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Die positive Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts führt zu einer zunehmenden Diskussion über die Qualität des Beschäftigungsaufbaus. Kritiker beanstanden die Zunahme flexibler Beschäftigungsformen und fordern mehr Regulierung. Aus ökonomischer Sicht würde die Wiedereinschränkung der in den vergangenen Jahren hinzugewonnenen Öffnungsspielräume die Allokationsfunktion des Arbeitsmarkts schwächen. Dabei lässt sich der Beschäftigungsaufbau wesentlich auf die Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre zurückführen. Durch flexible Beschäftigungsformen und eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik wurden die Wettbewerbselemente des Arbeitsmarkts gestärkt.

Sowohl historisch als auch im internationalen Vergleich befindet sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland auf einem Tiefststand: Der Arbeitslosenbestand (2,8 Mio.) und die Arbeitslosenquote (6,6%) sind im September 2011 so niedrig wie zuletzt vor 20 Jahren. Die von Eurostat für Deutschland ausgewiesene saisonbereinigte Arbeitslosenquote ist mit 6,0% eine der niedrigsten in der Europäischen Union und liegt deutlich unter der vergleichbaren Quote der USA (9,1%) und dem Durchschnitt des Euroraums (10,0%, August 2011).

Zugleich ist die Zahl der Erwerbstätigen mit 41,2 Mio. so hoch wie nie zuvor (August 2011, Inlandskonzept). 69% der Erwerbstätigen waren im Juli 2011 sozialversicherungspflichtig beschäftigt; 28,4 Mio. sozialversicherungspflichtig Beschäftigte sind der höchste Juniwert seit 1993. Auch die Arbeitsnachfrage ist auf hohem Niveau: Der Stellenindex der Bundesagentur für Arbeit (BA-X) erreichte im September 2011 mit 171 Punkten ein neues Allzeithoch.

Die Arbeitsmarktentwicklung ist umso bemerkenswerter, da erst kurz zuvor der schwerste Konjunktureinbruch in der Geschichte der Bundesrepublik zu verkraften war. Im Vergleich zum Vorkrisenniveau zeigt Deutschland von allen OECD-Ländern die beste Arbeitsmarktperformance; für die OECD hat das Vorbildcharakter.1 Entscheidender als diese Momentaufnahmen ist jedoch der positive Trend bei Kennzahlen, die Hinweise auf einen Strukturwandel am Arbeitsmarkt geben.

Sockelarbeitslosigkeit sinkt, Durchlässigkeit nimmt zu

Die für den deutschen Arbeitsmarkt geradezu typische und über viele Konjunkturzyklen hinweg beobachtbare Hysterese, die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, konnte erstmals seit Jahrzehnten durchbrochen werden: Bisher stieg die Arbeitslosigkeit in jeder Wirtschaftskrise deutlich an und stagnierte im nachfolgenden Aufschwung auf einem höheren Niveau.

Demgegenüber gab es in der letzten Wirtschaftskrise – trotz massivster Export- und Produktionseinbrüche – nur einen moderaten Anstieg der Arbeitslosigkeit (vgl. Abbildung 1). Damit scheint auch das „Okun’sche Gesetz“ außer Kraft gesetzt zu sein,2 das einen negativen Zusammenhang zwischen Bruttoinlandsprodukt und Arbeitslosigkeit postuliert.

Abbildung 1
Arbeitslosigkeit: Langjähriger Trend durchbrochen
Durchschnittlicher Arbeitslosenbestand pro Jahr, in Mio.
Profit Abb-1.ai

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Grafik: BMWi.

Mittlerweile ist die Arbeitslosigkeit niedriger als vor der Krise. Zugleich ist auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen3 gesunken, und zwar vergleichsweise stärker als die Zahl der Arbeitslosen insgesamt. Sockelarbeitslosigkeit konnte abgebaut werden.

Vor diesem Hintergrund ist auch die steigende Dynamik (gemessen an Zugängen und Abgängen in die bzw. aus der Arbeitslosigkeit) positiv zu bewerten: Wer heute arbeitslos wird, hat eine zunehmend bessere Chance, in Beschäftigung zurückzukehren, bevor sich die Arbeitslosigkeit verhärtet und entsprechende Stigmatisierungs- und Dequalifizierungseffekte einsetzen.

Marktausgleich verbessert

Treten Arbeitslosigkeit und unbesetzte Stellen im großen Umfang gleichzeitig auf, ist das ein Kennzeichen für ein Mismatch am Arbeitsmarkt. Der Marktausgleich funktioniert nur eingeschränkt. Die Beveridge-Kurve veranschaulicht das Ausmaß dieses Mismatch und seine Veränderung über die Zeit:

Im Boomjahr 2001 gab es – trotz eines hohen Stellenangebots – saisonbereinigt rund 3,9 Mio. Arbeitslose (vgl. Abbildung 2). In den Folgejahren ging die Zahl der gemeldeten Stellen zurück und die Arbeitslosigkeit stieg an. Durch die begonnenen Arbeitsmarktreformen erhöhte sich die Effizienz der Arbeitsvermittlung. Der Arbeitsmarkt wurde flexibler, offene Stellen wurden schneller besetzt, der Anstieg des Stellenangebots ging nun mit einem vergleichsweise stärkeren Rückgang der Arbeitslosigkeit einher.

Abbildung 2
Beveridge-Kurve
Verhältnis von Arbeitslosen zu gemeldeten Stellen (saisonbereinigt, in 1000)
Profit Abb-2.ai

Quelle: Bundesagentur für Arbeit, Grafik: BMWi.

In der Wirtschafts- und Finanzkrise brach die Arbeitsnachfrage massiv ein. Dennoch stieg die Arbeitslosigkeit nur moderat an. Mit der wirtschaftlichen Erholung wuchs das Stellenangebot erneut parallel zum Rückgang der Arbeitslosigkeit. Der Stellenbestand bewegt sich nun auf dem Niveau von 2001, aber zugleich gibt es rund 1 Mio. Arbeitslose weniger als vor zehn Jahren.

Wie Abbildung 2 zeigt, hat sich die Beveridge-Kurve nach links verschoben. Dies kann als Indiz für eine strukturelle Verbesserung der Funktionsweise des Arbeitsmarktes interpretiert werden.4

Arbeitsmarktreformen wirken

Die strukturellen Verbesserungen des Arbeitsmarktes, die steigende Dynamik bei sinkender Arbeitslosigkeit und der besser funktionierende Marktausgleich lassen sich zeitlich und vor allem kausal auf die Arbeitsmarktreformen der vergangenen Jahre zurückführen.

Der Schwerpunkt der Reformen lag auf dem Umbau der Sozialsysteme mit dem Ziel einer besseren und schnelleren Eingliederung Arbeitsloser in den ersten Arbeitsmarkt. Dies erfolgte einerseits durch eine umfassende Aktivierung Arbeitsloser durch die Agenturen für Arbeit und die Jobcenter, andererseits durch eine erhöhte Konzessionsbereitschaft Betroffener bei der Suche nach einer Arbeitsstelle. Einen wesentlichen Beitrag leistete in diesem Zusammenhang auch die beschäftigungssichernde Tarifpolitik der vergangenen Jahre. Hinzu kam eine Anpassung rechtlicher Rahmenbedingungen unter anderem für Zeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Teilzeit- und befristete Beschäftigung.

Die Arbeitsmarktreformen wurden in den letzten beiden Jahren mit weiteren wichtigen Gesetzesänderungen fortgeführt:

  • Mit der Reform der Jobcenter wurde nicht nur eine grundgesetzkonforme Organisationsform in der Grundsicherung geschaffen, sondern es wurden gleichzeitig Kinderkrankheiten der Jobcenter beseitigt. Systembedingte Reibungsverluste zwischen den Trägern sollen minimiert werden, um eine umfassende und effiziente Unterstützung Hilfebedürftiger aus einer Hand zu gewährleisten. Einheitliche Standards zur Datenerhebung ermöglichen Leistungsvergleiche zwischen den Jobcentern und schaffen die Grundlage für Zielvereinbarungen und Controlling.
  • Mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen wurde die notwendige Transparenz bei der Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung hergestellt; zusätzlich wurden die Hinzuverdienstmöglichkeiten von Arbeitslosengeld-II-Beziehern neu geregelt, um die Anreize zur Aufnahme einer voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zu stärken.
  • Durch den gezielten und zeitlich befristeten Einsatz erleichterter Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Kurzarbeitergeld in der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde die interne Flexibilität zur Anpassung der Arbeitsnachfrage in den Betrieben erhöht.

Im Kern haben die Arbeitsmarktreformen – direkt oder indirekt – die Rahmenbedingungen für den Ausgleich von Angebot und Nachfrage und damit die Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes verbessert. Die positiven Wirkungen lassen sich insbesondere an zwei Entwicklungen verdeutlichen: der Lohndifferenzierung und der Öffnung flexibler Beschäftigungsformen.

Lohndifferenzierung

In einer Marktwirtschaft gibt es eine Vielzahl von Arbeitsplätzen mit unterschiedlichen Anforderungen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass auch die Löhne und Gehälter ein weites Spektrum einnehmen. Selbst eine Zunahme der Lohndifferenzierung – wie sie auch für Deutschland festgestellt wurde – ist aus ökonomischer Sicht nichts Beunruhigendes, sondern der Ausdruck eines weit gefächerten Arbeitsangebots. Gleichwohl gibt es unterschiedliche gesellschaftspolitische Sichtweisen in Bezug auf den angemessenen Umfang der Lohndifferenzierung und der daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen.5

Die verschiedenen Standpunkte werden bei der Diskussion um die Lohnfindung im Niedriglohnbereich besonders deutlich: Soll sich der Lohn aus Angebot und Nachfrage ergeben und so Arbeitslosen und Geringqualifizierten einen Einstieg in Beschäftigung ermöglichen (Allokationsfunktion)? Oder soll er staatlicherseits als Mindestlohn festgelegt werden, um dem Beschäftigten möglicherweise ein Mindesteinkommen zu sichern (Verteilungsfunktion)?

Ein staatlich verordneter Mindestlohn kann zum Spielball politischer Interessen werden, da es für seine Festsetzung keine objektiven Kriterien gibt. Dieses Grundsatzproblem ist bei allgemeinverbindlichen Branchenmindestlöhnen, die auf repräsentativen Tarifvereinbarungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften aufsetzen, weniger ausgeprägt. Allerdings stellt sich hier regelmäßig die Frage, ob solche Vereinbarungen nicht auch das Ziel verfolgen, unliebsame Wettbewerber in die Schranken zu weisen.6

Zudem ist zweifelhaft, inwieweit Mindestlöhne tatsächlich geeignet sind, den sozialen Schutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Denn die meisten Erwerbstätigen, die ihr Arbeitseinkommen durch Leistungen der Grundsicherung aufstocken, leben in Mehrpersonen-Bedarfsgemeinschaften (z.B. Familien) und/oder arbeiten in Teilzeit.7 Dann ist nicht zwingend die Lohnhöhe, sondern der Haushaltskontext und der Stundenumfang Ursache für das ergänzende Arbeitslosengeld II. Geht man beispielsweise von einem Arbeitslosengeld-II-Anspruch in Höhe von 1580 Euro (einschließlich Kosten der Unterkunft) für eine vierköpfige Familie aus, müsste der äquivalente Bruttostundenlohn bei einem Beschäftigten in der Familie knapp 12 Euro betragen.

Würde man – nach welchen Kriterien auch immer – einen allgemeinen Mindestlohn festlegen, würde er entweder unter dem Gleichgewichtslohn liegen und wäre damit wirkungslos. Oder er würde über dem Gleichgewichtslohn liegen und hätte dann eine sinkende Nachfrage nach Arbeitskräften und damit steigende Arbeitslosigkeit zur Folge. Betroffen wären insbesondere niedrig qualifizierte Arbeitsuchende. Dazu zählt auch ein großer Teil der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger: Von ihnen haben 52% keinen Berufsabschluss und 20% keinen Schulabschluss.8

Die negativen Beschäftigungswirkungen eines allgemeinen Mindestlohns wurden mehrfach wissenschaftlich untersucht. Eine Studie kam jüngst zu dem Ergebnis, dass schon ein Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde einen Verlust von 220 000 Arbeitsplätzen zur Folge hätte.9 Auch die Mehrzahl amerikanischer Studien bestätigt die Nachteile eines Mindestlohns.10 Zwar kommen einige Studien auf Grundlage von Individualdaten zu gemischten Ergebnissen, für die Baubranche beispielsweise Beschäftigungsneutralität in Westdeutschland und Beschäftigungsabbau in Ostdeutschland.11 Studien, die Mindestlöhnen sogar positive Beschäftigungswirkungen zuweisen, wenn Unternehmen als Arbeitsnachfrager Marktmacht gegenüber Arbeitnehmern ausüben können (sogenannte Monopsone), sind allerdings bisher eine empirische Überprüfung dieses Zusammenhangs für den deutschen Arbeitsmarkt schuldig geblieben.12

Ein impliziter Mindestlohn wird in Deutschland bereits durch die Grundsicherung für Arbeitsuchende bestimmt. Die Hinzuverdienstregelungen sind aber so ausgestaltet, dass es sich für Arbeitslosengeld-II-Bezieher rechnet, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder auszuweiten. Müssen Geringverdiener ihr Erwerbseinkommen durch Arbeitslosengeld II aufstocken, weil sie z.B. eine Familie zu versorgen haben, bleibt damit der Anreiz bestehen, durch einen Jobwechsel oder eine Weiterbildung mehr zu verdienen.

Vor diesem Hintergrund müssen die Zahl der Aufstocker, ein wachsender Niedriglohnsektor oder die gestiegene Lohndifferenzierung keine schlechten Nachrichten sein. Denn natürlich steigt die Lohnspreizung (gemessen an den Durchschnittslöhnen einzelner Einkommensgruppen), wenn eine wachsende Zahl an Erwerbstätigen im Niedriglohnbereich hinzukommt, die zuvor arbeitslos oder nicht erwerbstätig waren.

Die stärkere Lohndifferenzierung ist auch ein Folge zunehmender Flexibilität, die Arbeitgeber und Gewerkschaften im Bereich der Tarifverträge in den vergangenen Jahren geschaffen haben: Die Zahl dezentraler Verbands- und Firmentarifverträge ist gestiegen, und tarifvertraglich vereinbarte Öffnungsklauseln haben zugenommen. Solche Öffnungsklauseln erlauben es, das vereinbarte Arbeitsentgelt unter bestimmten Voraussetzungen abzusenken. Betriebe mit Tariföffnungsklauseln weisen dabei ein größeres Beschäftigungswachstum aus.13

Auch flexible Arbeitszeitregelungen (Arbeitszeitkonten) ermöglichen es Unternehmen, ihre Arbeitskosten entsprechend der Auftragslage zu variieren. Hinzu kommt eine generelle Verantwortungsbereitschaft der Tarifpartner, bei Lohnverhandlungen die Produktivitätsentwicklung zu berücksichtigen, sie gegebenenfalls nicht voll auszuschöpfen und so Beschäftigung zu sichern oder zu schaffen.

Insgesamt lässt sich also sagen, dass die Lohnfindung in Deutschland flexibler und differenzierter geworden ist. Die allokative Funktion des Lohns als Marktpreis für Arbeit wurde gestärkt – mit positiven Folgen für den Arbeitsmarkt, wie der Zugewinn bei Erwerbsbeteiligung und der Beschäftigung unterstreicht.14

Öffnung flexibler Beschäftigungsformen

In der öffentlichen Diskussion werden vielfach „atypische“ oder gar „prekäre“ Arbeitsverhältnisse von „Normalarbeitsverhältnissen“ abgegrenzt. Als atypisch werden dabei Teilzeit- und befristete Beschäftigungsverhältnisse, Zeitarbeit und Minijobs bezeichnet. Ein Normalarbeitsverhältnis ist dagegen die sozialversicherungspflichtige unbefristete Vollzeitbeschäftigung ohne die Zeitarbeit.

Dabei wird häufig unterstellt, dass die Zunahme der atypischen Beschäftigung Normalarbeitsverhältnisse verdrängt. Doch die Daten des Statistischen Bundesamts liefern dafür kaum Belege: Zwar hat die Zahl der atypisch Beschäftigten zwischen 2006 – dem Jahr nach dem Inkrafttreten der Arbeitsmarktreformen – und 2010 um 5% zugenommen. Im gleichen Zeitraum ist aber auch die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse angestiegen, und zwar um über 4%. Seit 2006 liegt der Anteil der atypischen Beschäftigung weitgehend stabil bei rund einem Viertel der Beschäftigungsverhältnisse. Hinweise auf eine Verdrängung ergeben sich hieraus nicht.

Die OECD leitet aus dem aus ihrer Sicht bestehenden Risiko zunehmender Arbeitsmarktdualität die Empfehlung ab, den Kündigungsschutz regulärer Beschäftigungen zu lockern, nicht aber die anderen Beschäftigungsformen weiter zu flexibilisieren.15 Der einseitige Blick auf die vermeintlichen Nachteile der nicht-regulären Beschäftigung unterschätzt aber, dass gerade deren Öffnung wesentlich dazu beigetragen hat, dass 2010 rund 1,7 Mio. mehr Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgingen als 2005. Dabei wurde reguläre Beschäftigung – wie oben dargestellt – nicht verdrängt, sondern ergänzt. Aber auch die reguläre Beschäftigung hat sich in Folge der Arbeitsmarkreformen weiter entwickelt: Die Konzessionsbereitschaft der Arbeitnehmer hat zugenommen, infolge dessen ist die interne Flexibilität der Betriebe gestiegen und hat damit einen wesentlichen Beitrag zur Stabilität des Arbeitsmarktes während der Krise geleistet.16

Die unterstellte Dualität zwischen Normalarbeitsverhältnissen und atypischer Beschäftigung ist auch aus methodischer Sicht fragwürdig, weil sie sich auf völlig unterschiedliche Dimensionen des Arbeitsverhältnisses bezieht, so auf die Sozialversicherungspflicht, die Laufzeit des Arbeitsvertrages oder die vereinbarte Arbeitszeit.

Besonders willkürlich erscheint die Unterscheidung im Falle der Zeitarbeit: Da Zeitarbeitsverhältnisse überwiegend unbefristete, sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeitsverhältnisse sind und sich insofern nicht von Normalarbeitsverhältnissen unterscheiden, muss hier eigens auf das Kriterium mangelnder Identität von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis zurückgegriffen werden.17

Tatsächlich ist der Arbeitsmarkt ein heterogenes Gefüge unterschiedlichster Beschäftigungsformen, die sich zum Teil deutlich überschneiden (siehe Abbildung 3): Zeitarbeiter können genauso in Vollzeit beschäftigt sein wie befristet oder unbefristet Beschäftigte, die nicht für ein Zeitarbeitsunternehmen arbeiten. Teilzeitbeschäftigungen sind sozialversicherungspflichtig, sofern es sich nicht um Minijobs handelt. Minijobber haben die gleichen Rechte wie andere Arbeitnehmer und sind vielfach unbefristet beschäftigt.

Abbildung 3
Beschäftigungsformen
Profit Abb-3.ai

Hinweis: Die Größe der einzelnen Felder macht keine quantitative Aussage und bildet nicht den Umfang der jeweiligen Beschäftigung ab.

Grafik: BMWi.

Die neue Heterogenität der Beschäftigungsformen entspricht häufig den vielfältigen Präferenzen und Interessen der Marktteilnehmer – und zwar sowohl auf Seiten der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber:

  • 80% der Teilzeitbeschäftigten wollen (oder können) ihre Arbeitszeit nicht ausweiten. Hauptgrund sind familiäre Verpflichtungen.18 Aus betrieblicher Sicht liegen die Vorteile der Teilzeit in ihrer Flexibilität und Produktivität.19 Vor dem Hintergrund zunehmenden Fachkräftemangels wird es zudem für Arbeitgeber wichtiger, qualifizierte Mitarbeiter durch flexible Arbeitszeitmodelle zu gewinnen und zu halten. Sie ermöglichen eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
  • Auch die geringfügige Beschäftigung kann für beide Seiten vorteilhaft sein: Sie bietet einerseits eine vergleichsweise unbürokratische Form des Hinzuverdienstes oder des Einstiegs in eine Beschäftigung. Arbeitgeber insbesondere im Gastgewerbe und im Einzelhandel können andererseits flexibel auf Stoßzeiten reagieren. Die Statistik enthält keinen Beleg dafür, dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung durch Minijobs ersetzt wird. Nach jüngsten Daten der Bundesagentur für Arbeit ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stärker gestiegen als die geringfügige Beschäftigung, und zwar auch im Gastgewerbe und im Einzelhandel – den beiden Branchen mit traditionell vielen Minijobs.20
  • Der volkswirtschaftliche Nutzen der Zeitarbeit hat sich gerade in der Krise erwiesen: Unternehmen konnten durch die Flexibilität der Zeitarbeit zunächst ihre Stammbelegschaft halten und dann schnell wieder auf den steigenden Auftragseingang reagieren. Auf Arbeitnehmerseite bietet sie insbesondere für Langzeitarbeitslose und gering Qualifizierte vergleichsweise gute Einstiegschancen in den ersten Arbeitsmarkt: 29% der Zeitarbeiter (im Vergleich zu 14% aller Beschäftigten) haben keinen Berufsabschluss, zwei Drittel waren zuvor ohne Beschäftigung.21 Allerdings scheint sich der schnelle Beschäftigungszuwachs der Zeitarbeit nach der Krise inzwischen abzuflachen.22 Zeitarbeitsunternehmen haben – angesichts der guten Arbeitsmarktentwicklung – zunehmend Probleme, ihre offenen Stellen besetzen zu können.
  • Befristete Beschäftigung ist häufig eine verlängerte Probezeit mit guten Übernahmeaussichten in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis. Dabei ist der Anteil der unfreiwilligen Befristung mit unter 25% vergleichsweise niedrig.23 Eine dramatische Ausweitung befristeter Beschäftigung ist nicht feststellbar: Ihr Anteil an den abhängig Beschäftigten beträgt knapp 9% und ist seit Jahren stabil.24 Die OECD beziffert die befristete Beschäftigung in Deutschland mit 14,7% (2010), sie liegt also über dem OECD-Durchschnitt (12%). Hierbei werden aber auch die rund 1,5 Mio. Ausbildungsverhältnisse mitgezählt. In der Altersgruppe der 25- bis 54-Jährigen liegt Deutschland mit 9,8% sogar leicht unter dem OECD-Durchschnitt (9,9%).

Im Ergebnis zeigt sich also: Die Flexibilisierung der Beschäftigung hat dazu beigetragen, die eigentliche Dualität des Arbeitsmarktes – nämlich die zwischen Arbeitslosen einerseits und Arbeitsplatzbesitzern andererseits – aufzubrechen. Flexible Beschäftigung baut Brücken in den ersten Arbeitsmarkt, weil sie den vielfältigen Interessen und Erfordernissen der Marktteilnehmer Rechnung trägt.

Die gute Arbeitmarktentwicklung belegt, dass mit der Öffnung der flexiblen Beschäftigungsformen der richtige Weg beschritten wurde. In Einzelbereichen besteht jedoch noch Handlungsspielraum. So sieht der Koalitionsvertrag beispielsweise vor, die Einstellung befristet Beschäftigter zu erleichtern, um die Beschäftigungschancen für Arbeitsuchende zu verbessern und den Bürokratieaufwand für Arbeitgeber zu verringern. Zudem wird es darauf ankommen, die Durchlässigkeit und die Übergänge zwischen den einzelnen Beschäftigungsformen weiter zu erhöhen.

Die wesentliche Herausforderung für die Politik besteht darin, die Beschäftigungschancen und unternehmerischen Handlungsspielräume zu stärken, ohne dabei Bedürfnisse der Arbeitnehmer nach sozialer Sicherheit aus dem Auge zu verlieren.

Arbeitsmarktpolitische Instrumente effizienter gestalten

In einem funktionierenden Markt erzielen Marktteilnehmer Wettbewerbsvorteile vorrangig aus eigener Kraft und nicht auf Grund staatlicher Schutzvorschriften. Auf die Anbieter im Arbeitsmarkt – die Arbeitnehmer – gemünzt bedeutet das: Wer seine Qualifikation und Kompetenz auf hohem Niveau hält, stärkt seine Marktposition und verringert das Risiko, arbeitslos zu werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente ein weiterer wichtiger Baustein für eine verbesserte Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes. Ziel ist es nicht, die Ausgaben für Eingliederungsmaßnahmen zu erhöhen, sondern das Arbeitsmarktinstrumentarium übersichtlicher und vor allem wirkungsvoller zu gestalten. Denn die Ausgaben für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen sind kontinuierlich angestiegen. Im laufenden Jahr sind dafür insgesamt 19,4 Mrd. Euro vorgesehen, 2006 hatten die entsprechenden Ausgaben noch 11,1 Mrd. Euro betragen.25

Dass ein Teil dieser Ausgaben ihre Wirkung verfehlt, machen Evaluationsergebnisse26 deutlich. Das im September vom Bundestag beschlossene „Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt“27 zielt darauf ab, unwirksame Instrumente zu streichen und den Ermessensspielraum bei den anderen Instrumenten zu erhöhen. In der Summe wird die Zahl der Maßnahmenteilnehmer zurückgehen. Da die Förderung bisher in vielen Fällen ohnehin ineffektiv war, muss sich die Gesamtwirkung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen aber nicht verringern.

Fazit

Der deutsche Arbeitsmarkt ist mit den Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre dynamischer, flexibler und vielfältiger geworden. Mit weiteren Reformen soll die Marktposition Arbeitsloser und Beschäftigter durch effizientere Fördermaßnahmen gestärkt werden. Vor dem Hintergrund von immer noch 3 Mio. Arbeitslosen, angesichts des zunehmendem Fachkräftebedarfs und der demografischen Entwicklung ist ein weiterer Beschäftigungsaufbau notwendig. Dies erfordert nicht weniger Flexibilität, sondern eine weitere Verbesserung der Funktionsweise des Arbeitsmarktes.

  • 1 OECD: Persistance of high unemployment: What risks? What policies?, in: OECD Economic Outlook, Jg. 2011, Nr. 1.
  • 2 Vgl. M. Burda, J. Hunt: What Explains the German Labor Market Miracle in the Great Recession?, Brookings Papers on Economic Activity, 2011.
  • 3 Langzeitarbeitslose sind Personen, die ein Jahr und länger arbeitslos gemeldet sind.
  • 4 J. Möller, U. Walwei, S. Koch, P. Kupka, J. Steinke: Fünf Jahre SGB II: Eine IAB-Bilanz – Der Arbeitsmarkt hat profitiert, IAB-Kurzbericht, Nr. 28, 2009.
  • 5 Vgl. z.B. J. Möller: Qualifikationsbedingte Lohnunterschiede: Wer kriegt wie viel Butter aufs Brot?, in: IAB-Forum, Nr. 1, 2011; Institut der Deutschen Wirtschaft: Einkommensverteilung: Viel Lärm um wenig, iwd, Nr. 30, 2010.
  • 6 Derzeit werden bestehende Branchenmindestlohnregelungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz im Auftrag der Bundesregierung unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales evaluiert. Nach Vorlage der Ergebnisse soll auf dieser Grundlage über den Fortbestand oder Wegfall der Mindestlohnregelungen entschieden werden.
  • 7 Bundesagentur für Arbeit: Grundsicherung für Arbeitsuchende: Erwerbstätige Arbeitslosengeld II-Bezieher: Begriff, Messung, Struktur und Entwicklung, März 2010.
  • 8 Bundesagentur für Arbeit: Arbeitslosigkeit nach Rechtskreisen im Vergleich, September 2011.
  • 9 K.-U. Müller, V. Steiner: Beschäftigungswirkungen von Lohnsubventionen und Mindestlöhnen – Zur Reform des Niedriglohnsektors in Deutschland, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 44. Jg. (2011), H. 1-2, S. 181-195.
  • 10 D. Neumark, W. Wascher: Minimum Wages and Employment, IZA Discussion Paper Nr. 2570, Bonn 2007.
  • 11 M. König, J. Möller: Mindestlohneffekte des Entsendegesetzes? – Eine Mikrodatenanalyse für die deutsche Bauwirtschaft, IAB Discussion Paper Nr. 30, 2007.
  • 12 B. Fitzenberger: Anmerkungen zur Mindestlohndebatte, in: ifo-Schnelldienst, 66. Jg. (2008), Nr. 11, S. 21-27.
  • 13 T. Brändle, W. D. Heinbach, M. F. Maier: Tarifliche Öffnung in Deutschland: Ausmaß, Determination, Auswirkungen, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 44. Jg. (2011), H. 1-2, S. 163-172.
  • 14 Vgl. D. Antonczyk, B. Fitzenberger, K. Sommerfeld: Anstieg der Lohnungleichheit, Rückgang der Tarifbindung und Polarisierung, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung, 44. Jg. (2011), H. 1-2, S. 15-27.
  • 15 OECD: OECD Economic Surveys: Germany, 2010.
  • 16 Vgl. auch A. A. Weber: Ausblick 2011: Zur aktuellen Lage von Konjunktur und Finanzmärkten, Deutsche Bundesbank (Rede vor dem Managerkreis der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankfurt am Main am 18.1.2011).
  • 17 Vgl. B. Keller: Atypische Beschäftigungsverhältnisse: Formen, Verbreitung, soziale Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 27, 2009; Statistisches Bundesamt: Atypische Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt, Begleitmaterial zum Pressegespräch am 9.9.2008.
  • 18 Statistisches Bundesamt: Frauendomäne Teilzeitarbeit – Wunsch oder Notlösung?, Wiesbaden 2009.
  • 19 S. Wanger: Arbeitszeitpolitik: Teilzeitarbeit fördert Flexibilität und Produktivität, IAB-Kurzbericht, H. 7, 2006.
  • 20 Bundesagentur für Arbeit: Beschäftigungsstatistik, Beschäftigung in Deutschland, Stichtag 31. Dezember 2010, Nürnberg 2011.
  • 21 Bundesagentur für Arbeit: Zeitarbeit in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Nürnberg 2011.
  • 22 Vgl. Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister: IW-Zeitarbeitsindex, BAP-Umfrage Juli 2011 (Welle 45) – IW-Fortschreibung.
  • 23 W. Eichhorst, P. Marx, E. Thode: Atypische Beschäftigung und Niedriglohnarbeit, Bertelsmann Stiftung, 2010.
  • 24 Dass EUROSTAT mit 14% einen höheren Wert ausweist, liegt daran, dass dabei Ausbildungsverhältnisse mitgezählt werden.
  • 25 Summe der Soll-Haushaltsansätze (2011) bzw. Ist-Ausgaben im Haushalt der Bundesagentur für Arbeit (Kapitel 2 und 3) und im Bundeshaushalt (Leistungen zur Eingliederung in Arbeit).
  • 26 Bundesministerium für Arbeit und Soziales/Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Sachstandsbericht der Evaluation der Instrumente, Berlin, Nürnberg 2011.
  • 27 Das Gesetz wird derzeit im Vermittlungsausschuss beraten.


DOI: 10.1007/s10273-011-1300-0