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Die Rating-Agenturen stehen weiterhin in der öffentlichen Kritik, weil ihnen vorgeworfen wird, die Finanzkrise durch falsche Bewertungen mitverursacht zu haben. Aktuell stehen verschiedene Reformvorschläge im Raum. Die Autoren schlagen einen Europäischen Rating-Fonds vor.

Auf der Suche nach Schuldigen für die jüngsten Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten geraten stets die gleichen Verdächtigen ins Visier der öffentlichen Empörung und unter ihnen neben gierigen Bankern und skrupellosen Hedge-Fonds regelmäßig auch die Rating-Agenturen. Ihnen wird u.a. vorgeworfen, sie hätten 2008 die Finanzkrise durch falsche Bewertung komplexer Verbriefungsinstrumente mit verursacht und seien 2010 wegen der Herabstufung der Bonität von Staatsanleihen dafür verantwortlich, dass einige europäische Staaten höhere Zinsen für ihre Schulden bezahlen müssen. Was ist dran an den Vorwürfen? Was können und müssen Rating-Agenturen leisten, wo gibt es Reform-Bedarf und wie sehen mögliche Reformoptionen aus? Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst dargestellt, wie Rating-Agenturen arbeiten und welche Aufgabe sie erfüllen. Im Anschluss daran wird gezeigt, welche Probleme in der Praxis auftreten und warum eine europäische Rating-Agentur diese Probleme nicht lösen würde. Schließlich wird ein Rating-Fonds als eine ordnungspolitisch überlegene Lösung vorgestellt.

Kapitalmärkte brauchen Informationen

Kapitalmärkte sind das Nervenzentrum moderner arbeitsteiliger Volkswirtschaften, sie sorgen dafür, dass Finanzmittel von den Kreditgebern – den Anlegern, Versicherungen, Fondsgesellschaften und sonstigen Kapitalsammelstellen – zu den Kreditnehmern in die produktivste Verwendung fließen. Dabei entsteht in der Regel ein gravierendes Informationsproblem: Der Schuldner weiß besser als der Gläubiger, wie kreditwürdig er ist und welches Risiko besteht, dass er das geliehene Kapital nicht zurückzahlt. Zudem kann der Kreditgeber nicht alle rückzahlungsrelevanten Handlungen des Kreditnehmers während der Laufzeit des Kredites beobachten. Der Kreditnehmer hat also Anreize, seine Bonität so günstig wie möglich darzustellen und dadurch seine Kreditkosten zu Lasten des Kreditgebers zu senken. Diese Informationsasymmetrien führen zu einer adversen Selektion – es bleiben nur die schlechten Risiken am Markt; im Extremfall würde die Vergabe von Krediten eingestellt.1

Gelöst werden kann dieses Problem durch eine sorgfältige Bonitätsprüfung und den Aufbau von Reputation durch den Schuldner – und hier beginnt das Geschäft der Rating-Agenturen. Sie sammeln systematisch Informationen über Länder-, Branchen- und Unternehmensrisiken, bewerten diese an Hand vergleichbarer Kriterien und verdichten sie zu Einstufungen der jeweiligen Ausfallrisiken von Emissionen der Emittenten. Es werden quantitative (Umsatz, Gewinn etc.) und qualitative Angaben (z.B. Managementstrategie) verarbeitet, die in Gesprächen vor Ort mit dem Management gewonnen werden. Die Analysten übermitteln ihren Bericht an ein Rating-Komitee, das dann die Rating-Einstufung vornimmt. An diesen Einstufungen (Ratings) orientieren sich Banken sowie institutionelle und private Anleger bei der Auswahl ihrer Investments. Da bei der Sammlung von Wissen über die Bonität von Wertpapieremittenten und Kreditnehmern kostensenkende Netzwerk- und Skaleneffekte auftreten, lagern die kreditvergebenden Unternehmen diese Aufgabe an Rating-Agenturen als externe Dienstleister aus, die auf diesem Weg eine umfangreiche Expertise und eine Reputation als verlässlicher Schiedsrichter am Kapitalmarkt aufbauen können.2

Enger Markt

Der Markt für Ratings ist ein enges Oligopol: Die Agenturen Standard & Poor’s (S&P) sowie Moody’s (beide mit Sitz in New York) dominieren mit Marktanteilen von jeweils rund 40%; Fitch (mit amerikanisch-britischen Wurzeln, aber französischer Muttergesellschaft) kommt als drittgrößter Wettbewerber nur auf 10 bis 15%.3 Neben diesen drei großen Agenturen gibt es noch eine Vielzahl kleinerer Unternehmen, deren stark spezialisierte Tätigkeit sich auf Marktnischen beschränkt.

Ursächlich für die Dominanz der drei großen Agenturen im Bewertungsgeschäft dürften neben dem gezielten Aufkauf kleinerer Konkurrenten Markteintrittsbarrieren wegen erheblicher Netzwerk- und Skalenvorteile für die schon im Markt befindlichen Platzhirsche sein. Es gab vor allem in den 1980er Jahren mehrere Versuche, neue Agenturen zu etablieren, die aber scheiterten.4 Auftraggeber verlangen von neuen Wettbewerbern Nachweise der Leistungsfähigkeit, die von Newcomern naturgemäß kaum zu erbringen sind. Neben diesen Reputationsvorteilen haben die etablierten Anbieter wegen ihrer langjährigen Erfahrung erhebliche Wissens- und Kostenvorteile.

Eine weitere Ursache für die oligopolistische Marktstruktur sind die rechtlichen Rahmenbedingungen: In den USA beispielsweise können Anleihen nur platziert werden, wenn Rating-Urteile von mindestens zwei Agenturen vorliegen, die von der staatlichen Aufsichtsbehörde Securities Exchange Commission (SEC) als Agenturen von nationaler Bedeutung anerkannt sind (Nationally Recognized Statistical Rating Organizations). Praktisch läuft diese Vorschrift darauf hinaus, dass sowohl die beiden Marktführer Standard & Poor‘s und Moody’s, häufig auch noch der dritte relevante Anbieter Fitch von Schuldverschreibungen emittierenden Unternehmen jeweils einen Auftrag zur Beurteilung ihrer Bonität bekommen,5 was den Wettbewerb um Aufträge erheblich einschränkt und das enge Oligopol zementiert. In der Literatur wird das starke Umsatzwachstum der Agenturen in der Vergangenheit u.a. auf diese regulatorischen Zwänge zurückgeführt.6 Ähnlich wirken bankenaufsichtsrechtliche Regelungen wie Basel II, nach denen für die risikoadäquate Eigenkapitalunterlegung von Unternehmenskrediten (auch) Urteile von Rating-Agenturen herangezogen werden können. Vor allem kleinere Banken sind dadurch auf die Urteile externer Rating-Agenturen angewiesen.

In der Summe haben staatliche Regelungen und die privatrechtliche Praxis bewirkt, dass Rating-Urteile von Agenturen weit mehr sind als sachkundige Meinungen. Faktisch wurde ein Teil der staatlichen Überwachung und Regulierung des Finanzsektors auf die Rating-Agenturen übertragen, und zwar ohne die aus deren Geschäftsmodell resultierenden immanenten Risiken zu berücksichtigen, was in der Finanzmarktkrise 2008 schmerzlich deutlich geworden ist.

Immanente Interessenkonflikte

Das Geschäftsmodell der Rating-Agenturen ist anfällig für Interessenkonflikte, da die Ratings in der Regel von den Emittenten gezahlt werden und nicht von den Gläubigern. Der Schuldner zahlt also dafür, dass seine Bonität bewertet wird, und je besser die Bonitätseinstufung, umso günstiger kann er sich refinanzieren. Weil die Rating-Agentur von den Zahlungen der Emittenten lebt, liegt es auf der Hand, Gefälligkeitsgutachten zu vermuten. In der Literatur spricht man vom „Rating-Shopping“ – damit wird die bewusst günstigere Beurteilung eines Unternehmens durch eine Rating-Agentur bezeichnet, um einen Bewertungsauftrag oder um Anschlussaufträge zu bekommen. Über dieses Rating-Shopping hinaus wird Rating-Agenturen7 vorgeworfen, dass sie komplexe Kreditprodukte, die sie selbst für ihre Kunden konzipiert haben, anschließend mit günstigen Ratings versehen.

Aus empirischen Untersuchungen ergeben sich Hinweise auf Rating-Shopping. So zeigen Jewell und Livingston,8 dass Fitch als kleinerer Konkurrent der beiden Marktführer Moody’s und S&P der Tendenz nach gerade an der kritischen Bewertungsgrenze zwischen Investments mit guter und geringer Bonität (Investment Grade und Speculative Grade) günstiger bewertet hat als die Marktführer, was auf das Bemühen hindeutet, Aufträge zu erhalten. Für ein solches Verhalten spricht auch, dass generell etwas günstiger bewertet wird, wenn neue Wettbewerber im Markt erscheinen.9 Zudem wurde festgestellt, dass kleinere Agenturen oft Aufträge erhalten, wenn die beiden großen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen,10 was allerdings auch unabhängig vom Rating-Shopping rational sein kann, da Emittenten, die sich falsch bewertet fühlen, von einer weiteren Beurteilung Vorteile haben können.

Gegen Rating-Shopping spricht, dass in der Praxis zusätzliche (unterschiedliche) Rating-Urteile die von den Investoren zu zahlenden Zinsen verändern – die Anleger messen den neuen Urteilen also Informationsgehalt zu.11 Die Zahl der untersuchten Fälle ist indes wegen der sehr ähnlichen Beurteilung durch die Agenturen gering. Das wichtigste Gegenargument ist nicht empirischer, sondern theoretischer Natur: Der Anreiz, Reputationskapital aufzubauen, wirkt dem Anreiz zum Rating-Shopping entgegen. Agenturen müssen befürchten, dass systematische Fehlbewertungen früher oder später publik werden – mit entsprechenden Folgen für ihr Geschäft. Wenn allerdings die Kunden der Agenturen nur wenig Möglichkeiten haben, auf andere Rating-Agenturen auszuweichen – und der Markt für Ratings ist wie gezeigt ein enges Oligopol –, dann verliert der Aufbau von Reputation für die Agenturen an Bedeutung.

Herdenverhalten

Ein weiterer Vorwurf, der den Rating-Agenturen gemacht wird, ist die Gleichförmigkeit ihrer Bewertungen. Positiv interpretiert kann dies daran liegen, dass die Agenturen nach unabhängiger Prüfung alle zu den gleichen Ergebnissen bezüglich eines Emittenten kommen. Negativ gewendet könnten die Agenturen sich bei ihren Bewertungen an den Einschätzungen der Konkurrenz orientieren, was ihren Aufwand verringert und weniger Rechtfertigungsdruck nach sich zieht, denn vom allgemeinen Konsens abweichende Urteile müssen gegenüber der Öffentlichkeit viel stärker begründet werden als gleichlautende.

Eine für die Agenturen ebenfalls wenig schmeichelhafte Erklärung für sehr ähnliche Beurteilungen könnte sein, dass die Analysten nicht zukunfts-, sondern vergangenheitsorientiert urteilen. Träfe dies zu, so würden Ratings keine Informationen über zukünftige Entwicklungen enthalten und wären überflüssig. Schließlich kann zur Erklärung von gleichgerichteten Ratings die Marktstruktur dienen: Die potentiell hohe Wettbewerbsintensität im engen Oligopol kann rasch zur Kollusion führen, mit der Folge, dass bei der Beurteilung die gleichen bewährten Methoden verwendet werden und sich die Wettbewerber innovationsfeindlich verhalten.

Zu späte Korrektur von Fehlbewertungen

Bis 2008 änderten die Agenturen die Bewertungen von Papieren bei laufenden Überprüfungsverfahren nie über mehr als eine Stufe, und nach einer Verschlechterung der Einstufung erfolgten häufig weitere Verschlechterungen. Ursache dafür könnten einerseits relativ seltene Überprüfungen der Einstufungen sein (z.B. aus Kostengründen), aber auch strategische Absichten, z.B. das Interesse der beurteilten Unternehmen an langfristig stabilen Fremdkapitalzinsen. Erst in der Finanzmarktkrise wurde diese Politik der vorsichtigen Anpassung nach heftiger Kritik an dieser Praxis revidiert.

Mittlerweile wird den Agenturen umgekehrt vor allem von Politikern vorgeworfen, sie hätten im Fall griechischer Staatsanleihen ihre Bewertungen zu schnell, zu hektisch geändert und damit die Schuldenkrise verschärft. Die Rating-Agenturen stecken damit in einem Dilemma: Entweder sie bewerten zu vorsichtig und werden von den Käufern der bewerteten Produkte kritisiert, oder aber sie bewerten zu kritisch und werden von den Emittenten gescholten. Unabhängig von einer zu raschen oder zu langsamen Anpassung lässt bislang generell die Qualität der Rating-Urteile zu wünschen übrig; der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) spricht diesbezüglich sogar von „völligem Versagen“ der Agenturen.12

Antworten des Gesetzgebers bisher zaghaft

Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass der Rating-Markt nicht zufriedenstellend funktioniert und Maßnahmen zur Effizienzsteigerung unumgänglich sind. Allerdings sollte bei der aufgeregten Debatte nicht übersehen werden, dass Rating-Agenturen als Informationsanbieter auf den Kapitalmärkten auch künftig gebraucht werden. Eine ordnungspolitische Reform des Rating-Marktes hat daher auch die Aufgabe, das Vertrauen in eine an sich nützliche Institution wiederherzustellen.

Bisher sind vom Gesetzgeber nur zaghafte Schritte unternommen worden.13 2009 trat die EU-Ratingverordnung in Kraft. Sie sieht vor, dass sich in der EU tätige Rating-Agenturen ab Juni 2010 bei der Finanzaufsicht des jeweiligen Landes registrieren lassen und ihre Geschäfte offenlegen. Um registriert zu werden, haben sie international festgelegte Anforderungen zu erfüllen. Unter anderem dürfen Rating-Analysten nicht mehr gleichzeitig Kunden beraten und sie bewerten. Die Agenturen müssen ferner ihre Ratings und Methoden regelmäßig überprüfen, und für strukturierte Finanzinstrumente müssen gesonderte und klar gekennzeichnete Rating-Kategorien angegeben werden. Deutschland will diese Regelungen mit Hilfe des Ausführungsgesetzes zur EU-Ratingverordnung umsetzen.14 Dort ist geregelt, dass die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) die Aufsicht über die Rating-Agenturen hat, zudem wird ein Katalog von Bußgeldvorschriften eingeführt, der bei Verstößen gegen die in der EU-Ratingverordnung festgelegten Pflichten greift.

Dies sind recht zaghafte Reformen. Welche Möglichkeiten gibt es darüber hinaus? Eine an sich naheliegende Option – die Einführung einer Haftung für Fehlurteile der Rating-Agenturen – ist kaum durchsetzbar: Das Ausmaß der Haftung wäre im Extremfall so hoch, dass eine Agentur ein Fehlurteil nicht überleben würde. De facto würde mit einer solchen Haftung das Risiko des Investments von den Anlegern auf die Rating-Agenturen verlagert werden: Geht das Investment gut, streicht der Anleger den Gewinn ein, geht es schief, verweist er auf das Fehlurteil der Rating-Agenturen und fordert seinen Einsatz zurück. Dieses Modell kann in der Praxis nicht funktionieren und verdeutlicht, dass Rating-Agenturen lediglich eine qualifizierte Expertise zu einem Investment abgeben, die letztliche Entscheidung – und damit auch die Verantwortung für das Investitionsrisiko – muss beim Anleger verbleiben. Die in den Medien, aber auch bei einigen Anlegern zu beobachtende einseitige Fokussierung auf die Rating-Note vernachlässigt, dass diese Noten auf der Basis umfangreicher Gutachten entstehen, die den Investoren eine Hilfestellung bei ihrer Urteilsbildung geben, aber nie das eigene Urteil ersetzen sollen.

Wäre eine europäische Rating-Agentur die Lösung?

Einige Kommentatoren und Politiker sehen in der Gründung einer europäischen Rating-Agentur15 eine angemessene Antwort auf die Funktionsprobleme des Rating-Marktes. Sie sollte unabhängig und ohne Interessenkonflikte bewerten, nicht-profitorientiert arbeiten und die EZB und die nationalen Notenbanken in ihre Arbeit einbinden, weil letztere jetzt schon entsprechende Bewertungsabteilungen unterhalten. So prüfen z.B. die deutsche und die französische Notenbank seit langem die von den Geschäftsbanken im Zuge ihrer Refinanzierung eingereichten Sicherheiten und verfügen deswegen über langjährige Datenreihen für Unternehmen. Für die Einbeziehung der Notenbanken spräche zudem, dass sie bei den Marktteilnehmern eine hohe Reputation haben und als neutral und unabhängig von der Politik gelten.16

Ein Einwand aus der Praxis gegen diesen Vorschlag zielt auf die regional begrenzte Tätigkeit einer rein europäischen Agentur ab: Agenturen, die nicht auch in den USA aktiv seien, würden international nicht akzeptiert, weil der dortige Markt zu wichtig sei.17 Zudem müsse eine Agentur international aufgestellt sein, um internationale Konzerne angemessen bewerten zu können. Als abschreckendes Beispiel werden die japanischen Rating-Agenturen angeführt, die international praktisch kein Gewicht haben. Diese mangelnde Akzeptanz könnte der Gesetzgeber theoretisch dadurch kompensieren, dass er europäischen Emittenten vorschreibt, ein Rating der europäischen Rating-Agentur einzuholen oder indem er diesem Rating rechtliche Bedeutung beispielsweise bei der Eigenkapitalhinterlegung von Banken verleiht.

Hoffnungen auf Marktakzeptanz ohne gesetzliche Vorgaben könnten sich auf überlegene Beurteilungsqualitäten stützen. Es ist aber kaum zu erkennen, warum die Anreize, sorgfältig und akkurat zu bewerten, für eine europäische Rating-Agentur höher liegen sollten als für eine private Agentur. Würde sich die Agentur aus den Einnahmen aus dem Rating-Geschäft finanzieren, so wäre sie de facto eine private Rating-Agentur mit all den oben beschriebenen Problemen, erhielte sie dagegen in irgendeiner Form Zuschüsse von staatlicher Seite, so würde die Notwendigkeit, sich am Markt mit guter Arbeit zu behaupten, sinken – ein Unternehmen mit staatlicher Existenzgarantie muss sich nicht anstrengen, erfahrungsgemäß mit entsprechenden Folgen für die Qualität der Arbeit.

Noch stärkere Bedenken gegen den Vorschlag entstehen aus einem unabweislichen Interessenkonflikt: Die Staaten Europas, die zu den größten Schuldnern an den Kapitalmärkten gehören, gründen eine eigene Rating-Agentur, welche die Bonität ihrer eigenen Emissionen beurteilen soll. Wenn die Märkte das Urteil dieser Agentur ernst nähmen, bedeutete jede Herabstufung einer europäischen Staatsanleihe eine Zunahme an Zinsverpflichtungen für das betreffende Land – schwer vorstellbar, dass diese Ratings einer Staatsagentur nicht rasch zu einem Politikum werden, schwer vorstellbar, dass die nationalen Regierungen hier nicht versuchen werden, Einfluss zu nehmen. Alleine das Wissen um diesen Interessenkonflikt würde vermutlich dazu führen, dass die Marktteilnehmer kein Vertrauen in die Bewertungen einer solchen Agentur gewinnen.

Wenn die größten Emittenten am europäischen Kapitalmarkt eine Agentur gründen, um die Qualität ihrer eigenen Emissionen zu bewerten, kann es offensichtlich keine interessenfreie Bewertung durch diese Agentur geben. Dem kann man auch nicht durch geliehene Reputation über die Einbeziehung der Zentralbanken begegnen. Im Gegenteil: Nachdem die Reputation der Europäischen Zentralbank durch den Ankauf griechischer Staatsanleihen bereits beschädigt ist, wäre die Einbeziehung der Zentralbanken in die neue Rating-Agentur ein weiterer Schritt, die politische Unabhängigkeit und damit die Basis des Vertrauens der Märkte zu verspielen.

Neben solchen grundsätzlichen Bedenken gibt es weitere Einwände stärker politischer Natur: Wenn eine Rating-Agentur, die sozusagen mit dem Siegel der europäischen Regierungen versehen ist, sich bezüglich eines Ratings irrt und dies für Investoren unter Umständen gravierende Verluste zur Folge hat, wird dies in der Außenwahrnehmung so wirken, als hätte die Politik die Investoren in falsche Investments gelockt. Im schlimmsten Fall würden Anleger von den Regierungen ihr Geld zurückfordern, weil eine in ihren Augen staatliche Agentur sie falsch beraten hat. Es ist auch schwer vorstellbar, dass sich eine durch gesetzliche Vorgaben und staatliche Mittel groß gewordene Agentur auf Dauer auf Europa beschränken würde – die Konsequenz wäre folglich eine staatliche, international im Wettbewerb mit den großen privaten Agenturen stehende Rating-Agentur, was heftige wettbewerbs- und handelspolitische Konflikte zur Folge haben könnte. Unter dem Strich ist die Gründung einer europäischen Rating-Agentur unter staatlicher Regie keine gute Idee. Wie sollte eine bessere Lösung aussehen, die die Bedeutung des europäischen Finanzplatzes stärken und zugleich zu mehr Effizienz im Rating-Markt führen kann?

Ein europäischer Rating-Fonds

Eine gute Reform sollte zwei Dinge leisten: Sie sollte den Auftrag vom Auftraggeber trennen, um Interessenkonflikte auszuschalten, und sie sollte für mehr Wettbewerb auf dem Markt für Ratings sorgen. Beides könnte durch eine europäische Fondslösung erreicht werden.18 Die Emittenten stellen ihre zu bewertenden Produkte in den Fonds ein und zahlen Beiträge an diesen Fonds, aus dem die zu vergebenden Rating-Aufträge finanziert werden. Die Vergabe der Aufträge erfolgt im Wettbewerb: Jedes zu bewertende Produkt wird – ohne Nennung des Emittenten – ausgeschrieben. Bewerben darf sich jede im Markt tätige Agentur, die Qualitätskriterien, die der Fonds festlegt, erfüllt; den Zuschlag erhält der günstigste Bieter. Auf diese Weise wird die direkte Beziehung zwischen Auftraggeber und Rating-Agentur zerschnitten; Gefälligkeitsratings werden deutlich erschwert. Der Fonds ist sozusagen ein Blind Pool: Das Unternehmen stellt ein Produkt ein, die Agenturen machen Gebote, ohne dass der eine jeweils weiß, wer der andere ist.

Finanzieren kann sich der Fonds über die Beiträge aller Emittenten, die Ratings nutzen. Aufgrund der gesetzlichen Vorschriften sind diese leicht zu identifizieren. Vorteilhaft wäre es, auch die Investoren an Bord zu holen, die Ratings nutzen. Diese sind zumindest teilweise bekannt; es sind all jene Investoren, die aufgrund rechtlicher Vorschriften oder Anlagesatzungen Ratings nutzen müssen. Dennoch entsteht hier ein Trittbrettfahrer-Problem: Investoren, die keine rechtlichen Verpflichtungen haben, Ratings einzusetzen, können das öffentliche Gut „Rating“ nutzen, ohne dafür zu zahlen. Man könnte dieses Trittbrettfahrerproblem lösen, indem man einen Teil der Finanzierung des Fonds aus einer zweckgebundenen Steuer oder einer Gebühr auf geratete Finanzprodukte finanziert. Eine solche Steuer würde nach Maßgabe der Überwälzung von allen Branchenbeteiligten getragen.

Beaufsichtigt und geführt wird der Fonds von allen Branchenvertretern, die in diesen Fonds einzahlen – sind hier auch die Investoren vertreten, reduziert sich das Problem der falschen Anreize zusätzlich. Möglicherweise entwickelt der Fonds eine Art Sogwirkung auf die Investoren: Je wichtiger die Ratings aus dem Fonds werden, um so interessanter wird es für Investoren, Einfluss auf die Festlegung der Qualitätskriterien und die Vergabe der Rating-Aufträge zu bekommen, was nur über eine Mitgliedschaft im Fonds und die damit verbundenen Zahlungen möglich wäre. Grundsätzlich denkbar ist, dass auch Vertreter anderer Institutionen (Finanzmarktaufsicht, Notenbank, Kartellamt, Monopolkommission, externe Experten) in die Entscheidungsgremien des Fonds eingebunden werden. Dies erscheint einerseits gerechtfertigt, da es durch ein falsches Rating zu negativen externen Effekten auf die gesamte Wirtschaft kommen kann. Allerdings muss man sich darüber im Klaren sein, dass dies eine Hintertür für politische Einflussnahme öffnet.

Chance für neue Wettbewerber

Der Fonds trennt nicht nur den Auftrag vom Auftraggeber, sondern kann bei geeignetem Zulassungsverfahren auch die Marktzutrittsbarrieren senken und damit den Wettbewerb erhöhen. Grundsätzlich sollte allen Agenturen die Möglichkeit offenstehen, sich um Aufträge aus dem Fonds zu bewerben, sofern sie zuvor in einem Akkreditierungsverfahren nachgewiesen haben, dass sie vom Fonds definierte Qualitätskriterien erfüllen. Dabei geht es nicht darum, eine einheitliche Rating-Methode zu etablieren, sondern einen Wettbewerb der Methoden und Verfahren zuzulassen. Nach der Akkreditierung ist eine regelmäßige Leistungsüberprüfung der teilnehmenden Agenturen durch den Fonds wichtig, damit Anreize bestehen, sorgfältig zu arbeiten und Interessenkonflikten aus dem Weg zu gehen. Bei ungenügenden Leistungen muss der Fonds Agenturen verwarnen oder auch temporär vom Bieterverfahren ausschließen können.

Die Zulassungskriterien sowie die laufenden Leistungskontrollen durch den Fonds bewirken eine Reduktion der Markteintrittsbarrieren für neue Agenturen, weil der Fonds Reputation verleihen kann. Im jetzigen System gibt es für die Emittenten keine Anreize, eine neue, kleinere und unbekannte Agentur zu wählen, da sie sich ebenso wie die Investoren auf die großen Namen im Geschäft verlassen. Wer eine unbekannte Agentur engagiert, läuft Gefahr, für diese Entscheidung später kritisiert zu werden; versagt eine der großen, renommierten Agenturen, kann sich der Verantwortliche dagegen damit rechtfertigen, dass er auf die Reputation des Rating-Anbieters vertrauen konnte. Ein europäischer Rating-Fonds könnte das ändern, indem er auch kleinen Agenturen und Neulingen durch Akkreditierung den Marktzutritt ermöglicht.

Zeit für den großen Wurf

Die Umsetzung des vorgeschlagenen Konzepts wäre ein wichtiger Baustein für einen ordnungspolitisch fundierten Rahmen, der die Finanzmärkte nicht mehr zur wiederkehrenden Quelle von Turbulenzen macht, die die Realwirtschaft schädigen, sondern sie befähigt, ihren eigentlichen Aufgaben gerecht zu werden, also dazu beizutragen, dass rentable Investitionen günstig finanziert werden können. Anders als bei vielen anderen Aspekten der Neuordnung der Finanzmärkte könnte die Europäische Union beim Rating-Fonds auch ohne internationale Abstimmung vorgehen, denn für die Akteure bestehen weder Anreize noch Möglichkeiten zur Regulierungsarbitrage. Dennoch dürfte die Umsetzung nicht einfach sein, weil es sich – anders als bei der EU-Rating-Verordnung – nicht um kleine Schritte im gewohnten Rahmen, sondern um eine strukturelle Veränderung handelt, die zudem wesentlich schwerer zu vermitteln ist, als das Verbot einiger (von den Wählern zumeist unverstandener) Finanztransaktionen oder die Errichtung einer neuen staatlichen Behörde. Die politische Anstrengung wäre es aber wert, denn die Kapitalmärkte brauchen einen Ordnungsrahmen, der Risikobereitschaft, Liquidität und Transparenz im Gleichgewicht hält. Dazu ist ein besser als bislang funktionierendes Rating-System wichtig, und je weniger Zeit die Politik verliert, umso besser für uns alle.

  • 1 Vgl. G. A. Akerlof: The Market for „Lemons“. Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: Quarterly Journal of Economics, Jg. 84 (1970), S. 488-500; F. S. Mishkin: Global Financial Instability: Framework, Events, Issues, in: Journal of Economic Perspectives, Jg. 13 (1999), Nr. 4, Herbst, S. 3-20.
  • 2 Zur Entstehung und Historie des Rating-Geschäfts vgl. D. Reidenbach: Aktienanalysten und Ratingagenturen – Wer überwacht die Überwacher?, Frankfurt a.M. 2006, S. 275 f.; L. J. White: The Credit Rating Industry: An Industrial Organization Analysis, in: R. M. Levich, G. Majnomi, C. Reinhart (Hrsg.): Ratings, Rating Agencies and the Global Financial System, Boston 2002, S. 47; M. Eisen: Haftung und Regulierung internationaler Rating-Agenturen, Frankfurt a.M. 2007, S. 86.
  • 3 Vgl. D. Reidenbach, a.a.O., 2006, S. 338; F. Dittrich: The Credit Rating Industry: Competition and Regulation, Diss. Köln 2007, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=991821& rec=1&srcabs=904077; abgerufen am 8.1.2010, S. 18.
  • 4 Vgl. C. R. Kley: Erklärungen für den Erfolg kleiner und großer Ratingagenturen. http://www.kleynet.com/2004_Kley_Analyse_des_Erfolges_grosser_und_kleiner_RatingWorkingPaper1Feb2004.pdf, S. 11 f.; M. Eisen, a.a.O., 2007, S. 92, 96; für Versuche Chinas siehe S. Kennedy: China’s Emerging Credit Rating Industry: The Official Foundations of Private Authority, in: China Quarterly, Vol. 193 (2008), S. 65 ff., http://journals.cambridge.org/action/displayFulltext?type=1&fid=1809164&jid=CQY&
    volumeId=193&issueId=-1&aid=1809160, 2008.
  • 5 Vgl. D. Reidenbach, a.a.O., 2006, S. 335; M. Eisen, a.a.O., 2007, S. 82 f.
  • 6 C. R. Kley, a.a.O., 2004, S. 19.
  • 7 Vgl. D. Reidenbach, a.a.O., 2006, S. 333 f.
  • 8 Vgl. J. Jewell, M. B. Livingston: A Comparison of Bond Ratings from Moody‘s S&P and Fitch IBCA, in: Financial Markets, Institutions & Instruments, Jg. 8 (1999), Nr. 4, S. 1-45.
  • 9 Vgl. B. Becker, T. T. Milbourn: Reputation and Competition: Evidence from the Credit Rating Industry, Harvard Business School Finance Working Paper Nr. 09-051, 2009, http://ssrn.com/abstract=1278150http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=1278150, S. 16.
  • 10 Vgl. L.J. White, a.a.O., 2002, S. 47; gegenteilig R. Cantor, F. Packer: Multiple Ratings and Credit Standards: Differences of Opinion in the Credit Rating Industrie, Federal Reserve Bank of New York Staff Reports Nr. 12 (1996); https//www.newyorkfed.org/publications/frame2.cfm?url=http%3A%2F%2Fwww%2Enewyorkfed%2Eorg%2Fresearch%2Fresearch%5Fupdate%2Findex%2EhtmlStaff Report, S. 19
  • 11 Vgl. H. K. Baker, S. A. Mansi: Assessing Credit Rating Agencies by Bond Issuers and Investors, in: Journal of Business Finance and Accounting, Jg. 29 (2002), S. 1376; J. Jewell, M. B. Livingston: The Impact of a Third Credit Rating on the Pricing of Bonds, in: Journal of Fixed Income, Jg. 10 (2000), Nr. 3, S. 69-85.
  • 12 Vgl. Sachverständigenrat: Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken. Jahresgutachten 2008/08 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Wiesbaden 2008, Ziffer 263; zum schwankenden Urteil des Rates bezüglich der Agenturen vgl. H. Wienert: Regulierung, Deregulierung und Finanzinnovationen. Zur Bewertung der Entwicklungen auf den Finanzmärkten durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 35 (2009), S. 4-32.
  • 13 Vgl. dazu auch o.V.: Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Ratingverordnung beschlossen, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, H. 5/2010, S. 164.
  • 14 Entwurf eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen (Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung), Deutscher Bundestag, Drucksache 17/716 vom 15.2.2010.
  • 15 A. Kunz, A. Henry, C. Welp: Die Fehlbaren, in: Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 10.5.2010, S. 89; oder D. Schäfer: Agenda für eine neue Finanzmarktarchitektur, in: Wochenbericht des DIW Berlin, Nr. 51/52, 2008, S. 815. Für eine erste Bewertung vgl. die Beiträge von H. Harbrecht, M. Wieland bzw. R. Elsas sowie O. Schneck in der Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ zum Thema „Ist eine europäische Ratingagentur sinnvoll, und wie sollte sie aussehen?“, in ifo Schnelldienst, 63. Jg. (2010), S. 3-11. Ganz so aktuell ist dieser Vorschlag nicht, vgl. beispielsweise o.V.: Etablierung einer europäischen Rating-Agentur, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, H. 7/2004, S. 198.
  • 16 Vgl. C. Schmergal: Bundeswirtschaftsministerium will europäische Rating-Agentur aufbauen; URL: http://www.wiwo.de/politik-weltwirtschaft/bundeswirtschaftsministerium-will-europaeische-rating-agentur-aufbauen-374978/.
  • 17 Vgl. o.V.: Fitch sieht keine Chancen für eine rein europäische Ratingagentur; URL: http://www.handelsblatt.com/unternehmen/banken-versicherungen/fitch-sieht-keine-chancen-fuer-rein-europaeische-ratingagentur;675128.
  • 18 Ausführlich dazu: H. Beck; H. Wienert: Zur Reform des Rating-(Un)Wesens: Ein Reformvorschlag, erscheint in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, 2010. Ein in Grundzügen gleicher, aber nicht weiter ausgearbeiteter Vorschlag findet sich bei P. J. J. Welfens: Transatlantische Bankenkrise. Stuttgart 2009, S. 114.


DOI: 10.1007/s10273-010-1098-1

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