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Gesamtwirtschaftlicher Vorteil

Von Gustav A. Horn

In diesem Jahr stehen bedeutende Tarifverhandlungen an, und es zeigt sich bereits anhand ihrer Forderungen, dass die Gewerkschaften teilweise merklich höhere Lohnsteigerungen als in den vergangenen Jahren anstreben. Sie erhalten hierfür im Vergleich zu früher erheblich mehr Rückenwind; zumeist mit Verweisen auf lange Jahre der Lohnzurückhaltung und auf die gute Gewinnlage der Unternehmen. Es erhebt sich aber wie immer auch Widerspruch. Argumente sind die von den Skeptikern so gesehene beschäftigungsfördernde Wirkung von Lohnzurückhaltung und die vor dem Hintergrund der Krise des Euroraums verhaltenen Konjunkturaussichten.

Als Diskussionsgrundlage ist zunächst eine Definition notwendig. Unter Lohnzurückhaltung sind im Folgenden nominale Tariflohnzuwächse zu verstehen, die hinter den Produktivitätszuwächsen und der Inflation zurückbleiben. Die Frage ist also, ob in den anstehenden Verhandlungen die Löhne zurückhaltend steigen sollen oder ob jetzt die Zeit für höhere Lohnzuwächse gekommen ist, die diesen Maßstab im langfristigen Mittel auch wirklich erreichen. Vieles spricht für letzteres. Die Gewinnlage der Unternehmen ist hervorragend. Dies ist auch das Resultat einer veränderten Beschäftigungsstrategie auf Unternehmensebene. Schon in den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass auf der Basis von Vereinbarungen der Tarifparteien die Arbeitszeiten sehr stark flexibilisiert wurden. In den Jahren des Aufschwungs 2006/2007 und während der Erholung nach der Finanzmarktkrise hat dies die Gewinne der Unternehmen stark ansteigen lassen, da sie Mehrarbeit ohne nennenswerte Mehrkosten einsetzen konnten. In der Krise hat dies den Arbeitnehmern genutzt, da sie ihren Arbeitsplatz nicht verloren und ihr Einkommen nahezu unverändert blieb. Mit der Erholung stieg dann die Beschäftigung sogar deutlich an.

Es ist unverkennbar, dass dieses Wachstum in hohem Maße auf Exporterfolgen beruhte. Daran ist nichts Schlechtes, denn es zeigt, dass die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig ist. Diese Erfolge sind im Hinblick auf den Wohlstand einer Volkswirtschaft allerdings nur dann von Bestand, wenn es gelingt, sie auf Dauer mit einer stärkeren Binnennachfrage zu verknüpfen. Ansonsten tauscht man – um ein Bild von Hans-Werner Sinn zu verwenden – gute Autos gegen schlechte Wertpapiere. Wohin dies führt, lässt sich gerade anhand der Eurokrise beobachten. Der beste Weg, diese Exporterfolge in eine stabilisierende Stimulanz der Binnennachfrage umzuwandeln, sind höhere Löhne. Sie erhöhen die Einkommen der Beschäftigten, die wiederum das Gros des Einkommenszuwachses für zusätzliche Ausgaben nutzen werden. In der Folge steigen die Binnennachfrage und die Importe, was die Außenhandelsbilanz und damit auch den Exporterfolg stabilisiert. Denn eine dauerhaft erfolgreiche Exportwirtschaft ist eine, die sich mehr Importe leisten kann und auch leistet.

Die Befürchtung, dass in dieser Situation durch höhere Lohnsteigerungen Beschäftigung verloren gehen könnte, ist unbegründet. Die zusätzliche Binnennachfrage schafft zusätzliche Beschäftigungsnachfrage. Des Weiteren geht mit Lohnerhöhungen, die die längerfristige Produktivitätsentwicklung und die Inflation gleichwohl im Blick haben, per Saldo kein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit einher. Dies dürfte allein gegenüber den Euro-Krisenländern der Fall sein, die gezielte Lohnzurückhaltung üben müssen. Aber dies ist zu deren Stabilisierung auch unerlässlich. Die Lohnpolitik würde damit die staatlichen Bemühungen unterstützen. Dies gilt auch in konjunktureller Hinsicht. Gerade vor dem Hintergrund der düsteren Aussichten im Euroraum entlastet eine binnenwirtschaftliche Nachfragestimulanz durch höhere Löhne die staatliche Stabilisierungspolitik. Die Tarifabschlüsse wären dann über ihre Branchenwirkung hinaus von gesamtwirtschaftlichem Vorteil.

Mit Augenmaß!

Von Wolfgang Franz

Die Automobilindustrie macht es vor. Dort erhalten die Beschäftigten für das Jahr 2011 im Rahmen von Vereinbarungen über eine Gewinnbeteiligung dem Vernehmen nach „Rekordprämien“, die an die Marke von jeweils 10 000 Euro heranreichen. Andere Branchen und Unternehmen wie beispielsweise in der Chemischen Industrie schütten ebenfalls eine Gewinnbeteiligung aus. Gewerkschaftsfunktionäre und Betriebsräte sind darob des Lobes voll.

Mit Gewinnbeteiligungsmodellen können die Tarifvertragsparteien die Nachschlagdiskussion eindämmen, wie sie in der aktuellen Tarifrunde wieder aufgeflammt ist. Denn falls sich die Ertragslage der Unternehmen in den betreffenden Branchen wesentlich besser entwickelt als bei Tarifabschluss antizipiert, sind die Beschäftigten quasi automatisch daran beteiligt. Zwar sind bei den einzelnen Modellen eine Reihe von möglicherweise strittigen Fragen zu klären, also beispielsweise, ob die Belegschaft ebenso an Verlusten beteiligt oder stattdessen eine Obergrenze für die Gewinnbeteiligung gezogen werden soll, oder ob die Prämie als Pro-Kopf-Betrag oder als Prozentsatz des jeweiligen Arbeitsentgelts zu bemessen ist. Aber zur Behandlung dieser Aspekte liefern Wissenschaft und Praxis eine Reihe von alternativen Lösungsansätzen. Nichts spricht dagegen, dass sich die Tarifvertragsparteien auf eines dieser Modelle verständigen und es den Unternehmen als Orientierungsrahmen anbieten.

Leider bedienen sich nicht alle in Frage kommenden Unternehmen solcher Modelle – für den staatlichen Sektor ist eine Gewinnbeteiligung kaum umsetzbar. Dies erklärt, warum sich in den aktuellen Tarifverhandlungen selbst im privaten Sektor die Tarifforderungen mehr oder weniger explizit auf die vergangene hervorragende Ertragslage der Unternehmen stützen. Außer Acht bleibt dabei, dass die Gewinne der Vorjahre längst ausgeschüttet oder investiert sind, also nicht mehr zur Verteilung zur Verfügung stehen. Ein Tariflohnabschluss bezieht sich immer auf eine künftige Laufzeit, eine Retrospektive ist fehl am Platz. Des Weiteren müssen die Arbeitnehmer bedenken, dass im Rezessionsjahr 2009 eigentlich Lohnkürzungen hätten stattfinden müssen, welche die Unternehmen aus guten Gründen unterlassen haben. Angesichts hoher Produktivitätsrückgänge, geringer Preissteigerungsraten und hoher Verluste bei vielen Unternehmen hätte selbst die seitens der Gewerkschaften favorisierte Formel für die Tariflohnentwicklung in vielen Branchen negative Werte erbracht, ein Tatbestand, der jetzt mitunter geflissentlich übersehen wird.

Stattdessen feiert mal wieder das abgenutzte Kaufkraftargument fröhliche Urständ. Es muss bei jeder Konjunkturlage herhalten: Die Rezession soll mit kräftigen Lohnerhöhungen überwunden, der Aufschwung darf nicht behindert, die gute Konjunkturlage nicht gefährdet und der Abschwung nicht verstärkt werden. Ein Universalrezept, allerdings eines, das in die Irre führt. Ob die Tariflohnerhöhungen nämlich als zusätzliche Nachfrage bei den(selben) Unternehmen ankommen, ist höchst ungewiss. Arbeitnehmer sparen, importieren und zahlen Steuern. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Indem die Tarifvertragsparteien den branchenmäßigen Verteilungsspielraum nicht ausschöpfen, tragen sie zur Schaffung weiterer Arbeitsplätze und damit zu erhöhten Konsumausgaben bei. Dieser Verteilungsspielraum setzt sich aus dem künftigen trendmäßigen Produktivitätsfortschritt und den erwarteten Absatzpreisen jeweils der betreffenden Branche zusammen. Der öffentliche Sektor sollte zwar mit der allgemeinen Lohnentwicklung Schritt halten, um qualifizierte Arbeitskräfte zu bekommen, muss aber die Arbeitsplatzsicherheit angemessen berücksichtigen.


DOI: 10.1007/s10273-012-1352-9