien fiskalischer Disziplin dar, die für das Funktionieren der Wirtschafts- und Währungsunion unabkömmlich sind. Die hiermit verbundenen positiven Effekte auf das Vertrauen von Bürgern und Gläubigern würde allen Ländern zusätzliche Stabilität verleihen und den direkten keynesianischen Effekten entgegenwirken.
  • Drittens erfolgt die Konsolidierung weitgehend auf der Ausgabenseite, und die Beschleunigung struktureller Reformen zur Wachstumsförderung ist Teil der Konsolidierungsprogramme. Dazu zählen unter anderem die Reduktion überhöhter Löhne oder Sozialleistungen vom Staat, die Verringerung verschiedener Negativanreize für die Aufnahme von Arbeit, und die Förderung von Konkurrenz. All diese Faktoren sollten die negativen keynesianischen Effekte der Konsolidierung weitgehend wenn nicht vollständig kompensieren.

Interdependenzen zwischen Staatsfinanzen und Finanzsektor

Es gibt einen weiteren Aspekt, der im gegenwärtigen Umfeld besonders wichtig ist. Die Aussichten für die Staatsfinanzen sind seit der Krise zunehmend mit denen für den Finanzsektor und für die Realwirtschaft verknüpft. Die Aussichten für die Staatsfinanzen beeinflussen direkt die Vermögenswerte und damit die Konsum- und Investititionsbereitschaft des Privatsektors sowie die Möglichkeit, besicherte Kredite aufzunehmen. Zudem sind die Erwartungen zur „Gesundheit“ der Staatsfinanzen und des Finanzsektors zunehmend verquickt. Die Auswirkungen auf Finanzstabilität und Finanzierungsmöglichkeiten der Banken wiederum beeinflussen die Realwirtschaft. Die Stärke, Geschwindigkeit und Unberechenbarkeit dieser Interaktion können sehr groß sein, wie im Frühjahr-Sommer 2010 anschaulich wurde.

Zu dieser Argumentationslinie sind einige interessante Fakten zu nennen. Eine wichtige Veränderung gegenüber früheren Jahrzehnten ist der Rückgang des so genannten „home bias“ bei Investitionen in Staatsanleihen. Dies ist Symptom und Ursache der größeren und schnelleren internationalen Verquickung der Finanzmärkte und der Staatsfinanzen zugleich. Während 1999 nur ca. 1/3 der Staatsanleihen der Eurozonenländer von Ausländern gehalten wurden, lag dieser Anteil 2009 bei über der Hälfte (vgl. Tabelle 3). Die Zahlen für die USA sind ähnlich. Diese Entwicklung kann die wirtschaftliche Stabilität erhöhen, da auch die Ausfallrisiken stärker international gestreut sind. Aber aus gegenwärtiger Perspektive ist vielleicht wichtiger, dass die Finanzierung der Staaten stärker vom Vertrauen internationaler Investoren abhängt, die eher und massiver als einheimische Investoren einem ausländischen Markt den Rücken kehren mögen (und auch nicht durch staatlichen Einfluss daran gehindert werden können).

Tabelle 3
Wer hält die Staatsschulden?1

in % der Gesamtverschuldung

  national international
  1999 2009 1999 2009
Deutschland 65,1 47,0 34,9 53,0
Spanien 73,2 54,8 26,8 45,2
Frankreich 72,0 32,1 28,0 67,9
Italien 66,3 57,2 33,7 42,8
Niederlande 67,0 28,9 33,0 71,1
Eurozone 67,5 46,5 32,5 53,5
Kanada
Japan 93,2 94,0 6,8 6,0
Groß­britannien 82,7 71,8 17,3 28,2
USA 60,8 47,5 39,2 52,5
G7-Durchschnitt

1 Aufgrund unterschiedlicher Definitionen von Verschuldung sind die Daten nicht notwendigerweise zwischen den einzelnen Ländern vergleichbar. Für einige Länder beziehen sie sich nur auf Teile der gesamten öffentlichen Verschuldung (z.B. marktfähige Schulden, unterschiedliche regionale Abgrenzung).

Quellen: Nationale Quellen (Deutschland – Bundesbank; Spanien – Tesoro Público; Frankreich – Agence France Trésor; Italien – Banca d'Italia; Niederlande – Dutch State Treasury Agency; Japan – Bank of Japan; Großbritannien – Debt Management Office; USA – Department of The Treasury) und ESZB für die Eurozone.

Die Reaktion von Märkten auf die Entwicklung der Staatsfinanzen lässt sich an den Renditeaufschlägen (Spreads) gegenüber deutschen 10-jährigen Staatsanleihen verdeutlichen (vgl. Abbildung 2). Diese waren vor dem Ausbruch der Finanzkrise sehr gering. Sie stiegen nach dem Fall von Lehman Brothers zwar deutlich an.7 Aber erst mit der Ankündigung eines zweistelligen Defizits in Griechenland im Herbst 2009 begannen die Aufschläge zu explodieren. Anfang Mai erreichten Aufschläge für griechische Staatsanleihen über 900 Basispunkte und die von anderen betroffenen Ländern über 300 Basispunkte. Außerdem begannen einige Märkte auszutrocknen, weil Marktteilnehmer selbst zu hohen Zinsen nicht bereit waren, bestimmte Staatsanleihen zu kaufen.

Abbildung 2
Renditeaufschläge auf deutsche Staatsanleihen mit 10 Jahren Restlaufzeit
Jan. 2008 - 15. Okt. 2010, Monatsendwerte bis Mitte 2008, danach tägliche Daten
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AAA corp: durchschnittliche Zinsprämie für AAA Unternehmensanleihen mit 7-10 Jahren Restlaufzeit.

Quellen: Bloomberg, Thomson Reuters Datastream und EZB Berechnungen.

Bis zum Herbst 2009 war die Bewertung der Banken in den Finanzmärkten eine weitgehend bankspezifische Angelegenheit. Aber danach begann ein Transmissionskanal zu wirken, der in Industrieländern bisher keine Rolle zu spielen schien: die empfundene Solvenz und die Bereitschaft zur Finanzierung des Banksektors waren eng mit der Kreditwürdigkeit der jeweiligen Regierungen verknüpft (vgl. Abbildung 3). Ab Winter 2009/10 bewegten sich z.B. griechische und spanische Credit Default Swaps, die ein Maß für das Kreditausfallrisiko darstellen, im Einklang, während sie vorher nicht eng korreliert waren.

Abbildung 3
Credit-Default-Swap-Prämien für Länder und Banken1
1. Sep. 2008 - 15. Okt. 2010
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1 Für jedes Land wurden die CDS-Prämien der größten Banken zur Berechnung der durchschnittlichen Banken-CDS-Prämie herangezogen.

Quellen: Bloomberg, Thomson Reuters Datastream und EZB Berechnungen.

Man könnte argumentieren, dass dies nur für die Länder am Abgrund ein wirklich schlagendes Argument für eine Konsolidierung ist. Wir sind anderer Meinung. Erstens sind Länder betroffen gewesen, deren Schuldenstand nicht auf besondere Probleme hinwies, wie beispielsweise Spanien (mit einer Schuldenstandsquote von ca. 65% im Jahr 2010). Solche Schuldenstände wurden vorher nur für Schwellenländer als wirklich riskant angesehen. Zweitens wissen wir seit dem Frühjahr 2010, dass internationale finanzielle Unterstützung zur Wahrung der (systemischen) Finanzstabilität auch für Industrieländer nötig sein kann.

Aber dies setzt voraus, dass es zur Versicherung von Problemländern auch Länder gibt, die genügend Glaubwürdigkeit besitzen, um andere Länder zu „versichern“. Und die Problemländer dürfen nicht so groß und zahlreich sein, dass sie den interstaatlichen Versicherungsrahmen sprengen. Entsprechend geht von der Konsolidierung in allen Eurozonenländern eine positive Externalität aus. Dies gilt natürlich auch auf globaler Ebene.

Politikempfehlungen

Was schließen wir daraus? Konsolidierung ist oberstes Gebot. Die Unsicherheit über die Effekte der Fiskalpolitik, die Nachhaltigkeit der staatlichen Verpflichtungen und ihre Interaktion mit einem nervösen Finanzumfeld spricht klar gegen weitere Versuche des „fiscal fine-tunings“. Die Alternativen sind nicht „moderates Wachstum mit Konsolidierung“ oder „mehr Wachstum mit weniger Konsolidierung“. Die Alternative ist, „moderates Wachstum mit Konsolidierung“ oder ein Risikospektrum von „noch weniger Wachstum“ bis hin zu „systemischer Instabilität“.

Es ist offensichtlich, dass die Konsolidierungsgeschwindigkeit die jeweilige Situation der Staatsfinanzen in Betracht ziehen muss. Aber spätestens mit den Budgets für 2011 sollte sie überall beginnen. Das Maastrichter Kriterium der Schuldenobergrenze von 60% des BIP und das Ziel eines nahezu ausgeglichenen Haushalts entpuppen sich im Nachhinein als weise gewählte Zielgrößen.

Konsolidierung sollte auf der Ausgabenseite erfolgen und wachstumsfreundlich sein. Deshalb muss Konsolidierung von weiteren Strukturreformen vor allem der Arbeitsanreize und Sozialsysteme begleitet werden. Am wichtigsten ist aber wohl die weitere Gesundung des Finanzsektors, damit dieser nicht länger eine potentielle Bürde für die Staatsfinanzen darstellt.

Des Weiteren ist eine Rückbesinnung auf mittelfristige, institutionengestützte Finanzpolitik entscheidend. Die deutsche Schuldenregel ist ein entscheidender Schritt in diese Richtung. Auf europäischer Ebene ist eine erhebliche Stärkung des fiskalischen Regelwerks nötig.

Mit dieser Art von Konsolidierung und Reformen wird Vertrauen gebildet. Es wird auch die Arbeit der Zentralbanken in Europa und global erleichtert, die Preisstabilität zu sichern.

* Wir danken Krzysztof Bankowski für Forschungsassistenz und Fédéric Holm-Hadul-la für Kommentare. Die hier dargestellten Meinungen sind die der Autoren und nicht notwendigerweise die der Europäischen Zentralbank. Sie basieren auf P. Rother, L. Schuknecht, J. Stark: The benefits of fiscal consolidation in uncharted waters, ECB Occasional Paper 121, 2010.

  • 1F. A. Hayek: The Fatal Conceit, Chicago 1960.
  • 2 P. Rother, L. Schuknecht, J. Stark, a.a.O.
  • 3 European Commission and Economic Policy Committee: 2009 Ageing Report: Economic and Budgetary Projections for the EU-27 Member States (2008-2060), in: European Economy, Nr. 2, 2009.
  • 4 International Monetary Fund: Fiscal Monitor, Mai 2010, Washington DC 2010.
  • 5 A. van Riet: Euro area fiscal policies and the crisis, ECB Occasional Paper Nr. 109, 2010.
  • 6 C. Checherita, P. Rother: The impact of high and growing government debt on economic growth – an empirical investigation for the euro area, ECB Working Paper Nr. 1237, 2010.
  • 7 L. Schuknecht, J. von Hagen, G. Wolswijk: Government Bond Risk Premiums in the EU Revisited: The Impact of the Financial Crisis, in: European Journal of Political Economy, im Erscheinen.

Die Notwendigkeit von Staatsschulden

Vorsorge für die eigene Zukunft, für die Hinterbliebenen, für die eigenen Kinder ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Erst die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schuf in den reichen Ländern für einen überwiegenden Teil der Bevölkerung die Möglichkeit einer einigermaßen sicheren Alters- und Krankheitsvorsorge. Entscheidend waren hier ein funktionsfähiger Sozialstaat und ein annähernd stabiles Geld. Wichtig hierfür war unter anderem die Schaffung von Institutionen, die den Sparvorgang vom risikoreichen unternehmerischen Investieren in Realvermögen abgekoppelt haben – wenn auch zu einem Preis: die risikofreie Rendite auf Ersparnisse ist wesentlich geringer als die Durchschnittsrendite unternehmerischer und daher stark risikobehafteter Investitionen.

Ein Gedankenexperiment: Das Spardreieck

Ich beginne mit dem Spardreieck. Betrachten wir einen Menschen, der a Jahre berufstätig ist und der danach noch b Jahre im Ruhestand lebt, ehe er stirbt. Durch regelmäßige Spartätigkeit sorgt er für sein Alter vor. Er will im Alter pro Jahr genau so viel konsumieren wie in seiner aktiven Zeit. Wir ignorieren Veränderungen des Lebensstandards während seiner Lebenszeit, und wir ignorieren die Verzinsung der Ersparnisse. Sein jährlicher Konsum wird auf 1 normiert. Sein Vermögen steigt während seiner Berufstätigkeit aufgrund seiner Spartätigkeit linear an und erreicht das Maximum bei seinem Wechsel in den Ruhestand. Von da an nimmt es jedes Jahr um 1 ab, um zum Zeitpunkt seines Todes wieder Null zu erreichen. Das Vermögensmaximum ist b, also die Summe des Konsums während seines Ruhestands.

Betrachten wir nun eine stationäre Bevölkerung, die aus einer gleich großen Anzahl von Menschen jeden Alters von der oben beschriebenen Art besteht. Der durchschnittliche Vermögensstand dieser Bevölkerung ergibt sich als die Hälfte des Maximums b, also als ½ b. Da der Konsum pro Kopf auf 1 normiert ist, ergibt sich als Relation zwischen dem durchschnittlichen Vermögensstand (einer Bestandsgröße) und dem jährlichen Konsum (einer Strömungsgröße) die Größe ½ b, also die halbe Ruhestandsperiode b. Dieses Verhältnis zwischen Vermögensstand und jährlichem Konsum nenne ich die „Sparperiode“. Sie ist in diesem vereinfachten Fall 50% der Ruhestandsperiode.

Natürlich entspricht die Wirklichkeit nicht genau den Bedingungen des „Spardreiecks“. So ist der private Konsum im Ruhestand in der Regel geringer als in der Aktivzeit. Andererseits konsumiert man im Alter wesentlich mehr Leistungen, die die Allgemeinheit bezahlt. Man denke nur an die starke Altersabhängigkeit der Gesundheitsdienstleistungen. Entsprechendes gilt für Pflegeleistungen. So ist die Annahme gleichmäßigen Konsums in erster Approximation gerechtfertigt. Auch sind in der Realität weder Zins noch Wachstumsrate gleich Null. Indessen ergibt sich das gleiche, wenn realer Zinssatz und reale Wachstumsrate zwar von Null verschieden, aber gleich groß sind. Wenn der Zinssatz unter der Wachstumsrate liegt, dann vergrößert sich unter sonst gleichen Bedingungen die Sparperiode.

Natürlich gibt es eine Fülle weiterer Abweichungen vom Modell des Spardreiecks. Aber sie können die Grundtendenz nicht verändern: Die volkswirtschaftliche Sparperiode zwecks Altervorsorge steigt ungefähr proportional mit der Dauer des Ruhestands. Der Proportionalitätsfaktor liegt in der Größenordnung von 0,5.

Sparperiode in der OECD und China

Eine der großen Errungenschaften der modernen Welt ist der Anstieg der Lebenserwartung. In den reichen Ländern liegt diese in der Größenordnung von 80 Jahren mit steigender Tendenz. Ähnliches gilt für China. Indessen hat sich das durchschnittliche Eintrittsalter in den Ruhestand in den letzten Jahrzehnten nicht erhöht. Somit hat sich die durchschnittliche Ruhestandsperiode parallel mit der Lebenserwartung verlängert. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer bei der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung ist in den letzten 40 Jahren von zehn Jahren auf 17 Jahre gestiegen. Dem entspricht nach dem Kalkül des „Spardreiecks“ eine Sparperiode von 8 ½ Jahren, während es vor 40 Jahren erst fünf Jahre waren. Für die Gesamtbevölkerung Deutschlands ist die Ruhestandsperiode noch höher. Bei den freien Berufen beträgt sie rund 22 Jahre.

Bei gleichbleibendem Konsum müsste daher allein für die eigene Altersvorsorge mit einer durchschnittlichen Sparperiode von neun Jahren oder mehr gerechnet werden. Dazu kommen die Vorsorge für Hinterbliebene und der ausgeprägte Wunsch, den Kindern Vermögen zu vererben oder sich durch eine wohltätige Stiftung oder durch die Weitergabe des Unternehmens an die nächste Generation ein Denkmal zu setzen. Für den Durchschnitt der Bevölkerung im OECD+China-Raum (OECD+C-Raum) schätze ich eine gewünschte Sparperiode von zwölf Jahren.

In diese Schätzung ist mit einbezogen, dass der Staat in der Form der Sozialversicherung, insbesondere der gesetzlichen Rentenversicherung, einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung der Sparperiode leistet. Es ist dies eine Art Zwangssparen. Der Sozialstaat schafft im großen Stile künftige Ansprüche auf Rentenzahlungen und andere Leistungen. Denen entsprechen frühere Beitragszahlungen der Anspruchsberechtigten und ihrer Arbeitgeber, die wie Sparleistungen aufgefasst werden können und insofern in die Sparperiode mit einfließen. In einem Land wie China, in dem bisher eine derartige gesetzliche Rentenversicherung nicht vorhanden ist, beträgt die Sparquote der privaten Haushalte rund 40%. Dies hängt ohne Zweifel mit der Notwendigkeit zusammen, für das Alter vorzusorgen. Würde man die Rentenbeiträge und den Sparanteil der Beiträge zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung den Ersparnissen der privaten Haushalte hinzurechnen, dann käme man in Deutschland auf eine Sparquote von rund 33%. Eine so berechnete Sparquote entspricht einem Verhältnis von Konsum und Sparen während der Aktivzeit von 2:1. Dem würde im Spardreieck eine Zeit der Berufstätigkeit von zweimal der Ruhestandszeit entsprechen, was bei der gesetzlichen Rentenversicherung auf 34 Jahre hinausläuft. Das passt in etwa zu dem tatsächlichen Durchschnitt.

Die private Nachfrage nach Kapital: Die Produktionsperiode

Kann innerhalb der reichen Länder und Chinas dieses Kapitalangebot in der Privatwirtschaft bei einem positiven Realzinssatz untergebracht werden? Ich halte dies für unmöglich. Wie schon Eugen von Böhm-Bawerk gelehrt hat, ist Kapital verdinglichte Zeit. Es repräsentiert den durchschnittlichen zeitlichen Abstand zwischen dem Input der originären Produktionsfaktoren und dem Output der daraus letztlich entstehenden Konsumgüter. Man spricht von der durchschnittlichen Produktionsperiode. Ich habe vor einigen Jahrzehnten die Böhm-Bawerksche Theorie modernisiert und damit auch die früheren Einwände gegen diesen theoretischen Ansatz entkräftet.1 Insbesondere habe ich gezeigt, dass in einem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht einer geschlossenen Volkswirtschaft ohne Staatsschulden die durchschnittliche „Sparperiode“ und die durchschnittliche „Produktionsperiode“ gleich groß sein müssen.2 Ein durchschnittlicher zeitlicher Vorlauf der entlohnten Arbeitsleistung vor dem Konsum („Sparperiode“) bei den Haushalten kann nur implementiert werden, wenn derselbe durchschnittliche zeitliche Vorlauf der Arbeitsinputs vor der Konsumgüterproduktion („Produktionsperiode“) im Produktionssektor verwirklicht ist. Es ist die Rolle des Zinssatzes, die durchschnittliche Sparperiode und die durchschnittliche Produktionsperiode zur Deckung zu bringen. Der Zinssatz, der diesem Gleichgewicht entspricht, ist der Wicksellsche „natürliche“ Zins.

Angesichts der im Zeitverlauf stark gestiegenen Sparperiode liegt der „natürliche“ Zins ohne Staatsverschuldung wahrscheinlich im negativen Bereich. Bei Preisstabilität und damit der Möglichkeit einer risikolosen Vorsorge entsteht eine Risiko-Asymmetrie im Verhältnis von privatem Kapital-angebot und privater Kapitalnachfrage. Letztere ist immer mit Risiken verbunden: der Investor kann sich der Rendite für seine Investition nicht sicher sein. Er investiert daher nur, wenn er eine Rendite erwartet, die merklich höher liegt als die Rendite für risikofreie Anlagen. Und es gibt nur eine begrenzte Menge an Investitionsmöglichkeiten mit merklich positiver Renditeerwartung.

Im OECD+C-Raum liegt der Bestand an privatem Netto-Realkapital etwa beim Vierfachen des jährlichen privaten und staatlichen Konsums. Die private Produktionsperiode beträgt damit vier Jahre. Die gesamtwirtschaftliche Produktionsperiode ist länger als diese Größe, da das staatliche Realvermögen (insbesondere die öffentliche Infrastruktur) noch hinzu gerechnet werden muss. Indessen absorbiert das staatliche Realvermögen in der hypothetischen Welt ohne Staatsschulden natürlich kein privates Kapitalangebot. Deshalb wird für dieses Gedankenexperiment die private Produktionsperiode der privaten Sparperiode gegenübergestellt. Man beachte, dass diese Ausstattung des OECD+C-Raums mit privatem Realkapital Ergebnis einer seit anderthalb Jahrzehnten andauernden Niedrigzinsphase ist, in der sich zudem noch erhebliche Überinvestitionen in der Form von Immobilienblasen angesammelt haben. Und Immobilien machen 80% bis 90% des Realkapitals aus. Es ist daher selbst bei einer andauernden Niedrigzinsperiode nicht zu erwarten, dass sich die Absorption von Kapital durch den privaten Sektor schneller entwickelt als der private und öffentliche Konsum. Es kann jedenfalls keine Rede davon sein, dass sich eine Sparperiode von geschätzt zwölf Jahren bei einem risikofreien Realzins von Null auch nur annähernd durch die private Produktionsperiode absorbieren ließe.

Staatsschulden heute

Ich hatte oben geschätzt, dass im OECD+C-Raum zwischen tatsächlicher Sparperiode und tatsächlicher privater Produktionsperiode eine Lücke von rund acht Jahren oder dem doppelten der privaten Produktionsperiode besteht. Ein kleiner Teil dieser Lücke mag sich in einer positiven Nettoposition dieses Raums gegenüber der übrigen Welt wiederfinden. Das macht aber allenfalls wenige Monate des privaten und staatlichen Konsums des OECD+C-Raums aus. Ganz überwiegend wird die Lücke durch die Staatsschuld überbrückt.

Der Staatsschuld stehen die Ansprüche der Bürger auf künftige Leistungen des Staats gegenüber. Diese sind Teil ihres Vermögens, ja der überwiegende Teil ihres Vermögens, das ihrer Sparperiode von rund zwölf Jahren entspricht. Dabei unterteilt man in die explizite und in die implizite Staatsschuld. Im Durchschnitt der Länder des OECD+C-Raums beläuft sich die explizite Staatsschuld auf rund das anderthalbfache des jährlichen Konsums, mithin auf rund 18 Monate der Sparperiode. Der größere Teil der Staatsschuld ist die implizite Staatsschuld, die rund die Hälfte der gesamten Sparperiode ausmacht. Die genaue Quantifizierung dieser impliziten Staatsschuld ist nicht möglich, da sie ganz überwiegend nicht aus ein für allemal feststehenden Zahlungsverpflichtungen besteht. So hängen die künftigen Zahlungen an die Rentner der gesetzlichen Rentenversicherung von künftigen Ereignissen ab. Ferner gibt es viele Eventualverpflichtungen, etwa bei der Sozialhilfe oder beim Sparanteil der gesetzlichen Krankenversicherung. Deren Höhe hängt von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch von den Fortschritten in der Heilkunst ab. Schließlich gibt es Eventualverpflichtungen wie die staatliche Garantie für Bankeinlagen oder neuerdings die Bürgschaften des einen Staates für die expliziten Schulden anderer Staaten.

In Analogie zum Begriff der Sparperiode und der Produktionsperiode, kann von der Staatsschuldenperiode gesprochen werden. Damit ist das Verhältnis der Bestandsgröße „Staatsschulden“ zur Strömungsgröße „jährlicher volkswirtschaftlicher Konsum“ gemeint.

Für den OECD+C-Raum können die oben angegebenen Schätzungen in der folgenden Gleichung zusammengefasst werden: Private Sparperiode (ca. 12 Jahre) = Private Produktionsperiode (ca. 4 Jahre) + explizite Staatschuldenperiode (ca. 1,5 Jahre) + implizite Staatsschuldenperiode (ca. 6 Jahre) + Nettoposition (ca. 0,5 Jahre).

Wirkungen einer „Schuldenbremse“

Deutschland hat sich in seine Verfassung eine Schuldenbremse geschrieben. Im Sinne des Kantschen kategorischen Imperativs („Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“) werden im Folgenden die hypothetischen Konsequenzen einer für alle Länder des OECD+C-Raums geltenden Schuldenbremse untersucht. Diese bezieht sich, wie in Deutschland, nur auf die expliziten Staatsschulden. In der folgenden Analyse wird angenommen, dass die Nettoposition des Raums gegenüber der übrigen Welt und die Sparperiode von einer Absenkung der expliziten Staatsschuld im OECD+C-Raum nicht betroffen werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten.

  1. Steigende Produktionsperiode. Die traditionelle neoklassische Position, die auch der heutigen Mehrheitsmeinung in Deutschland entspricht, ist die, dass eine Reduktion der expliziten Staatsschuldenperiode zu einer Anhebung der Produktionsperiode führt. Es ist dies die Idee des „crowding-out“ von privaten Investitionen durch die Staatsverschuldung. Diese Idee hat ohne Zweifel ihre Berechtigung, wenn der reale Zinssatz durch eine Verminderung der Staatsverschuldung gesenkt werden kann. Unter Bedingungen der Preisstabilität kann dies aber nur erfolgen, wenn der Nominalzins sinkt. Dieser hat aber eine untere Schranke bei Null. Ist diese Schranke erreicht, dann kann eine Senkung der Staatsschuld den Zins nicht weiter senken. Insofern kann dann eine Verminderung der expliziten Staatsschuld nicht zu einer Erhöhung der privaten Investitionstätigkeit führen.

    Man kann natürlich von dem Regime der Preisstabilität abgehen. Dann ist es möglich, einen negativen Realzins mit Hilfe einer geplanten Inflation und einem Nominalzins von Null zu realisieren. Das war vor einigen Monaten der Vorschlag des Chefökonomen des IWF, Olivier Blanchard. Dieser wurde allerdings gerade in Deutschland mit Vehemenz zurückgewiesen. Selbst wenn man aber das Opfer der Preisstabilität bringen würde, muss man sich fragen, welches Maß an Zukunftsträchtigkeit Investitionen haben, die sich nur bei einem negativen Realzinssatz rentieren.
  2. Steigende implizite Staatsverschuldungsperiode. Ist man bei einem Realzins von Null angelangt und behält ein Regime der Preisstabilität bei, dann kann die Produktionsperiode durch eine Verminderung der expliziten Staatsschuld nicht erhöht werden. Es gibt dann kein „crowding-out“ von privaten Investitionen durch Staatsverschuldung. Der Übergang zu einer verminderten expliziten Staatsschuldenperiode ist durch verminderte Staatsausgaben und/oder erhöhte Steuereinnahmen charakterisiert. Es kann dann die wohlbekannte Keynessche Nachfragelücke entstehen. Da die Geldpolitik bei einem Zinssatz von Null schon weitgehend an das Ende ihrer Künste angelangt ist („Liquidity Trap“), ist erneut die Fiskalpolitik gefordert. Man bricht dann entweder die Übung einer Verminderung der expliziten Staatsschuld ab und fährt wieder einen expansiven, stärker defizitären Haushalt oder man findet Mittel und Wege, die expansive fiskalische Wirkung durch eine Vermehrung der impliziten Staatsschuld zustande zu bringen. Hierfür gibt es Vorbilder. So bedeutet der im Mai geschaffene Garantiefonds für die Staatsschulden der mediterranen Mitgliedstaaten nichts anderes als eine Ausweitung der impliziten Staatsschuld Deutschlands und der anderen Garantiegeber.

Man kann sich viele Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen denken, die einer Erhöhung der impliziten Staatsschuld gleich kommen, die aber letztlich die marktwirtschaftliche Ordnung untergraben. Bürgschaften für die Schulden großer Unternehmen sind hierfür ein Beispiel. Protektionismus ist ein anderes Beispiel, indem man kurzfristige Stimulierung durch eine künftige Kontraktion erkauft, die die Folge des Protektionismus der anderen Staaten ist. Wenn darüber hinaus eine schwächere Konjunktur aufgrund einer Reduktion der expliziten Staatsverschuldung zu vermehrter Frühverrentung führt, so ist auch das ein Beispiel dafür, dass explizite Staatsschuld in implizite Staatsschuld umgewandelt worden ist.

Internationale Externalitäten

Wenn der natürliche Zins im Sinne von Wicksell positiv und gar höher als die Wachstumsrate ist, dann ist eine Reduktion der expliziten Staatsverschuldung nicht nur binnenwirtschaftlich sinnvoll, indem damit private Investitionen stimuliert werden. Es ist dies auch für andere Länder günstig, weil der dadurch gesunkene Zins auf den Weltkapitalmärkten der privaten Investitionstätigkeit in den anderen Ländern aufhilft. Es entsteht quasi ein positiver externer Effekt für die anderen Länder.

Genau das Gegenteil ist richtig, wenn der natürliche Zins nahe Null oder gleich Null ist. Ein einzelnes Land mag sich dann eine Reduktion der expliziten Staatsverschuldung leisten, weil es darauf hoffen kann, dadurch mehr Kapital zu exportieren, sprich, die eigene Leistungsbilanz in eine positive Richtung zu verschieben. Indessen, der Kapitalexport eines Landes ist der Kapitalimport anderer Länder, deren Leistungsbilanz sich dadurch in negative Richtung verschiebt. Das, was einem Land gelingen kann, nämlich die expliziten Staatsschulden zu reduzieren, ohne die impliziten zu erhöhen, kann in dieser Nullzins-Situation nicht allen gelingen. Den anderen Ländern wird durch die Konsolidierung der Staatsfinanzen im ersten Land die eigene Konsolidierung schwerer gemacht.

Daraus folgt, dass die Gefahr eines übermäßigen Abbaus von Staatsschulden im gesamten Raum entsteht. Wenn durch die Schuldenbremse in Deutschland die Konjunktur in Europa schlechter läuft, dann hat das negative Auswirkungen auf die Konjunktur in den USA oder in China.

Fazit

Eine generelle Schuldenbremse für alle Länder des OECD+C-Raums als Verfassungsvorschrift ist ein Irrweg. Sie ist damit auch für ein Land wie Deutschland höchst problematisch.

  • 1 C.C. von Weizsäcker: Steady State Capital Theory, Berlin-Heidelberg-New York 1971, insbesondere S. 79-96.
  • 2 Ebenda, S. 87.

Vom Retter zum Sündenbock? Aufgaben einer rationalen Fiskalpolitik

Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik nie dagewesenen Einbruch der Wirtschaftsleistung führte, hat das hiesige Staatsdefizit und den öffentlichen Schuldenstand weit über die im Maastricht-Vertrag vereinbarten Grenzen hinaus erhöht. Verschiedene Rettungsschirme, die für Banken, Unternehmen und für den Euro gespannt wurden, belasten den Staatshaushalt aktuell oder stellen ein hohes Risiko in den nächsten Jahren dar. Viele Menschen befürchten, dass eine so dramatisch wachsende Schuldenlast zur Handlungs- oder Zahlungsunfähigkeit des Staates und/oder zu hoher Inflation führen wird. Sie befürworten daher wie die meisten politischen Parteien einen strikten Sparkurs der öffentlichen Hand.

Doch wird die Fiskalpolitik damit ihren Aufgaben gerecht? Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise kann sich niemand mehr der Einsicht entziehen, dass der Staat das immanent instabile System der privaten Marktwirtschaft stabilisieren muss, wenn es durch einzelwirtschaftlich rationales, aber in seiner Summe gesamtwirtschaftlich desaströs wirkendes Verhalten in eine Schieflage gerät, aus der es sich nicht mehr selbst befreien kann. Der Staat ist dazu als einziger Akteur in einer Volkswirtschaft in der Lage, weil nur er mit seinem Recht, Steuern zu erheben, mit seinem Geldmonopol und seinem quasi unendlichen Zeithorizont nicht nach einzelwirtschaftlich rationalen Maximen handeln muss, sondern sich den Standpunkt der Gesamtwirtschaft, das Gemeinwohl also, zu eigen machen und entsprechend gesamtwirtschaftlich rational handeln kann. Dazu ist der Staat aber auch verpflichtet, denn er soll die Interessen der Gesamtheit der Bürger vertreten.

Gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsfunktion

Bevor ein sich selbst verstärkender Abwärtsstrudel in Gang kommt, müssen Geld- und Fiskalpolitik massiv gegensteuern. Normalerweise gelingt das schon dadurch, dass zum einen die Geldpolitik die kurzfristigen Zinsen senkt, auf diese Weise auch die langfristigen herunter schleust und so die Finanzierung von Investitionen erleichtert. Zum anderen federt die Fiskalpolitik durch die automatischen Stabilisatoren die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ab.

In schweren Krisen, vor allem in solchen, bei denen durch schuldenfinanzierte Spekulationsgeschäfte die Bilanzen sehr vieler privater Akteure „unter Wasser“1 sind, geht die gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsfunktion der Fiskalpolitik jedoch weit über diese „passive“ Abfederung hinaus. Denn trotz niedriger Zinsen werden keine zusätzlichen, sondern weniger Ausgaben getätigt. Die Fiskalpolitik versucht, die Auslastung der privaten Kapazitäten direkt durch kreditfinanzierte Nachfrage zu fördern, um den Einbruch der privaten Investitionstätigkeit zu stoppen und die negative Entwicklung umzukehren. Je heftiger und verbreiteter die Krise ist, desto schwerer tut sich die Fiskalpolitik allerdings, einen genügend großen Impuls für die privaten Sachinvestoren zu setzen, der die Abwärtsspirale beendet und der Volkswirtschaft zu neuer Wachstumsdynamik verhilft.

In dieser Situation befand sich Japan vor zwanzig Jahren und befindet sich die Weltwirtschaft und mit ihr die deutsche Wirtschaft seit 2008/2009. In beiden Fällen hatte die Wirtschaftspolitik das Krisenpotenzial selbst geschaffen, weil sie dem privatwirtschaftlichen Spekulationsunwesen auf den Finanzmärkten durch Deregulierung Vorschub geleistet und so die Rahmenbedingungen dramatisch verschlechtert hatte, unter denen Geld- und Fiskalpolitik ihrer Stabilisierungsaufgabe nachkommen müssen. Der Bedarf der Privatwirtschaft, sich nach dem Platzen spekulativer Preisblasen zu entschulden, war so groß, dass nur enorme Rettungspakete für die Finanzwirtschaft und immense Konjunkturprogramme einen Zusammenbruch des Weltfinanzsystems und der Realwirtschaft verhindern konnten.

Verfehlte Ordnungspolitik auf den Finanzmärkten

Unter dem Gesichtspunkt einer verfehlten Ordnungspolitik auf den Finanzmärkten fällt die Beurteilung der Fiskalpolitik wesentlich differenzierter aus, als es in der aktuellen Debatte geschieht. Für jede monetäre Marktwirtschaft ist die Funktionstüchtigkeit des Geld- und Kreditwesens unerlässlich. Sie muss aber von ordnungspolitischer Seite garantiert werden, diese Aufgabe können Geld- und Fiskalpolitik nicht übernehmen. Solange sich die Finanzmarktordnungspolitik zum Büttel der Finanzindustrie machen lässt, steht der Geld- und Fiskalpolitik ein Fass ohne Boden gegenüber, in das sie beliebig viele billige Kredite und Steuergelder schütten können, ohne dass es jemals dauerhaft gefüllt werden kann. Die Fiskalpolitik im Nachhinein für den krisenbedingten zusätzlichen Schuldenberg verantwortlich zu machen und ihr die Erfüllung ihrer weiteren Funktionen durch eine Schuldenbremse unmöglich zu machen, heißt, an den einen großen Fehler den nächsten reihen.

Es ist grotesk, dass die Finanzmarktakteure, die die Schieflage der öffentlichen Hand fast ausschließlich zu verantworten haben und die ohne die Rettung durch die öffentliche Hand längst von der ökonomischen Bildfläche verschwunden wären, nun die so entstandene fiskalische Schieflage als „Beweis“ dafür anführen, wie sehr ein Staat der Volkswirtschaft durch seine Schuldenpolitik schade. Sie maßen sich sogar an, den Abbau der Staatsschulden nun als oberste Priorität zu fordern, und setzen darauf, dass sich der Staat von der Finanzindustrie bei der Regulierung der Finanzmärkte beraten lässt, um private Kapitalgeber nicht zu „verschrecken“ und die Finanzierung der Staatsschulden, aber auch der dringend benötigten privaten Investitionen nicht durch „Überregulierung“ unverantwortlich zu verteuern. Die Sorge, es könne an Kapital mangeln, ist obendrein völlig unbegründet: Die Kapitalmärkte signalisieren für Deutschland, dass inzwischen ein enormes Angebot an Kapital bereit steht. Die langfristigen Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor, weil die Nachfrage nach langfristigem Kapital von Seiten privater Sachinvestoren vergleichsweise schwach ist. Dem deutschen Staat droht also keineswegs eine Kreditklemme.

Verantwortbares Wachstum öffentlicher Schulden

Natürlich ist die Stabilisierungsaufgabe der Fiskalpolitik kein Freibrief für beliebiges Schuldenmachen der öffentlichen Hand. Die Lehre aus der Krise besteht ja gerade darin, dass Schulden – und zwar öffentliche wie private –, denen keine realen Investitionen gegenüberstehen, in der Tat sehr problematisch sind, weil sie das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des Geld- und Kreditwesens untergraben und es letztlich lahmlegen. Werden jedoch im Krisenfall für die Stabilisierung der Wirtschaft zusätzliche öffentliche Schulden aufgenommen, können sie verstärkt für öffentliche Sachinvestitionen verwendet werden. Dann erhöht sich nicht nur die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern in der Regel auch die gesamtwirtschaftliche Produktivität, was die Aussichten verbessert, die Finanzierung der Zinsen auf die zusätzlichen öffentlichen Schulden durch zukünftiges Wachstum und daraus resultierende Steuereinnahmen zu bewältigen, ohne dass die Steuer- und Abgabensätze erhöht werden müssen.

Diese zusätzlichen Einnahmen des Staates sollten dann aber auch tatsächlich für die Bedienung öffentlicher Schulden verwendet und nicht durch das dauernde Absenken der Steuer- und Abgabensätze verschenkt werden. Senkt man die Steuern, sobald sich die Wirtschaft belebt, ist ein schnelleres Wachstum der Staatsschulden im Vergleich zur Gesamtwirtschaft unvermeidlich. Das ist zwar nach Meinung von Marktfetischisten genau der Sinn von Steuersenkungen, nämlich den öffentlichen Sektor mit der Drohkulisse übermäßig wachsender Staatsschulden jederzeit zu knebeln und öffentliche Ausgaben in die Zukunftsfähigkeit und den Zusammenhalt der Gesellschaft auf diesem Wege zu verhindern. Doch besteht keine Notwendigkeit, sich auf diese Diskussionsebene zu begeben, wenn man verstanden hat, warum Staatsschulden genau so wenig wie Schulden privater Unternehmen jederzeit per se etwas ökonomisch Schlechtes sind.

Viele Ausgaben des Staates dienen nämlich dem Erhalt bzw. der Erweiterung des öffentlichen Kapitalstocks, den die Gesellschaft jetzt und in der Zukunft braucht, um privatwirtschaftlich erfolgreich produzieren zu können. Zur (mindestens teilweisen) Vorfinanzierung der entsprechenden öffentlichen Investitionen ist eine Schuldenaufnahme genau so sinnvoll wie bei einem Privatunternehmen, das nicht alle Investitionsausgaben aus Gewinnen (d.h. den bereits erzielten Markterfolgen), sondern auch mit Krediten finanziert. Dabei gilt für den Staat genau wie für ein privates Unternehmen, dass er nicht überschuldet ist, solange sein Schuldenstand den Wert seiner Aktiva nicht übersteigt, solange also den öffentlichen Schulden ein mindestens gleich großer öffentlicher Kapitalstock gegenübersteht.2

Würde in der Privatwirtschaft kein Unternehmen mehr Kredite aufnehmen, stünde es um die privatwirtschaftliche Investitionstätigkeit schlecht und gälte dies als Alarmzeichen für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes. Genauso ist bei auf Dauer stagnierenden oder gar sinkenden Staatsschulden zu fragen, ob der Staat seiner Aufgabe, der Gesellschaft einen ausreichenden öffentlichen Kapitalstock zur Verfügung zu stellen, noch gerecht wird. Wird er das nicht (mehr), hinterlässt das unweigerlich Bremsspuren in der Entwicklung der Privatwirtschaft, was die Wachstumschancen in der Gegenwart und damit das Ausgangsniveau des Wohlstands zukünftiger Generationen mindert.3

Eine Zunahme der öffentlichen Schulden, die sich langfristig in einer Größenordnung des durchschnittlichen Wirtschaftswachstums bewegt, ist daher sinnvoll. Sie geht mit einem konstanten Schuldenanteil am Bruttoinlandsprodukt einher, weil der Staat dann im Laufe der Jahre einen gleichbleibenden Anteil an den realwirtschaftlichen Ressourcen durch Kredite beansprucht.

Unverantwortbares Wachstum von Auslandsschulden

Eine wichtige Ausnahme von der Regel, dass Staatsschulden in Höhe des Wirtschaftswachstums unbedenklich zunehmen können, gibt es allerdings: Sollte eine Volkswirtschaft insgesamt, d.h. Privat- und Staatssektor zusammengenommen, jedes Jahr steigende Schulden gegenüber dem Ausland verbuchen, gerät sie und mit ihr der Staatshaushalt in eine bedenkliche Schieflage. Verbraucht und investiert das Land als Ganzes dauerhaft mehr Güter, als es erwirtschaftet, stellt sich früher oder später für die Gläubiger im Ausland die Frage, ob das Land, d.h. seine Bürger die daraus resultierenden Schulden eines Tages auch zurückzahlen können, ob es also das Potenzial hat, sich von einem Land mit Leistungsbilanzdefiziten zu einem Überschussland zu entwickeln.

Je unwahrscheinlicher das ist – und die Akkumulation von Defiziten über viele Jahre ist ein entscheidender Indikator –, desto mehr ist die Bonität des Landes an den Kapitalmärkten in Gefahr. Hier werden Schulden aufgetürmt, deren fristgerechte Bedienung nicht allein in der Hand der Inländer liegt. Nur wer international erfolgreich wirtschaftet, kann auch internationale Schulden bedienen. Erfolg ist jedoch relativ: Wenn ein Land zwar produktiver wird, die internationale Konkurrenz das aber in noch stärkerem Maße zustande bringt, kann das Land im internationalen Handel nicht mithalten, weil es zu relativ höheren Preisen anbietet. Es gewinnt dann trotz technischen Fortschritts nicht an Wettbewerbsfähigkeit, was es müsste, um seine Schulden abzubauen. Besonders aussichtslos ist der Kampf um eine bessere Wettbewerbs- und Schuldenposition, wenn die preisliche Überlegenheit der Konkurrenten nicht in erster Linie auf technischen Faktoren beruht, sondern auf Kostendeflation, vor allem auf Lohndumping. Dann findet kein Wettbewerb im produktiven Sinne statt, der die Gesellschaft voranbringt, sondern nur das verzweifelte Kopieren der Deflationsmechanismen, das nie zum Erfolg führt, sondern in einen Wettlauf nach unten mündet, der alle Beteiligten schädigt.

Der naive Glaube, solche Schwierigkeiten würden die freien Devisenmärkte durch die Anpassung der Wechselkurse auf Dauer ausräumen, ist von der Realität vieler Währungskrisen eindrucksvoll widerlegt worden. Leistungsbilanzsalden werden zwar von Wechselkursen einschließlich internationaler Inflationsdifferenzen beeinflusst, doch gilt das umgekehrt kaum. Denn auf freien Devisenmärkten gebildete Wechselkurse sind ihrerseits weit stärker von Spekulation als von Handelsungleichgewichten getrieben. Daher liegt hier ein besonders dringender Handlungsbedarf der internationalen Politik vor, ein Weltwährungssystem zu entwickeln, das derartige Verschuldungssituationen verhindert.4

Fiskalpolitik und Euro-Rettung

So fern der deutschen Wirtschaftspolitik eine Unterstützung dieser internationalen Koordinationsaufgabe liegt, so weit ist sie auch in der Euro-Krise von einer nachhaltigen Lösung entfernt: Deutschland versucht, Strategien zu unterlaufen, mit denen die Ursachen der Kapitalmarktklemmen einzelner Mitgliedsländer der EWU, nämlich die lohnbedingten Wettbewerbsdivergenzen, beseitigt werden können. Stattdessen verschärft die unsinnige Fokussierung auf öffentliche Sparanstrengungen anstelle einer Abstimmung der fiskalischen Impulse innerhalb der EU die Schwierigkeiten der von den Kapitalmärkten attackierten Staaten noch, weil sie deren Wachstumsaussichten aushöhlen und damit jede Perspektive auf Rückzahlung der Auslandsschulden zunichte machen. Daher ist kein Ende der Euro-Krise abzusehen und die Furcht vor weiteren fiskalischen Belastungen Deutschlands nur allzu berechtigt.

Innerhalb einer Währungsunion gibt es nur das Mittel der Lohnkoordinierung, um reale Ab- und Aufwertungen und die sich daraus ergebenden Handelsungleichgewichte zu verhindern. Die Schwierigkeiten, vor denen eine Reihe unserer EWU-Partnerländer stehen, sind entsprechend nur durch viele Jahre einer europaweit koordinierten Lohn- und Fiskalpolitik zu lösen.5 Es grenzt an Absurdität, dass große Teile der wirtschaftswissenschaftlichen Berater in Deutschland das Urteil der Finanzmarktakteure teilen, sprich: ebenfalls den Schuldenabbau der öffentlichen Hand europaweit und auch auf das Überschussland Deutschland bezogen als dringlich einstufen,6 während sie sich an das heiße Eisen einer europaweit koordinierten Lohnpolitik mit dem bequemen Hinweis auf die Tarifautonomie nicht herantrauen und in der Finanzmarktordnungspolitik den Mangel an internationaler Kooperationsbereitschaft als Begründung für Stillstand akzeptieren. Die Fiskalpolitik, so die offizielle Begründung für die Einsparforderungen,7 könne nur dann mögliche zukünftige Desaster abfedern, wenn sie sich aus der Bewältigung der Folgen der zurückliegenden Finanzkrise rasch verabschiede, um genügend finanziellen Spielraum zurückzugewinnen. Ob sie dadurch die nächste Krise mit heraufbeschwört, wird nicht diskutiert. Genau darum geht es aber.

Deutschland wächst mittlerweile zwar wieder kräftig, aber das Wachstum ist mindestens so einseitig auf Export ausgerichtet wie zuvor. Dank seiner extrem hohen Wettbewerbsfähigkeit hat Deutschland von dem durch öffentliche, namentlich chinesische Konjunkturprogramme angestoßenen Aufschwung der Schwellenländer am meisten profitiert. Aber es übernimmt die Rolle der Konjunkturlokomotive ausweislich seiner Überschussposition beim Handel weder in Europa noch in der Welt und wird dafür im Rahmen der G 20 und in Europa massiv kritisiert.

Deutschlands Wirtschaftspolitiker glauben, die wachstumsbedingte Entlastung des Staatshaushalts zur Schuldenreduktion nutzen und den EWU-Partnern das Gürtel-enger-Schnallen vorschreiben zu können, ohne selbst eine Anstrengung zur Beseitigung der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte unternehmen zu müssen. Deutschland ignoriert einerseits die Vorschläge der EU-Kommission zum Abbau der makroökonomischen Ungleichgewichte,8 gibt sich aber andererseits kompromisslos, wo es um die Begrenzung der öffentlichen Defizite in Europa geht. Die offen zu Tage tretenden EWU-internen Spannungen, die bis hin zum Untergang des Euro führen können, die Deflationsgefahren, der vom brasilianischen Finanzminister offen als weltweiter „Währungskrieg“ bezeichnete Abwertungswettlauf und die konkrete Gefahr von Protektionismus und Nationalismus werden von hiesigen Wirtschaftspolitikern bestenfalls am Rande wahrgenommen, aber nicht in ursächlichen Zusammenhang mit der eigenen Politik gebracht. Und das alles nur, weil man vom Dogma „öffentliche Schulden sind generell schlecht“ nicht lassen will.

Wie viel Staat darf es sein?

Mit den Überlegungen zur Entwicklung von Staatsschulden ist allerdings noch nicht geklärt, welchen absoluten Anteil der öffentliche Sektor an der Gesamtwirtschaft auf Dauer haben sollte. Das optimale Verhältnis von öffentlichem zu privatem Kapitalstock respektive von öffentlichen zu privaten Schulden ist genau so wie das Verhältnis von Primär- zu Transfereinkommen eine (gesellschafts-)politische Frage, die nicht allgemein gültig beantwortet werden kann. Sie muss stets neu vor dem Hintergrund der aktuellen und längerfristigen Schwierigkeiten diskutiert werden, vor denen die Gesellschaft konkret steht. Die Wohlstandsmehrung weiter Teile der gegenwärtigen und zukünftigen Bevölkerung und nicht nur einzelner Gruppen sollte dabei als Spiegelbild unserer demokratischen Verfassung den Maßstab für den optimalen Mix von öffentlicher und privater Wirtschaftsaktivität darstellen.

Daraus folgt, dass sich die Fiskalpolitik in „normalen“ Zeiten einen Ausgabenpfad als Richtschnur setzen sollte, der die allgemeinen wirtschaftspolitischen Ziele so gut wie möglich widerspiegelt. Die Mischung aus Steuern und Krediten zur Finanzierung des Pfades muss sich am durchschnittlich erwarteten Wirtschaftswachstum orientieren, genauso wie das die Geldpolitik mit ihrem Zinsniveau tun sollte. Darüber hinaus darf das Niveau der Staatsausgaben im Vergleich zur gesamtwirtschaftlichen Aktivität nicht zu gering sein, damit die Fiskalpolitik ihrer Stabilisierungsfunktion in Krisenzeiten gerecht werden kann.

  • 1 Vgl. R. C. Koo: The Holy Grail of Macroeconomics: Lessons from Japan’s Great Recession, Singapur 2008.
  • 2 Dass dessen Bewertung in der Praxis Schwierigkeiten bereitet, ändert an dieser grundsätzlichen Überlegung nichts.
  • 3 Unter Wachstum verstehen wir dabei weniger eine wachsende Zahl von Autos oder Fernreisen. Vielmehr kann es sich um die Schonung der begrenzten natürlichen Ressourcen, um eine Zunahme der Freizeit oder der Lebenserwartung handeln. Das wird trotz vieler Lippenbekenntnisse etwa zum Klimaschutz von vielen Wirtschaftspolitikern und Unternehmern anders gesehen. Wie sonst könnten etwa die Exporterfolge der deutschen Autoindustrie so gefeiert werden ohne jede kritische Überlegung, welche Umweltfolgen das in den Empfängerländern zeitigt?
  • 4 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Warum wir eine globale Geldordnung brauchen, in: Zeit online vom 1.11.2010.
  • 5 Vgl. H. Flassbeck, F. Spiecker: Lohnpolitische Konvergenz und Solidarität oder offener Bruch, in: Wirtschaftsdienst, 90. Jg. (2010), H. 3.
  • 6 Eine rühmliche Ausnahme bildet hier Carl Christian von Weizsäcker, der in einem Interview mit dem Handelsblatt am 13.10.2010 zur Sinnhaftigkeit einer niedrigeren Staatsverschuldung feststellte: „Ich glaube, die Finanzkrise hat gezeigt, dass wir hier umdenken müssen... In Deutschland wäre ein Abbau der Staatsverschuldung falsch.“
  • 7 Vgl. „Deutschland im Aufschwung – Wirtschaftspolitik vor wichtigen Entscheidungen“, Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2010, S. 8; oder auch J. Stark: Europa braucht strengere Regeln, in: Financial Times Deutschland vom 25.10.2010, S. 24.
  • 8 Legislativpaket der EU-Kommission vom 29.9.2010, Pressemitteilung IP/10/1199, abrufbar auf europa.eu.

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DOI: 10.1007/s10273-010-1142-1

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