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Am 6. September 2012 hat der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) den zwar erwarteten, gleichwohl bemerkenswerten Beschluss gefasst, künftig unbegrenzt Anleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone zu erwerben. Diese Entscheidung hat Wellen der Empörung und der Begeisterung ausgelöst, und auch das Bundesverfassungsgericht hat dazu Stellung genommen. Der folgende Beitrag analysiert den – wenig bekannten – Hintergrund des neuen EZB-Kurses, erörtert die Frage, ob er rechtmäßig ist, und stellt die Entscheidung in einen breiteren Zusammenhang.

Der Beschluss des EZB-Rates vom 6. September 2012, künftig unbegrenzt Anleihen von Mitgliedstaaten der Eurozone zu erwerben,1 hat hohe Wellen geschlagen und uns mit den Outright Monetary Transactions (OMT) ein weiteres Akronym beschert, das man sich merken muss.2 Die wichtigsten Eckpunkte dieses neuen Programms sind folgende:

  1. Die EZB erwirbt im Rahmen der OMT Anleihen solcher Staaten, die sich unter einen der Rettungsschirme begeben haben, namentlich die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) oder den europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM).
  2. Die EZB verzichtet auf eine Obergrenze, d.h., die Anleihekäufe sind prinzipiell unlimitiert.
  3. Die Anleihekäufe sollen voll sterilisiert werden, damit die Geldbasis unverändert bleibt.
  4. Die EZB will rechtlich bindend klarstellen, dass die erworbenen Staatsanleihen bei Schuldenschnitten keinen Vorrang genießen.

Mit Beginn der OMT wird das Securities Market Programme (SMP) beendet, in dessen Rahmen die EZB schon bisher Anleihen europäischer Staaten wie Griechenland, Portugal, Irland, Spanien oder Italien erworben hatte. Die OMT sollen die Refinanzierungskosten der Problemstaaten senken, nachdem in den vergangenen Monaten Zweifel an Tauglichkeit und Umfang der Rettungsschirme aufgekommen waren. Ausdruck dieses Misstrauens waren steigende Risikoaufschläge insbesondere für spanische und italienische Anleihen. Am Tag der Verkündung der OMT stiegen die Kurse dieser Anleihen rapide, die Renditen sanken.

Irrationale Kapitalmärkte?

Diese Beobachtungen führen zunächst zur Frage, ob die Kapitalmärkte von irrationalen Ängsten oder Spekulanten beherrscht waren, gegen die sich die EZB mit ihrer Ankündigung erfolgreich durchgesetzt hat. Wenn man den wichtigsten Kapitalmarktakteuren zuhört, den Finanzvorständen von Pensionsfonds, Versicherungsunternehmen und Banken, drängt sich ein gegenteiliger Eindruck auf. Dieser Eindruck wird durch zwei notorische Schlagworte dokumentiert, die erst seit gut einem Jahr kursieren:

  • „Private Sector Involvement“ betrifft die Sorge, dass private Investoren auch bei künftigen Schuldenschnitten substanziell Geld verlieren werden.
  • „Implicit Subordination“ drückt die darüber hinausgehende Befürchtung aus, dass privat gehaltene Staatsanleihen nachrangig bedient werden, obwohl sie rechtlich im selben Rang stehen wie Anleihen in Händen staatlicher Institutionen.

Ein Finanzvorstand, der heutzutage spanische Anleihen kauft, riskiert im Fall eines Schuldenschnitts nicht nur seinen Job, sondern gefährdet das Unternehmen, das möglicherweise nicht mehr die vom Gesetz geforderte Solvabilität erreicht. Selbst wenn noch gar nichts passiert ist, löst die schiere Existenz europäischer Problemanleihen im Portfolio kritische Nachfragen der Wirtschaftsprüfer, Aufsichtsräte oder Aktionäre aus. Deshalb ist die Zurückhaltung institutioneller Anleger gut zu verstehen. Sie kaufen nur in geringerem Umfang und nur dann, wenn hohe Renditen das Risiko wettmachen oder ihr Heimatstaat sie nachdrücklich dazu anhält.

Als Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy im Oktober 2010 auf ihrem Spaziergang in Deauville die Beteiligung privater Gläubiger Griechenlands beschlossen und dies nachfolgend auf dem EU-Gipfel durchsetzten, war ihnen nicht bewusst, dass sie ihrer eigenen Rettungslogik zuwiderhandelten und der Staatsschuldenproblematik eine neue Dimension verliehen: Anders als bei einer Insolvenz Griechenlands, die in üblicher Routine vor dem Londoner Club und Pariser Club verhandelt worden wäre, ging es nicht länger um einen einzelnen Staat, der nicht mehr zahlen konnte, sondern um eine Staatengemeinschaft, die nicht mehr zahlen wollte und ihren Verstößen gegen den europäischen Vertrag einen weiteren Rechtsbruch hinzufügte, nämlich die Enteignung privater Gläubiger. Seither ist das Vertrauen in die Integrität der EU dahin und wird die Eurozone als halbseidener Club, dem man nichts mehr glaubt, betrachtet.

Für institutionelle Investoren, die das ihnen anvertraute Geld in griechische Staatsanleihen gesteckt hatten, sollte es sogar noch ärger kommen, weil staatliche Stellen, insbesondere die EZB, die von ihnen gehaltenen Griechenlandanleihen tauschten, um dem Schuldenschnitt zu entgehen.3 Im Ergebnis erlitten die privaten Anleger deshalb nicht, wie oft kolportiert, einen Verlust von 50%, sondern sie bekamen ziemlich genau 20% des Nennwerts zurück. Auf der Gegenseite brachte der griechische Schuldenschnitt, der ein Volumen von rund 100 Mrd. Euro hatte, jedem griechischen Bürger rechnerisch 10 000 Euro ein. Die innenpolitische Attraktivität einer solchen Maßnahme steht außer Zweifel. Niemand weiß, ob Spanien oder Italien mit Ähnlichem liebäugeln oder ob sich gar die Eurozone insgesamt in einem letzten „solidarischen Akt“ ihrer Schulden entledigen wird.

Obwohl die Zurückhaltung der Anleger gegenüber Anleihen europäischer Problemstaaten keineswegs irrational ist, wäre es doch übertrieben zu behaupten, es gäbe in diesem Spiel keine Spekulanten. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich mit der Krise Geld verdienen lässt, gibt George Soros ab, der in einem Interview Anfang 2012 darlegte, warum er 2 Mrd. Euro in italienische Staatsanleihen investiert habe. Soros hielt dies für attraktiv, weil die Rendite mit 6% ordentlich sei und Italien als Schuldner nicht ausfallen könne, denn dies wäre, so die abwegige Begründung, „Europas Ende“.4 Indes finanziert Soros gleichzeitig die Lobbyorganisation „Institute for New Economic Thinking“, der inzwischen auch mehrere deutsche Volkswirtschaftsprofessoren angehören und die auf allen Kanälen für Bankenunion, Bailouts und monetäre Staatsfinanzierung trommelt.5 Eine italienische Anleihe, die zum Zeitpunkt des Soros-Interviews bei 86 Euro lag, schoss nach dem EZB-Beschluss auf über 100 Euro.6 Das ist kein schlechter Schnitt, und bei einem Investitionsvolumen von 2 Mrd. Euro dürfte sich Soros‘ Investition in die öffentliche Meinungsbildung mehr als rentiert haben. So lange genügend Gutmenschen in Medien, Politik und Wissenschaft mitspielen, ist „New Economic Thinking“ profitabel. Jenen Insolvenzspekulanten, die sich früher mit Entwicklungsländern begnügten, muss die Eurozone als wahre Bonanza erscheinen.

Der Plan der EZB

Im Herbst 2011 zeigte sich, dass der vorübergehende Rettungsschirm EFSF an seine Grenzen gelangt war, und die Anleiherenditen der Problemstaaten schossen nach oben. Daher entschieden die europäischen Staats- und Regierungschefs Ende 2011, das Inkrafttreten des dauerhaften Rettungsschirms ESM vorzuziehen. Aufgrund rechtlicher und politischer Widerstände reichte diese Ankündigung aber nur bis zum Sommer 2012, als die Renditen erneut anzogen und auch der radikale Plan einer Bankenunion nichts mehr fruchtete.7 Damit hatte sich die konventionelle Rettungslogik erschöpft.

Während der Sommerpause 2012 hat die EZB nun ihre eigene Rettungsagenda entwickelt. Ihr oben skizzierter Vier-Punkte-Plan ist ausgeklügelter, als es auf den ersten Blick erscheint. Zunächst soll der Verzicht auf einen bevorrechtigten Gläubigerstatus der EZB jene Investoren beruhigen, die Sorge haben, bei den nächsten Schuldenschnitten ähnlich unter die Räder zu kommen wie zuletzt im Fall Griechenlands.

Darüber hinaus hat die EZB avisiert, unbegrenzt zu kaufen und diese Käufe vollständig zu sterilisieren, um einer Ausweitung der Geldbasis zu begegnen. Es fragt sich nun, wie sie diese Ziele miteinander in Einklang bringen will. Eine Sterilisierung wie im Lehrbuch, also durch Aktivtausch, scheidet aus, weil die Bilanzsumme eine natürliche Obergrenze für die Anleihekäufe darstellt; eine Obergrenze zudem, die bei weitem nicht ausgeschöpft werden kann, da etliche Aktiva langfristig gebunden sind und es schlechterdings unvorstellbar ist, den Banken sämtliche Refinanzierungsmöglichkeiten abzuschneiden.

Der Plan hinter dem Plan

Substanz erhalten die Ankündigungen der EZB erst im Zusammenhang mit einer im Umfeld von Soros, Goldman Sachs und Citigroup entwickelten Idee.8 Hiernach sterilisiert die EZB die Anleihekäufe nicht über die Aktivseite ihrer Bilanz, sondern über die Passivseite, indem sie selbst Anleihen begibt. Abbildung 1 zeigt in der oberen Hälfte die geldpolitische Bilanz der EZB, mit Instrumenten wie MRO und LTRO9 auf der Aktivseite und der Geldbasis auf der Passivseite. Unten schließt sich grau unterlegt eine finanzpolitisch verlängerte Bilanz an, die auf der Aktivseite die von der EZB erworbenen Anleihen der Problemstaaten aufführt und auf der Passivseite neuartige, von der EZB selbst begebene Anleihen. Ökonomisch gesehen handelt es sich bei dem grau unterlegten Bilanzteil um einen parallel betriebenen ESM, und zwar einen ohne Deckel.

Abbildung 1
Staatsfinanzierung durch Bilanzverlängerung

Staatsfinanzierung durch Bilanzverlängerung

Unterstellt man, dass die Investoren niedrig verzinsliche EZB-Anleihen nur bei positivem Eigenkapital der EZB zeichnen, dann fragt es sich, welche Verluste durch Schuldenschnitte die EZB verkraften kann, ohne ihr Eigenkapital aufzuzehren. Eigenkapital, so die Grundidee der Citigroup, ist im Fall des Eurosystems nicht rein bilanziell zu verstehen, sondern als Barwert der Seigniorage. Die Seigniorage wird gewöhnlich als Zunahme der Geldbasis definiert. Mit dieser Zunahme kann der Staat im einfachsten Fall Güter kaufen, die er mit dem selbst geschaffenen Geld bezahlt. Wird die Geldbasis stattdessen, wie in der Praxis üblich, durch Kreditvergabe oder Offenmarktkäufe der Notenbank erweitert, erhält der Staat dauerhafte Zinseinnahmen, denen keine Zinsausgaben gegenüberstehen, soweit die Geldbasis selbst unverzinslich ist. Der Barwert der Zinseinnahmen entspricht idealiter dem Zuwachs der Geldbasis, weshalb es gleichgültig ist, ob man die Seigniorage als Zunahme der Geldbasis berechnet oder als Barwert der dabei entstehenden Zinseinnahmen. Zur Schätzung der Größenordnung der Seigniorage seien ein konstanter Nominalzins i angenommen und eine konstante Wachstumsrate der Geldbasis, m < i. Der Ausdruck M(t) = M(0) exp(mt) ist die Geldbasis zum Zeitpunkt t. Mit M als momentanem Zuwachs, also Ableitung nach der Zeit, beträgt der Barwert der Seigniorage

Die Citigroup setzt als M den Bargeldumlauf an, derzeit rund 866 Mrd. Euro, weil die übrigen Teile der Geldbasis teilweise verzinst werden.10 Auf der anderen Seite vernachlässigt ihr Ansatz die nicht unbeträchtlichen Verwaltungskosten. Bei einem Realzins von 2%, einem realen Wirtschaftswachstum von 1% und einem Inflationsziel von 2% erhält man durch das Einsetzen der damit kompatiblen Werte i = 4% und m = 3% einen Barwert der Seigniorage von rund 3,5 Billionen Euro, der als Verteilungsmasse für die Bailouts zur Verfügung steht. Wird dieser Betrag erreicht, müssten die Marktteilnehmer ein negatives Eigenkapital der EZB akzeptieren, oder das Inflationsziel von 2% wäre nicht mehr haltbar.

Bewertung der neuen Politik

Auf den ersten Blick mutet der vorstehend skizzierte Plan durchaus gekonnt an. Er treibt das sogenannte „fair value accounting“ auf die Spitze, indem hypothetische künftige Notenbankgewinne vorgezogen und sofort an Problemstaaten und deren Gläubiger verteilt werden. Diese Denkweise harmoniert perfekt mit der Gepflogenheit der Finanzindustrie, unrealisierte Gewinne als Boni und Dividenden auszuschütten, und er harmoniert ebenso perfekt mit der Gepflogenheit der Politik, Lasten in die Zukunft zu verschieben.

Vertreter des „old economic thinking“, denen Begriffe wie materieller Budgetausgleich, Vorsichtsprinzip oder Realisationsprinzip etwas bedeuten, werden den Plan als zusätzliches Ponzi-Schema sehen, das die Aufdeckung realisierter Verluste verzögern soll und evident gegen die Bagehot-Regel verstößt, wonach eine Zentralbank in Krisenzeiten zwar als Lender of Last Resort fungiert, aber nur zu Marktkonditionen und gegen gute Sicherheiten. Die Drohung der EZB, sie wolle durch ihre Anleihekäufe eine „angemessene geldpolitische Transmission“ sichern, also die Zinsen in den Problemstaaten drücken, zeigt klar, dass es keineswegs um Erwerbe zu Marktkursen geht, sondern um Kursbeeinflussung; andernfalls hätte das Ankaufprogramm auch keine Wirkung und keinen Sinn. Durch gezielte regionale Zinsverbilligung leitet die EZB Seigniorage, die den Steuerzahlern der Eurozone zusteht, in Richtung der durch die OMT begünstigten Staaten um. Im Kern geht es also um einen geldpolitischen Finanzausgleich.

Während die Seigniorage früher ein lokal öffentliches Gut war, das die heutigen Mitgliedstaaten in unterschiedlichem Ausmaß zur Budgetfinanzierung nutzten, hat die Währungsunion daraus ein Allmendegut gemacht.11 Die zunehmenden Konflikte sind Ausdruck einer „Tragödie der Allmende“, in deren Verlauf jeder Staat versucht, ein möglichst großes Stück des Kuchens für sich herauszureißen, die anderen dies merken und sich wehren. Wenn man bereit ist, einen Betrag von rund 3,5 Billionen Euro zu akzeptieren, entspricht er doch nur dem BIP der Eurozone innerhalb von vier Monaten. Rationale Anleger werden der Eurozone keine unbegrenzte Lebensdauer zuschreiben, zumal sie wissen, dass zwischenstaatliche Währungsunionen noch nie in der Geschichte funktioniert haben; sie scheiterten alle am Allmendeproblem.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Mit Urteil vom 12. September 2012 hat das Bundesverfassungsgericht den ESM-Vertrag gebilligt und ihn insbesondere durch eine völkerrechtlich verbindlich zu machende Haftungsbegrenzung gestärkt. Wer dies nur flüchtig verfolgt hat, mag einwenden, die Entscheidung sei durch den von der EZB eingeführten ungedeckelten ESM obsolet. Das stimmt aber nicht, weil sich das Bundesverfassungsgericht auch zur Geldpolitik äußert, und zwar in überraschend apodiktischer Weise, indem es sämtliche Erwerbe von Staatsanleihen der Eurozone durch die EZB für rechtswidrig erklärt, gleichgültig ob es sich um Primärmarktkäufe, Sekundärmarktkäufe oder Wertpapierpensionsgeschäfte handelt.12

Das Gericht bezieht sich in seiner Begründung auf Art. 123 AEUV, eine allseits bekannte Norm, die den „unmittelbaren Erwerb von Staatsschuldtiteln“ durch die EZB oder eine nationale Zentralbank des Eurosystems verbietet. Der Begriff „unmittelbarer Erwerb“ erscheint auf den ersten Blick auslegungsfähig und könnte so verstanden werden, als untersage er lediglich Primärmarktkäufe. Dieser Auslegung steht aber nicht nur der Sinn und Zweck der Vorschrift entgegen – die andernfalls durch Zwischenschaltung einer Investmentbank umgangen werden könnte – , sondern auch eine Ratsverordnung.13 Ihren Erwägungen zufolge soll die Verordnung sicherstellen, dass das vertragliche Verbot einer Staatsfinanzierung durch die Notenbank nicht durch Sekundärmarkterwerbe umgangen werden kann. Sodann definiert Art. 2 der Verordnung zwei Arten des Erwerbs von Staatsanleihen, die nicht als verbotener „unmittelbarer Erwerb“ im Sinne des Vertrags gelten. Zulässig sind demnach einzig und allein:

  • Der Erwerb handelbarer Schuldtitel eines anderen Mitgliedstaates durch eine nicht zur Eurozone gehörende nationale Zentralbank (Beispiel: Bank of England kauft spanische Staatsanleihen),
  • der Erwerb handelbarer Schuldtitel eines nicht zur Eurozone gehörenden Mitgliedstaates durch die EZB oder eine nationale Zentralbank der Eurozone (Beispiel: EZB oder Bundesbank kaufen polnische Staatsanleihen).

Alle übrigen Erwerbe von Staatsschuldtiteln sind kategorisch verboten, und zwar unabhängig vom unterliegenden Motiv. Es kommt nicht auf das Motiv des Anleiheerwerbs an, sondern allein auf den objektiven Tatbestand. Das Telos des Art. 123 AEUV und der Wortlaut der Verordnung zeigen zweifelsfrei: Ein geldpolitischer Finanzausgleich der oben geschilderten Art, der Seigniorage zwischen Mitgliedstaaten umverteilt, verstößt gegen geltendes Recht. Für währungspolitische Zwecke reicht es aus, wenn das Eurosystem Anleihen von Drittstaaten erwirbt; hierbei ist keine Umverteilung innerhalb der Eurozone zu befürchten. Wegen der eindeutigen Rechtslage gehen die Mitglieder des EZB-Rats mit dem OMT-Programm ein erhebliches strafrechtliches Risiko ein.14

Die volle Brisanz der Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aber erst aus einer Zusammenschau mit dem Maastricht-Urteil. Darin ließ das Bundesverfassungsgericht den Vertrag von Maastricht zwar passieren, doch nur, weil er die Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft konzipiere und Befürchtungen, die Stabilitätsbemühungen würden scheitern, nach Ansicht des Gerichts „zu wenig greifbar“ waren. Das Bundesverfassungsgericht fuhr jedoch fort: „Der Vertrag setzt langfristige Vorgaben, die das Stabilitätsziel zum Maßstab der Währungsunion machen, die durch institutionelle Vorkehrungen die Verwirklichung dieses Ziels sicherzustellen suchen und letztlich – als Ultima Ratio – beim Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft auch einer Lösung aus der Gemeinschaft nicht entgegenstehen.“15

Der Versuch der EZB, den von ihr kreierten Finanzausgleich mit vorgeschobenen geldpolitischen Argumenten zu rechtfertigen, ist rechtlich gescheitert, denn auf das Motiv des Anleiheerwerbs kommt es, wie vorstehend dargelegt, gar nicht an. Es bleibt abzuwarten, in welche Richtung das Bundesverfassungsgericht seine Argumentation im Hauptsacheverfahren fortentwickeln wird. Der Europäische Gerichtshof, der unter griechischer Präsidentschaft in ähnlicher Zusammensetzung wie der EZB-Rat tagt, wird die OMT zwar schwerlich für illegal erklären. Sollte der neue Kurs der EZB aber nach deutschem Rechtsverständnis einen Vertragsbruch darstellen, könnten Art. 60 und 62 WÜRV16 das Recht eröffnen, Währungsunion und ESM-Vertrag zu kündigen. Obwohl solche Überlegungen Zukunftsmusik sind, steht außer Frage, dass Deutschland niemals billionenschwere Haftungsansprüche erfüllen und sich damit selbst ruinieren wird. Sobald ein Ausstieg politisch opportun oder gar alternativlos erscheint, wird man sich darauf besinnen, dass Völkerrecht „soft law“ ist17.

Schlussbemerkungen

Der Beschluss des EZB-Rats, Staatsdefizite unbegrenzt zu alimentieren, hat eine neue Phase der Eurokrise eingeleitet. Sie wird absehbar mit politischen und wirtschaftlichen Spannungen einhergehen. Politischen, weil das Allmendeproblem jetzt eine neue Qualität erhält, und wirtschaftlichen, weil die eigentlichen Probleme nicht angegangen werden, die EZB jede Reputation verloren hat und die allgemeine Verunsicherung steigt. Der neue EZB-Kurs verschärft die innerhalb der Eurozone bestehenden Fehlanreize, und diese Fehlanreize sind durch den Fiskalpakt ebenso wenig beherrschbar wie durch den seit 20 Jahren erfolglos praktizierten Stabilitäts- und Wachstumspakt.

Das Kernproblem der Rettungspolitik besteht im untauglichen Versuch, Vermögensverluste durch Transfers abzuwenden und die erforderlichen Mittel durch verzerrende Steuern aufzubringen, die vornehmlich der Realwirtschaft aufgebürdet werden.18 Angesichts der Größe der Summen ist das unmöglich, und weil viele Mitgliedstaaten schon vor der Finanzkrise dem Scheitelpunkt ihrer Lafferkurve nahegekommen waren, werden die oktroyierten Steuererhöhungen, die künftigen Steuererhöhungen und die darüber hinaus drohenden Enteignungen durch Lastenausgleich, Inflation, Vermögensabgaben oder Zwangsanleihen das Wachstum der Eurozone massiv beeinträchtigen und die Krise verschärfen. Unternehmer fürchten Enteignungen, die Rechtsbrüche der Politik und die steigende Unsicherheit; Arbeitnehmer bangen um Sparguthaben, Lebensversicherungen und Riesterrenten. Ein solches Klima schließt Prosperität aus, führt zu wirtschaftlicher Entmutigung und erinnert an die Politik der 1920er Jahre, die ebenfalls Wohlstandsziele zugunsten eines ideologischen Festkursziels zurückstellte. Damals klammerte man sich an den Goldstandard und erhöhte den Realzins in der tiefsten Rezession auf 20%, heute klammert man sich an den Euro, als wäre er Staatsreligion.

Es wäre richtig, die Eurozone aufzulösen, Schuldenschnitte bei überschuldeten Staaten vorzunehmen, Zombiebanken in die Insolvenz gehen zu lassen, die damit verbundenen Vermögensverluste hinzunehmen und hernach mit neuem Mut nach vorn zu schauen. Hierzu wird es aber nicht kommen, weil die Politik lieber einem von der Finanzindustrie vorbuchstabierten „new economic thinking“ frönt. Realistisch gedacht müssen wir uns auf harte Zeiten, niedriges Wachstum19 und innereuropäische Konflikte einrichten, wobei man nur hoffen kann, das diese Konflikte nicht wie in früheren Zeiten enden.

Title:The ECB’s New Course

Abstract:In September 2012, the European Central Bank (ECB) announced its new “Outright Monetary Transactions (OMT)” programme, which entails unlimited purchases of member states’ government bonds. Following an idea by George Soros, Goldman Sachs and Citigroup, the ECB intends to sterilise these purchases through the liabilities side of its balance sheet, i.e. through the issuance of ECB bonds. The article analyses this plan and argues that the ECB is introducing a second unlimited European Stability Mechanism (ESM). This clearly violates European law and is likely to be punishable under German criminal law.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1437-5