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Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise sind einschneidende Veränderungen im ökonomischen Governance-System der EU ausgelöst worden. Die im Zuge der Krise ergriffenen Maßnahmen werden hier kritisch untersucht. Dabei stellt der Autor fest, dass die Veränderungen den Empfehlungen des „Old View“ folgen, und beschreibt, welche Alternativen möglich sind.

Die jüngste Weltfinanzkrise hat die Europäische Union nachhaltig verändert.1 Diese Aussage trifft zwar nicht in dem Maße für die Regulierung der europäischen Finanzmärkte zu, wie man es hätte erwarten können,2 nachdem deren Versagen unstreitig als eine wesentliche Ursache der Krise anerkannt wurde. Dafür aber ist das europäische ökonomische Governance-System so kräftig – zumeist von den Geschehnissen getrieben – ausgebaut worden, dass gelegentlich schon von der Schaffung einer Europäischen Wirtschaftsregierung gesprochen wird.3

Es waren eigentlich immer Krisen, die die Weichen für die Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses gestellt haben: Die erste Ölpreiskrise Anfang der 1970er Jahre ließ die Europäische Währungsunion nach dem Werner-Plan scheitern. Die zweite Ölpreiskrise Ende der 1970er Jahre leitete jene Phase des Euroskeptizismus ein, die erst mit dem Binnenmarktprojekt Ende der 1980er Jahre und der explizit unter dem Stichwort des Europäischen Sozialmodells adressierten Fokussierung auf das soziale Defizit des Integrationsprozesses überwunden werden konnte. Die Währungskrise der frühen 1990er Jahre verstärkte – anders noch als Anfang der 1970er Jahre – die Anstrengungen des Übergangs in die Europäische Währungsunion (EWU).

Europäische Integrationsarchitektur vor der Krise

Zweifellos war die europäische Integration in der Anfangsphase ein im Wesentlichen politisch geprägtes Projekt, dass mittels ökonomischer und politischer Verflechtungen zwischen Deutschland und den einstigen Feinden eine zivilisatorische Katastrophe wie den 2. Weltkrieg zukünftig für immer unmöglich machen sollte.4 Die Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und die Planung einer Europäischen Währungsunion nach dem Werner-Plan von 1969 nutzen zwar ökonomische Projekte zur Vertiefung der Integration, letztlich aber standen politische und positive, supranationale Institutionen und Strukturen schaffende Überlegungen im Vordergrund. So wurde die Währungsunion nach dem Werner-Plan explizit als Motor der weiteren wirtschaftlichen Integration begriffen, die über die Vereinheitlichung der Währungsverhältnisse auch auf eine Supranationalisierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik mit zunehmendem Legitimationsbedarf durch die Beteiligung des Europäischen Parlaments an den politischen Entscheidungsprozessen setzte.

Das Scheitern des Werner-Plans leitete eine Wende in der Entwicklung der europäischen Integration ein: Nunmehr übernahm ökonomische Rationalität – die Schaffung des europäischen Binnenmarktes – die Argumentationslast und mit ihr gewann die so genannte negative Integration die Oberhand: Durch deregulierende, marktschaffende Maßnahmen sollten die Vorteile der Größe des europäischen Binnenmarktes (Economies of Scale and Scope) besser genutzt werden.5 Mit der Einheitlichen Europäischen Akte gewannen die vier Grundfreizügigkeiten einen Stellenwert, der nationale Regulierungen mittels Rechtsetzung durch den Europäischen Gerichtshof zu unterwandern beginnt,6 solange dem keine EU-weite Regulierung entgegengesetzt wird. Dies aber, die so genannte positive Integration, ist angesichts marginaler Rechtsetzungskompetenz durch EU-Kommission und Europäisches Parlament in einem intergouvernementellen Entscheidungsmodus bei mittlerweile 27 involvierten Regierungen schwierig geworden.

Die zunehmenden ökonomischen Verflechtungen in Europa schaffen Externalitäten, die eine Koordination der Politik in fast allen Bereichen erforderlich machen: Je nachdem, ob gemeinsame Ziele verfolgt werden bzw. kognitiv eine europäische Perspektive eingenommen wird oder ob divergente Ziele verfolgt werden bzw. kognitiv die nationale Betrachtung vorherrscht, sind intergouvernementale Koordinierungsverfahren ausreichend oder müssen supranationale Institutionen und Prozesse geschaffen werden. Hieraus ist in der Europäischen Union mittlerweile ein komplexes ökonomisches Governance-System entstanden.

Der europäische Governanceprozess

Ohne hier die einzelnen Prozesse und ihre Entstehungsgeschichte detailliert beschreiben zu können,7 soll doch eine kurze Einschätzung der ideengeschichtlichen Hintergründe und der Effizienz der gewählten Verfahren hinsichtlich ihrer Zielerreichung – eine Koordination nationaler Wirtschaftspolitiken zur Steigerung des Wachstums, der Beschäftigung und der Wettbewerbsfähigkeit, dem Abbau der Einkommensarmut und zur Stärkung der sozialen Inklusion (die Lissaboner Strategie) – abgegeben werden (vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1
Der europäische Governanceprozess im Bereich der Wirtschaftspolitik
Prozess Politikfeld Koordinierung Dominanter Akteur Theoretische Basis Ergebnisse
Grundzüge der Wirtschaftspolitik Wirtschafts- und Finanzpolitik weich Frankreich (nominell), Deutschland (substantiell) Ökonomisten nicht erkennbar
Europäische Beschäftigungsstrategie Arbeitsmarktpolitik weich Frankreich, EU-Kommission neoklassische Angebotstheorie unbefriedigend (vgl. Kok-Report), Diskurs rahmend
Cardiff-Prozess Güter- und Finanzmärkte weich Großbritannien neoklassische Markttheorie Informationsaustausch
Europäischer Makroökonomischer Dialog Geld-, Finanz- und Tarifpolitik weich Deutschland, Österreich Neo- bzw. Postkeynesianismus Informationsaustausch, marginal
Europäischer Sozialdialog Sozialpolitik (Arbeitsschutz-, Gesundheits- und Betriebspolitik) hart mittels Regulierung EU-Kommission Neokorporatismus einige Richtlinien im Bereich Arbeitsschutz, Gleichstellung
Offene Koordinierungsmethode Sozialpolitik (Gesundheit, Rente) weich EU-Kommission   Katalysator, Diskurs rahmend
Europäischer Stabilitäts- und Wachstumspakt Finanzpolitik hart mittels Sanktionierung Deutschland Neoricardianisches Äquivalenztheorem Haushaltsrestriktion

Die Grundzüge der Wirtschaftspolitik spiegeln die Erkenntnis wider, dass in einer Europäischen Währungsunion nicht nur die Geldpolitik vereinheitlicht wird, sondern auch weite Teile der Wirtschafts- und Finanzpolitik abgestimmt und gemeinsamen Zielen untergeordnet werden müssen, wenn es nicht zu Trittbrettfahrerverhalten, Wettbewerbsverzerrungen oder Ansteckungseffekten kommen soll.8 Letztlich aber sind die Grundzüge der Wirtschaftspolitik nur das recht verwässerte Ergebnis eines langen Verhandlungsprozesses vornehmlich zwischen den französischen und deutschen Regierungen: Statt eines starken wirtschaftspolitischen Gegenpols zum geldpolitischen Vereinheitlichungsprozess in der etatistischen, französischen Tradition (Gouvernement Economique) setzte sich die deutsche Vorstellung durch, die allenfalls unverbindliche, sanktionsfreie Richtlinien akzeptiert.

Ähnliches gilt für die Europäische Beschäftigungsstrategie, die zwar eine Verantwortlichkeit für beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitische Ziele und Politiken auf die EU-Ebene hob, aber doch über den Informationsaustausch und gegebenenfalls Reputationseffekte (blaming and shaming) im Rahmen eines umfangreichen Reporting-Verfahrens nicht hinausgeht. Dabei soll allerdings nicht übersehen werden, dass die nationalen Politikdiskurse durch die europäische Rahmung beeinflusst und insbesondere das neoliberale Pensée unique weiter verstärkt und dem T(here)i(s)n(o)a(lternative)-Imperativ in die Hände gespielt wird, da Beschäftigungspolitik hier ausschließlich mikroökonomisch-angebotstheoretisch definiert wird.

Dass Sozialpolitik das Stiefkind der europäischen Integration ist, wurde vielfach beklagt und auch durch die Schaffung des Europäischen Sozialdialogs, die Aufnahme des Sozialprotokolls mit seinen eng begrenzten sozialpolitischen Zuständigkeiten in den Amsterdamer Vertrag und den Austausch über sozialpolitische Fragen im Rahmen der Offenen Koordinierungsmethode nicht wesentlich verändert. Da die EU über keine eigene finanzielle Basis verfügt, die die materielle Ausgestaltung von Sozialpolitik im engeren Sinne übernehmen könnte, muss Sozialregulation – also die Setzung von Mindeststandards oder die Verabschiedung von Richtlinien – als Hauptaufgabe der Sozialpolitik auf EU-Ebene angesehen werden. Mit dem betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sind die Anwendungsgebiete dabei auch noch erheblich begrenzt und machen nicht die klassischen Lebensrisiken aus, die gewöhnlich unter Sozialpolitik subsummiert werden. Diese werden allenfalls indirekt im Rahmen der Offenen Koordinierungsmethode behandelt – allerdings ganz entscheidend unter dem Diktat des Wettbewerbs und der Haushaltskonsolidierung.9

Im Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (ESWP) wurden nicht, wie die Legende besagt, die verschuldungsbezogenen Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrags lediglich in die Existenzphase der EWU hinein verlängert,10 sondern unter massivem Druck der Deutschen Bundesbank und der Bundesregierung eine Verschärfung der finanzpolitischen Restriktion als Vorgabe für die nationalen Haushaltspolitiken beschlossen: Die ökonomisch nachvollziehbare Eichlinie des strukturellen Defizits von 3% des BIP wurde auf die Nullmarke (ausgeglichener Haushalt) verschoben, die vormalige 3%-Marke wurde zur sanktionsfreien Höchstgrenze deklariert. Wenngleich der mehrfache, sanktionslos verbliebene Verstoß zahlreicher EU-Länder gegen den ESWP andeutet, dass ein gewisser Flexibilitätsspielraum gewährt wurde, lässt sich doch eine restriktive Auswirkung des ESWP auf das finanzpolitische Gebahren der Euroländer genauso wenig ernsthaft bestreiten11 wie der allgemeine Konsolidierungserfolg bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise.12 Besonders starke Konsolidierungserfolge hatten dabei Länder wie Irland und Spanien zu verzeichnen, die im Zuge der Eurokrise zu Insolvenzkandidaten wurden.

Es bleiben die beiden wenig bekannten Prozesse von Cardiff und Köln: Der 1998 beschlossene Cardiff Prozess soll zur Vervollständigung des Binnenmarktes beitragen, indem noch bestehende Strukturschwächen auf Güter- und Kapitalmärkten – die sich z.B. in weiterhin bestehenden Preisdifferentialen zeigen, die durch übliche Transaktionskosten nicht erklärt werden können – beseitigt und damit die Marktallokation verbessert wird. Obwohl es hier im Wesentlichen um technische Fragen des Marktzugangs zu gehen scheint, sollte doch die grundsätzliche Bedeutung dieses Governance-Prozesses für die Frage der Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen – privat oder öffentlich – vor dem Hintergrund der Privatisierungsdiskussion nicht unterschätzt werden. Allerdings hat das weiche Koordinierungsverfahren und das insgesamt geringe Erregungspotential dieses Prozesses dazu geführt, dass im Rahmen der nationalen Cardiff-Reporte nur über bereits angestoßene Maßnahmen berichtet wurde.

Der Kölner Prozess, der den Europäischen Makroökonomischen Dialog etablierte, ist in Tabelle 1 deshalb optisch herausgehoben, weil er einerseits auf einem anderen ökonomischen Grundverständnis beruht als alle anderen Bausteine des ökonomischen Governance-Systems und andererseits, wahrscheinlich aus genau diesem Grund, keine politische Unterstützung in irgendeiner erwähnenswerten Weise mehr erfährt. Kurz: Das Möglichkeitsfenster einer anderen, keynesianisch orientierten Makrosteuerung, das sich 1998 mit der neugewählten rot-grünen Bundesregierung in ihrer anfänglichen Orientierungsphase und der zeitweiligen Existenz einer Mehrheit sozialdemokratisch geführter Regierungen in der EU auftat, wurde zwar energisch genutzt, doch blieb ein ernsthafter Praxistest des Europäischen Makroökonomischen Dialogs bis heute aus, nachdem sich das Möglichkeitenfenster mit dem Rücktritt des damaligen deutschen Finanzministers Oskar Lafontaine und dem Einschwenken der Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder auf einen Kurs der linken Angebotspolitik schnell wieder schloss.

Gesamtbewertung

Der Versuch einer Gesamtbewertung des ökonomischen Governance-Prozesses in der EU vor der Krise kann auf zwei Kriterien beruhen: Einerseits kann die Angemessenheit, andererseits die Zielerreichung beurteilt werden. Fängt man mit letzterem an, böten sich allgemein das Ziel der Verhaltensbeeinflussung zum Zweck der Koordinierung der Politikbereiche und speziell die teilweise quantitativen Ziele der Lissabon-Strategie an. Hier lässt sich wohl feststellen, dass die Verhaltensbeeinflussung von der Stärke des Governance-Prozesses abhängt:13 Lediglich der Europäische Sozialdialog – allerdings in eher randständigen, wenn auch nicht unwichtigen Bereichen der Sozialpolitik14 – und der ESWP als harte Governance-Prozesse zeigen deutliche Ergebnisse.15 Was die quantitativen Ziele der Lissabon-Strategie angeht – insbesondere in Bezug auf die Inklusion (Anhebung der Beschäftigungsquoten) und Armutsvermeidung – muss wohl von klarer Zielverfehlung gesprochen werden (vgl. Tabelle 2; soziale Indikatoren). Und der Vergleich mit den USA und Großbritannien (als größtem Nicht-EWU-Teilnehmerland der EU) macht deutlich, dass auch das realwirtschaftliche Ziel, die weltweit dynamischste Region werden zu wollen, verfehlt wurde (vgl. Tabelle 2; ökonomische Indikatoren): Die BIP-Wachstumsrate pro Beschäftigtem liegt gerade in den Dekaden der zunehmenden Integration unter-, die Arbeitslosigkeit hingegen überdurchschnittlich hoch. Die Angemessenheit des Governance-Systems schließlich zeigt sich darin, ob jene Politikbereiche, die starke EU-weite Interdependenzen und geringe EU-weite Problemwahrnehmung haben, entsprechend hart oder gar supranational reguliert sind (vgl. Abbildung 1).

Tabelle 2
Ausgewählte Performanzindikatoren der EWU-Länder im Vergleich
  E(W)U   USA   Großbritannien  
Jahre 1980er 1990er 2000er   1980er 1990er 2000er   1980er 1990er 2000er  
Ökonomische Indikatoren
Veränderung BIP/Beschäftigte in % 1,7 1,8 0,8   1,4 1,8 1,8   2,0 2,3 0,9  
Arbeitslosenquote in % 8,5 9,6 8,6   7,1 5,6 5,6   9,6 7,9 6,1  
BIP-Deflator 6,2 2,5 1,9   4,2 2,1 2,5   6,5 2,9 2,2  
Direkte Steuern (in % des BIP)1 10,8 12,3 9,9   12,8 15,1 10,3   16,7 16,4 15,8  
Jahre 1980er- 1990er 1990er- 2000er 1980er - 1990er 1990er- 2000er 1980er- 1990er 1990er- 2000er
Soziale Indikatoren
Einkommensungleichheit2 0,5 0,6 0,5 0,9 0,8 -0,5
Armut3 2,2 2,5 -1,2 0,4 3,6 -1,5

Anmerkungen:
1
Aufgrund fehlender Daten für die EWU-Länder wurde Deutschland in den Jahren 1990, 2000, 2010 gewählt.
2
Veränderung der Einkommensdispersion gemessen durch das Verhältnis vom 4. Einkommensquintil zum 1. Einkommensquintil (S80/S20).
3
Veränderung der Armutsrate (Anteil der Menschen mit weinger als 50% des Medianeinkommens) in Prozentpunkten – aufgrund für die E(W)U nicht vorliegenden Daten wurde Deutschland gewählt.

Quellen: Europäische Wirtschaft: Statistischer Anhang, Herbst 2010; OECD: Growing Unequal?, Paris 2008.

Abbildung 1
Ökonomische Governance – Soll- und Ist-Zustand
Abb1.ai

Anmerkungen:
1
Keine Interdependenz + gemeinsame Ziele.
2 Interdependenz + gemeinsame Ziele.
3 Interdependenz + keine gemeinsamen Ziele.
4 Zur rudimentären (Selbst-)Koordinierung der Tarifpolitik, vgl. Th. Schulten: Solidarische Lohnpolitik in Europa. Zur Politischen Ökonomie der Gewerkschaften, Hamburg 2004.

Hier ist festzuhalten, dass weite Politikbereiche – Steuer-, Sozial- und Tarifpolitik, aber auch die Koordination der Politikbereiche im Europäischen Makroökonomischen Dialog – entweder gar nicht oder aber inadäquat reguliert sind. Als Folge ist ein unausgewogener makroökonomischer Policy-mix16 und absolutes bzw. relatives Dumping in der Unternehmenssteuer- und Sozialpolitik zu konstatieren.17 Lediglich die Europäische Beschäftigungsstrategie in der weichen Offenen Koordinierungsmethode kann als angemessen bezeichnet werden, weil in Politikbereichen ohne große Interdependenzen – die deshalb zu Recht dem Subsidiaritätsprinzip unterliegen – Informationsaustausch (Blick über Nachbars Gartenzaun) ausreicht.

Es bleibt letztlich bei der Beurteilung, dass die marktschaffende negative Integration deutlich weiter vorangekommen ist als die marktkorrigierende positive Integration – ein Umstand, der wohl nicht ganz zu Unrecht gelegentlich als neoliberale Architektur der E(W)U gebrandmarkt wird, jedenfalls dem sich bis zur Weltfinanzkrise ganz marktunkritisch gerierenden ökonomischen Mainstream der Neoklassik mit ihren Politikeffektivitäts-, Deregulierungs- und Privatisierungs- und Kommodifizierungspostulaten entspricht.18

Die Krise der E(W)U

Die Weltfinanzkrise der Jahre 2008/2009 hat einerseits die Instabilität des modernen Finanzkapitalismus aufgezeigt, andererseits die Grenzen jener ökonomischen Betrachtung deutlich gemacht, die durch ihre allokative Marktfixierung nicht nur derartige Instabilitäten für unmöglich gehalten hat, sondern durch entsprechende Politikberatung in allen maßgeblichen Organisationen (IWF, OECD, EU-Kommission, nationale Expertengremien wie der Sachverständigenrat, uvm.) zu einer Deregulierungspolitik beigetragen hat, die die Finanzkrise wahrscheinlich erst ermöglichte, sicher aber verstärkte.

Die Eurokrise ist wiederum einerseits direkte Folge der Weltfinanzkrise, andererseits hat sie tiefergehende Wurzeln. In vielen EU-Ländern konnten die Finanz- und Gütermärkte nur durch beherztes Eingreifen staatlicher Akteure – der Regierungen mit ihren finanz- und sozialpolitischen Instrumentarien und der Europäischen Zentralbank mit der Bereitschaft zur Übernahme von Gläubigerpositionen im Falle drohender Illiquidität von privaten Finanzinstitutionen ebenso wie öffentlicher Haushalte – stabilisiert werden. Damit konnten zwar dramatischere Konsequenzen für die Güter- und vor allem für die Arbeitsmärkte verhindert werden, natürlich aber nicht ein dennoch tiefer konjunktureller Einbruch19 und ein scharfer Anstieg der öffentlichen Verschuldung. Vor dem Hintergrund der Verunsicherung der Finanzmarktteilnehmer und der durch entsprechende Einschätzungen der Rating-Agenturen eintretenden Diskreditierung einzelner EWU-Länder entstanden Zinsdisparitäten in der EWU, die kaum noch durch das tatsächliche Insolvenzrisiko ganzer Länder, sondern durch die Spekulation auf ein mögliches Auseinanderbrechen der Eurozone (mit entsprechendem Abwertungsrisiko der betroffenen Länder) erklärt werden konnten. Ein kollektiver Beistandsmechanismus, der keineswegs die allgemeine No-bailout-Klausel des EU-Vertrags unterläuft, lässt sich nun nicht nur mit den Externalitäten im Falle eines Auseinanderfallens der Eurozone für alle EWU-Mitglieder und den Rückwirkungen eines möglichen Staatsbankrotts auf die Gläubiger in anderen EWU-Ländern begründen, sondern auch mit der Tatsache, dass die Spekulationen gegen einzelne Länder erst durch deren Mitgliedschaft in der EWU ermöglicht wird und somit quasi als Gemeinschaftskosten zu verstehen sind. Dem häufig vorgebrachten Einwand, ein solcher Beistandsmechanismus biete Anreize zur weiteren unangemessenen Verschuldung, lässt sich leicht mit der Konditionalität solcher Beistandsmechanismen und der Möglichkeit zur Durchsetzung von Strafzinsen begegnen.

Die tieferen Wurzeln der Eurokrisen liegen aber nicht in der Haushaltsentwicklung einzelner Länder, sondern in den anhaltenden regionalen Ungleichgewichten, die sich in zunehmenden Leistungsbilanzdefiziten und entsprechenden -überschüssen zeigen. Solange solche Leistungsbilanzdefizite Ausdruck einer überdurchschnittlichen Wachstumsdynamik im Rahmen von gewünschten Konvergenzprozessen sind und durch Verschuldung des privaten Unternehmenssektors bei erwarteter langfristiger Profitabilität finanziert werden, stellen sie kein Problem da und werden mit erfolgreichem Konvergenzprozess auslaufen. Sind sie aber das Ergebnis von preislichen Wettbewerbsproblemen, wie sie sich ergeben, wenn nominale Lohnstückkosten systematisch auseinanderlaufen und die Finanzierung durch spekulative Anlage in Immobilien- oder anderen Assetmärkten oder die Verschuldungsbereitschaft der öffentlichen Haushalte20 erfolgt, entstehen Spannungen, die über große Zinsdifferentiale zur Infragestellung der Währungsunion oder zu alternativen Korrekturinstrumenten – kurzfristig eben die oben erwähnten Beistandsmechanismen, langfristig regressive oder progressive institutionelle Reformen – führen. Es spricht vieles dafür,21 dass es diese sich kumulativ entwickelnden Wettbewerbsunterschiede in der EWU sind, die der gegenwärtigen Eurokrise die realwirtschaftliche Basis liefern und adressiert werden müssen.

Krisenfolgen des ökonomischen Governance-Systems

Zentrales Problem der E(W)U ist, dass die selbstgesteckten Ziele in der Vergangenheit nicht erreicht werden konnten: Deshalb ist nicht die neoliberale Architektur im zurückliegenden Zeitalter des Neoliberalismus per se zu kritisieren, sondern Zielverfehlungen und die fehlende Kongruenz von Marktschaffung und Marktkorrektur auf europäischer Ebene. Wenn aber ein innerer Zusammenhang zwischen der neoliberalen Architektur und den unbefriedigenden ökonomischen und sozialen Ergebnissen besteht – was natürlich von den Kritikern immer behauptet wurde und zumindest nach den Geschehnissen der Jahre 2008-2009 wahrscheinlicher und überzeugender geworden ist –, dann sollte die Krise als Chance begriffen werden.22

Was hier eingefordert wird, ist kein simpler ideologischer Schwenk, sondern eine Fähigkeit, die Menschen immer auszeichnete: die Befähigung zum sozialen Lernen. Nach P. A. Hall23 geht es allerdings auch nicht lediglich um instrumentelle Veränderungen, sondern einen paradigmatischen Wandel, wie er erwartet werden kann, wenn das herrschende Paradigma als Teil des Problems diagnostiziert wurde.24 In diesem Sinne ist zu prüfen, ob die im Zuge der Weltfinanz- und der dadurch ausgelösten Eurokrise ergriffenen Maßnahmen soziales Lernen widerspiegeln oder nicht. In letzterem Falle sind sie als regressiv, in erstem Falle als progressiv zu bewerten.

Nach den bereits erwähnten Bankenrettungs- und Konjunkturprogrammen der Jahre 2008-2009 sind im Folgenden die Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und die Ergänzungen zum EU-Governance-System zu betrachten:

  • Die Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts,
  • die Einführung eines Europäischen Stabilitätsmechanismus,
  • die Einführung des Euro-Plus-Pakts.

Haushaltskonsolidierung zwischen fiskalischer Nachhaltigkeit und überkommenen Mythen

Unbestreitbar sind die strukturellen Haushaltsdefizite der Jahre 2009 und 2010 nicht nachhaltig und bedürfen deshalb der Konsolidierung. Konsolidierung aber impliziert keineswegs ausschließlich die Kürzung von Ausgaben und meint auch nicht zwangsläufig die Verringerung der Defizite auf Null (oder gar einen Überschuss), sondern muss sich am Abbau der Schuldenstandsquote messen lassen.

Der finanzpolitische Old View, basierend auf dem Wirtschaftsparadigma der Krisenvorbereitung, sieht nicht nur eine Überlegenheit der – vornehmlich konsumtiven (sozialen) Ausgabenkürzungen gegenüber Einnahmesteigerungen, sondern auch eine simple Korrelation von Defizit- und Schuldenstandsreduktion vor. Eine (post-)keynesianische Sicht hingegen, die makroökonomische Zusammenhänge berücksichtigt, setzt einerseits stärker auf Einnahmeeffekte progressiver Besteuerung, andererseits auf Konsolidierungseffekte von investiven Staatsausgaben – und dies umso stärker, je weniger ein Ersatz ausfallender Binnennachfrage durch Auslandsnachfrage möglich oder durchsetzbar ist.

Werden unter diesen Vorgaben die Konsolidierungsprogramme der EU-Mitgliedsländer betrachtet, so ist von einem Paradigmenwechsel nichts zu sehen:25 Ganz im Stile des Old View übernehmen sozial-regressive Ausgabenkürzungen die Hauptlast, Einnahmeerhöhungen haben ebenfalls durchweg regressiven Charakter und werden gelegentlich auch noch durch Einnahmesenkungen an anderer Stelle (Unternehmensbesteuerung) konterkariert (vgl. Tabelle 3). Die Größenordnungen der vorgesehenen Sparprogramme, die unkoordiniert nebeneinander verabschiedet werden und deshalb EU-weit die aggregierte Nachfrage unter Druck bringen, wird deshalb bereits als absurd bezeichnet.26

Tabelle 3
Synopse ausgewählter nationaler Sparprogramme
Sparprogramme Deutschland1 2010-2014 Estland 2010-2013 Griechenland 2010-2013 Großbritannien 2010-2012/13 Lettland 2009-2010 Rumänien 2009-2010 Island 2009-2013
in % des BIP 3,3 8,5 10,5 7,2 11,7 13,9 12
in % des BIP/Jahr 0,8 2-3 3 1,8-2 5,7 7 2,4
in Mrd. in nationaler Währung 80 Euro 85 Euro 24 Euro k.D. 1,5 LVL 74,6 Lei 179 ISK
1. Einnahme­erhöhungen in % des Sparprogramms 33 41,2 42,9 31 45 15 36
Unternehmenssteuern 7,5 -1,6 8,5 -8,5 -2,4   1,4
Einkommensteuer       -11,56 9,6   32,3
Mehrwertsteuer   11,4 23,4 44,9 27,3 10 4,6
2. Ausgaben­kürzungen in % des Sparprogramms 52 58,8 57,1 69 55 85 64
Sozialstaatliche 34 5,4 k.D. 21,9 14,8 k. D. 15,6

1 Nicht berechnet sind jene Einnahmen-/Ausgabensenkungen, die über Effizienzsteigerungen oder über einen Rückgang der Zinsausgaben erzielt werden sollen – dies erklärt, weshalb sich Einnahmeerhöhungen und Ausgabenkürzungen nicht zu 100 addieren. k.D. = keine berechenbaren Daten verfügbar; für weitere Anmerkungen vgl. A. Heise, H. Lierse; a.a.O.

Quelle: Die Daten sind eigene Berechnungen und basieren auf verschiedenen Quellen des IWF, der EU und auf nationalen Budgetplänen.

Die neuen Governance-Strukturen

In völliger Verkehrung der Kausalzusammenhänge wird die Schwäche des bisherigen Stabilitäts- und Wachstumspakts – statt eines Sanktionsautomatismus bedurfte es der politischen Mehrheitsentscheidung, was bislang die Sanktionierung von Verstößen verhinderte – zur wesentlichen Ursache der Eurokrise stilisiert und folglich eine Stärkung des ESWP beschlossen. Danach soll der präventive Arm des ESWP nicht nur die Haushaltsdefizite, sondern auch die Schuldenstandsquoten in den Blick nehmen. Solange diese Schuldenstandsquote die arbiträr gesetzte Größenordnung von 60% des BIP deutlich überschreitet, müsse der fiskalpolitische Austeritätskurs fortgesetzt werden, selbst wenn das Haushaltsdefizit eines EWU-Landes beinahe Null erreicht habe. Um diese finanzpolitische Orientierung zu erzwingen, soll im korrektiven Arm des ESWP die Sanktionierung von Fehlverhalten dadurch quasi automatisiert werden, dass die Sanktion nicht länger beschlossen, sondern in Umkehrung der Begründungspflicht die Nicht-Sanktion nur durch eine qualifizierte Mehrheit abgewendet werden kann. Mit diesen demokratietheoretisch sicher bedenklichen Verfahrensneuerungen wären zwar weder die Griechenland-Krise noch die Irland-Krise zu verhindern gewesen, gleichwohl wird die bislang bestehende Flexibilität eingeschränkt. Ein ökonomisch dummer Pakt27 wird damit weiter verschlimmert, der Druck auf die Ausgabenseite der EWU-Staaten aufrechterhalten und damit die Grundlage für eine stagnative Marktkonstellation in der EWU geschaffen.

Der neu eingerichtete Euro-Plus-Pakt adressiert die Ungleichgewichte in der EWU.28 Danach soll die EU-Kommission anhand eines noch genauer zu bestimmenden Indikatorenkatalogs die Entwicklung in der EU beobachten und im Rahmen des jährlichen Wachstumsreports Empfehlungen an die EWU-Länder abgeben – wobei klar ist, dass die Überschussländer als Benchmarks betrachtet und somit zu Vorbildern, nicht etwa zu symmetrischen Problemländern werden. Die EWU-Länder sollen dann verbindliche Selbstverpflichtungen eingehen, womit sie auf die Ungleichgewichte zu reagieren trachten – diese Selbstverpflichtungen wiederum werden von der EU-Kommission im Folgejahr kommentiert und überwacht. Wenngleich der Euro-Plus-Pakt wohl keine Sanktionierungen enthalten wird, sind doch einige Anmerkungen zu machen: Der Pakt geht von einer asymmetrischen Problemwahrnehmung aus und verteilt damit die Anpassungslast einseitig zulasten der Defizitländer; er verstößt gegen die Tinbergen-Regel, wonach für jede (zusätzliche) Zielvorgabe ein (zusätzliches) Instrument bereitgestellt werden muss, mit dem das Ziel erreicht werden kann. Das Instrument, das Regierungen gewöhnlich zur Bekämpfung von Leistungsbilanzungleichgewichten zur Verfügung haben – der Wechselkurs – steht ihnen in der EWU gerade nicht zur Verfügung. Also müsste ein zusätzliches Instrument bereitgestellt werden – die zumindest diskutierten variablen Löhne und öffentliche Budgets29 sind dafür untauglich: Lohnpolitik entzieht sich zumindest in jenen Ländern, die Tarifautonomie gewähren, der Einflussnahme durch die Politik und sollte auch normativ marktlich, nicht politisch determiniert bleiben. Und die Haushaltspolitik ist mittels ESWP bereits dem Ziel der Haushaltskonsolidierung verpflichtet. Letztlich wird der Euro-Plus-Pakt lediglich den Druck auf Ausgabenkürzungen und Strukturreformen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik hochhalten, der durch die Naming-and-Shaming-Signale der Überwachungsberichte eine Sanktionierung durch die Finanzmärkte wahrscheinlich werden lässt.

Der Europäische Stabilisierungsmechanismus perpetuiert den Euro-Rettungsschirm und stockt ihn auf ein Gesamtvolumen von 950 Mrd. Euro (inkl. der IWF-Mittel) auf. Diese Mittel können EWU-Ländern mit akuten Liquiditätsproblemen unter den Prinzipien der Konditionalität, Einstimmigkeit und Ultima Ratio zur Verfügung gestellt werden. Unter Aufrechterhaltung der allgemeinen No-bailout-Klausel der Europäischen Verträge würden damit Gemeinschaftskosten – spekulative Überhöhungen des unsicherheitsbedingten Zinsspreads und Ansteckungskosten im weitesten Sinne – vergemeinschaftet werden können. Insgesamt sollen damit der Spekulation um das Fortbestehen der EWU begegnet und Staatsbankrotte in der EWU vermieden werden. Der häufig ins Feld geführte Anreizeffekt, die Nachhaltigkeit der eigenen Finanzpolitik im Wissen um die Vergemeinschaftung der Kosten zu vernachlässigen, kann durch Strafzinsen und die Verhängung von Auflagen (Konditionalität) minimiert werden. Diese Konditionalität, die dann unerlässlich ist, wenn tatsächlich fehlerhafte Wirtschaftspolitik und nicht externe Schocks zur Notwendigkeit der Inanspruchnahme des Europäischen Stabilisierungsmechanismus führen, kann aber natürlich auch problematisch werden, wenn dadurch wirtschaftspolitische Maßnahmen erzwungen werden, die weder ökonomisch funktional noch politisch tragfähig sind. Es gibt keinerlei Anzeichen, dass die im Rahmen des ESWP und des Euro-Plus-Paktes kritisierte Ausrichtung der Wirtschaftspolitik am Krisenvorbereitungsparadigma nicht auch die Grundlage entsprechender Konditionalität im Rahmen des Europäische Stabilisierungsmechanismus bilden wird – die innere Konsistenz des Governance-Systems erzwingt dies geradezu, wie es auch das neoliberale Interessengerüst erwarten lassen: ESWP und Euro-Plus-Pakt geben einer Stagnation Vorschub, die nicht nur die Sozial- und Tarifsysteme EWU-weit, vor allem aber in den Defizitländern unter Druck bringen bzw. halten, sondern gleichzeitig das Konsolidierungsziel gefährden und dann, wenn die Finanzmärkte mobilisiert sind, mithilfe des Europäischen Stabilisierungsmechanismus jene Maßnahmen durchsetzen, die die sozialen Demokratien der Nationalstaaten noch verhinderten.

Ein Fazit

“..., we can define social learning as a deliberate attempt to adjust the goals and techniques of policies in response to past experiences and new information. Learning is indicated when policy changes as a result of such a process.”30

Wenn die Zielverfehlungen der europäischen Wirtschaftspolitik als Erfahrungen und die Erschütterungen der Mainstream-Ökonomik als neue Informationen in diesem Sinne interpretiert werden können,31 dann ließe sich ein Prozess des sozialen Lernens – als progressive Verhaltensweise – nur ausmachen, wenn ein paradigmatischer Politikwechsel im erweiterten EU-Governance-System institutionalisiert wäre.32 Das Gegenteil ist der Fall: Hier werden die Empfehlungen des Old View fortgeschrieben und verschärft – eine regressive Verhaltensweise, die gleichermaßen purer Interessenpolitik oder auch nur großer Unsicherheit und Ratlosigkeit geschuldet sein kann.

Als Nachweis, dass Rat- jedenfalls keine Alternativlosigkeit meinen muss, sollen hier einige Änderungsvorschläge erörtert werden, die im Sinne des sozialen Lernens als progressiv verstanden werden können. Hintergrund ist ein Ökonomieverständnis, dass die Interventionsnotwendigkeit in grundsätzlich instabile Märkte ebenso betont wie das Zugeständnis, dass die Spielräume der Umsetzung der Wirtschaftspolitik in komplexen Umwelten begrenzt sind.33 Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass politische Akteure Eigeninteressen folgen mögen, wenn ihnen nicht durch Regelsetzungen die Hände gebunden werden.

Insgesamt müssen natürlich auch die Alternativen zunächst an den identifizierten Problemen der EU-Integration ansetzen:

  1. Das soziale Defizit ist nicht nur als Legitimationsreserve eines emotional kaum noch positiv besetzten Politikprojektes anzugehen, sondern als funktionales Äquivalent zur vertieften ökonomischen Integration. Da allerdings die Sozialsysteme wohl dauerhaft nationale Eigenarten aufweisen werden und sollen und die ökonomische Leistungskraft auf absehbare Zeit innerhalb der E(W)U recht divergent bleiben wird, kann eine ernstzunehmende soziale Integration keine Harmonisierung der Sozialpolitik im Rahmen eines unitarischen europäischen Sozialmodells bedeuten. Der Weg über differenzierte soziale Mindeststandards erscheint angesichts der Chance der (Krisen-)Stunde zu passiv. Im Rahmen des Korridormodells,34 das mehrere Korridore festlegt, in denen die soziale Ausstattung (als Anteil der Sozialausgaben am BIP) an die wirtschaftliche Leistungskraft (als Pro-Kopf-Volkseinkommen) gekoppelt wird, kann relatives Sozialdumping beseitigt und gleichzeitig nationalen Präferenzen Rechnung getragen werden. Das Korridormodell stellt nur jenen Entwicklungszusammenhang wieder her, der als Referenzpfad der verschiedenen Typen des europäischen Sozialstaates bis in die 1980er Jahre – also bevor Globalisierungs- und EU-Integrationszwänge Wirkungen entfalteten35 – gegolten hatte.
  2. Kurzfristig muss das EU-Governancesystem so entwickelt werden, dass eine wachstumsförderliche Makrosteuerung ermöglicht wird, ohne die demokratische Legitimierung der Akteure zu unterlaufen und die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu gefährden. Dazu müsste der Europäische Makroökonomische Dialog endlich in einer Weise institutionalisiert werden, dass kooperative Strategien der involvierten Akteure – der EZB, der nationalen Regierungen und der nationalen Tarifparteien – möglich und wahrscheinlich werden.36 Voraussetzung dafür sind verpflichtungsfähige Organisationen, was insbesondere eine Abkehr vom Dezentralisierungsprozess der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände impliziert – die Teilnahme am Europäischen Makrodialog könnte ebenso die gesellschaftliche Bedeutung der Tarifparteien (und insbesondere der Gewerkschaften) stärken, wie eine funktionale, die regionalen Ungleichgewichte in Rechnung stellende Lohnpolitik einen Beitrag der Geld- und Finanzpolitik jenseits des Old View erwarten kann.
  3. Schließlich muss eine stärkere Koordinierung bzw. sogar Harmonisierung der (direkten) Steuersysteme in der E(W)U verfolgt werden, um Allokationsmängel in einem funktionierenden Binnenmarkt ebenso zu verhindern wie ein suboptimales Angebot öffentlicher Güter aufgrund von zu Dumpingstrategien verführender Wettbewerbsexternalitäten. Der Wettbewerb um die Bereitstellung öffentlicher Güter muss letztlich auf politischer, nicht auf ökonomischer Ebene ausgetragen werden.
  4. Dies impliziert schließlich und in langer Frist die weitere Zentralisierung wesentlicher Politikbereiche auf EU-Ebene (vgl. Abbildung 1), die Etablierung einer echten europäischen (Wirtschafts-)Regierung mit eigenständigem Besteuerungspotential und echter demokratischer Kontrolle37 – also die Überwindung des demokratischen Defizits. Nicht nur historische Kenntnisse, auch theoretische Überlegungen lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass ökonomisch und monetär hochintegrierte Gemeinwesen dauerhaft ohne politische Integration Bestand haben können.38
    • 1 EU Commission; Economic Governance: The EU gets tough, in: European Economy News, Issue 19, Brüssel 2010.
    • 2 Vgl. S. Dullien, H. Herr: Die EU-Finanzmarktreform. Stand und Perspektiven im Frühjahr 2010, Studie für die Abteilung International Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010.
    • 3 Vgl. E. Klatzer, C. Schlager: Europäische Wirtschaftsregierung – eine stille neoliberale Revolution; in: Kurswechsel, H. 1, 2011, S. 61-81.
    • 4 Vgl. A.S. Milward: Historical Teleologies, in: M. Farrell, S. Fella, M. Newman (Hrsg.): European Integration in the 21st Century, London 2002, S. 15-28.
    • 5 Vgl. P. Cecchini: The European Challenge – 1992: The Benefits of a Single Market, Aldershot 1988.
    • 6 Vgl. Chr. Joerges, F. Rödl: Informal Politics, Formalised Law and the ‘Social Deficit’ of European Integration: Reflections after the Judgements of the ECJ in Viking and Laval, in: European Law Journal, 15. Jg. (2009), Nr. 1, S. 1-19.
    • 7 Vgl. A. Heise: European Economic Governance – Wirtschaftspolitik jenseits der Nationalstaaten, in: Wirtschaftsdienst, 85. Jg. (2005), H. 4, S. 230-237.
    • 8 Vgl. u.a. S. Deroose, D. Hodson, J. Kuhlmann: The Broad Economic Policy Guidelines: Before and After the Re-Launch of the Lisbon Strategy; in: Journal of Common Market Studies, 46. Jg. (2008), Nr. 4, S. 827-848.
    • 9 Vgl. B. Hacker: Das liberale Europäische Sozialmodell, Baden-Baden 2010, S. 355 ff.
    • 10 Vgl. u.a. W. Kohler: On the Theoretical Underpinning of the Stability and Growth Pact, in: F. Breuss (Hrsg.): The Stability and Growth Pact, Wien 2007, S. 99-144.
    • 11 Vgl. A. Heise, Ö. Görmez Heise: Europäische Wirtschaftsregierung: notwendige Ergänzung der EWU oder unrealistische Illusion?, in: Wirtschaft und Gesellschaft, H. 3, 2010, S. 325-347.
    • 12 Vgl. Europäische Wirtschaft: Statistischer Anhang, Frühjahr 2010.
    • 13 Vgl. B. Hacker, a.a.O., S. 354.
    • 14 Vgl. S. Weber: Sektorale Sozialdialoge als Europäisches Mehrebenensystem: Regulierung durch private Akteure, in: K. Busch (Hrsg.): Wirtschaftliche und soziale Integration in der Europäischen Union. Handlungsspielräume für korporative Akteure, Baden-Baden 2010, S. 153-176.
    • 15 Vgl. u.a. B. Hacker: Katalysator des neoliberalen Mainstreams: Der Einfluss der OMK auf die Rentenreformen in der EU, in: K. Busch (Hrsg.), a.a.O., S. 73-99; S. Deroose u.a., a.a.O.; A. Heise, Ö. Görmez Heise, a.a.O.
    • 16 A. Heise: Die Europäische Beschäftigungsstrategie aus makroökonomischer Sicht, in: H. König, J. Schmidt, M. Sicking (Hrsg.): Die Zukunft der Arbeit in Europa: Chancen und Risiken neuer Beschäftigungsverhältnisse, Bielefeld 2009, S. 33-48.
    • 17 Vgl. P. Genschel, A. Kemmerling, E. Seils: Accelerating Downhill: How the EU Shapes Corporate Tax Competition in the Single Market, in: Journal of Common Market Studies, 49. Jg. (2011), Nr. 3, S. 585-606; A. Heise, H. Lierse: Haushaltskonsolidierung und das Europäische Sozialmodell, Studie für die Abteilung Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2011.
    • 18 Was B. Amable für die Integrated Guidelines, die die Grundzüge der Wirtschaftspolitik und die Europäische Beschäftigungsstrategie zusammenführen, zeigt, gilt aber sicher auch für den Cardiff Prozess, den ESWP und die Offene Koordinierungsmethode (Sozialpolitik); vgl. B. Amable; Structural reforms in Europe and the (in)coherence of institutions, in: Oxford Review of Economic Policy, Vol. 25, Nr. 1, 2009, S. 17-39.
    • 19 Vgl. EU Commission: Employment in Europe 2010, Luxemburg 2010.
    • 20 So verweist De Grauwe auf eine Korrelation von Leistungsbilanzdefiziten und (Differenzen in) Haushaltsdefiziten in der EU; vgl. P. de Grauwe: The Greek Crisis and the Future of the Eurozone; in: Intereconomics, 45. Jg. (2010), Nr. 2, S. 89-93.
    • 21 Vgl. z.B. T. Pusch: Leistungsbilanzungleichgewichte in der EU – Eine Herausforerung für die europäische Fiskalpolitik?, in: Wirtschaft im Wandel, Nr. 5/2010, S. 238-245; H. Zamenek, A. Belke, G. Schnabl: Current Account Imbalances and Structural Adjustment in the Euro Area: How to rebalance Competitiveness, IZA Policy Paper, Nr. 7, 2009.
    • 22 Vgl. B. Amable: A change of model requires a new balance of power, in: A. Watt, A. Botsch (Hrsg.): After the crisis: Towards a sustainable growth model, Brüssel 2010, S. 151-153.
    • 23 Vgl. P. A. Hall: Policy Paradigms, Social Learning and the State: The Case of Economic Policymaking in Britain, in: Comparative Politics, 25. Jg. (1993), Nr. 3, S. 275-296.
    • 24 Vgl. J. Evans, D. Coats: Exiting from the Crisis: Towards a Model for More Equitable and Sustainable Growth, in: International Policy and Society, Nr. 2, 2011, S. 22-31.
    • 25 Vgl. A. Heise, H. Lierse, a.a.O.; J. Evans, D. Coats, a.a.O.
    • 26 Vgl. P. Arestis, T. Pelagidis: Absurd Austerity Policies in Europe, in: Challenge, H. 6, 2010, S. 54-61.
    • 27 Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Prodi hatte den ESWP aufgrund seiner fragwürdigen „one size fits all“-Konzeption einst als dumm bezeichnet, vgl. A. Heise: Der dumme Pakt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/2002, S. 1420-1422.
    • 28 Europäischer Rat: Der Euro-Plus-Pakt. Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz. Schlussfolgerungen des Europäischen Rats v. 24./25. März 2011, CO EUR 6 CONCL 3, Brüssel 2011.
    • 29 Der Europäische Rat verweist auf Lohnstückkostenentwicklungen, aber auch auf die strukturelle Haushaltsentwicklung, die insbesondere durch weitere Sozialstaatsreformen verbessert werden soll. Explizit wird auch die deutsche Schuldenbremse als Vorbild für konstitutionelle Reformen erwähnt; vgl. Europäischer Rat, a.a.O.
    • 30 P. A. Hall, a.a.O., S. 278.
    • 31 Vgl. L. Taylor: Maynard’s Revenge. The Collapse of Free Market Macroeconomics, Cambridge MA 2011.
    • 32 Die Reaktion der Atompolitik auf die Reaktorkatastrophe in Japan kann als – wenn auch überstürzter – Paradigmenwechsel verstanden werden, wie er hier auch für die Wirtschaftspolitik eingefordert wird.
    • 33 Vgl. A. Heise: Einführung in die Wirtschaftspolitik, Münster 2010, S. 348 ff.
    • 34 Vgl. K. Busch: Das Korridor-Model – ein Konzept zur Weiterentwicklung der EU-Sozialpolitik, in: J. Schmid, R. Niketta (Hrsg.); Wohlfahrtsstaat. Krise und Reform im Vergleich, Marburg 1998, S. 273-295; A. Heise: Grundlagen der Europäischen Währungsintegration, Wiesbaden 1997.
    • 35 Vgl. A. Heise, H. Lierse, a.a.O.
    • 36 Vgl. W. Koll, V. Hallwirth: Strengthening the Macroeconomic Dialogue to tackle economic imbalances within Europe, in: A. Watt, A. Botsch (Hrsg.): After the crisis: Towards a sustainable growth model, Brüssel 2010, S. 139-143.
    • 37 Vgl. S. Collignon: Demokratische Anforderungen an eine europäische Wirtschaftsregierung, Studie für die Abteilung Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2011.
    • 38 Vgl. A. Heise, Ö. Heise Görmez; a.a.O.

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DOI: 10.1007/s10273-011-1275-x