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Deutschland wird aufgrund seiner Leistungsbilanzüberschüsse als Mitverursacher der Krise in der Europäischen Währungsunion angesehen. Tatsächlich entfiel auf die Krisenländer nur ein kleiner Teil der deutschen Überschüsse, die seit 2007 bereits deutlich abgenommen haben. Den Leistungsbilanzüberschüssen stehen Nettokapitalexporte gegenüber, die als Ausdruck von Renditedifferenzen zwischen deutschen und ausländischen Kapitalanlagen interpretiert werden können. Diese Anlagen hatten allerdings sehr unterschiedliche realwirtschaftliche Erfolge.

Die Leistungsbilanz wird als wichtiger Indikator für die internationale Wettbewerbsfähigkeit angesehen. Ein Überschuss zeigt dabei eine relative Stärke, ein Defizit eine relative Schwäche an. Starke Ungleichgewichte im internationalen Güter- und Dienstleistungsaustausch können aber auch zu Krisen führen. So wird im Rahmen der G20-Staaten ein Dialog über den Abbau struktureller Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse geführt. Insbesondere die USA haben sich dort für internationale Abkommen zur Begrenzung der Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse der großen Länder eingesetzt. Beispielsweise schlug US-Finanzminister Timothy Geithner beim G20-Gipfel 2010 in Seoul vor, den Saldo auf ±3% des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu beschränken.1 Länder, die diesen Wert über- bzw. unterschreiten, sollten durch entsprechende wirtschaftspolitische Maßnahmen darauf hinwirken, dass es zur einer Rückführung der Überschüsse bzw. Defizite in der Leistungsbilanz kommt. Insbesondere Überschussländer wie China, Japan oder Deutschland erhoben Bedenken gegen diesen Vorschlag, der sie zum aktiven Abbau ihrer Leistungsbilanzüberschüsse verpflichtet hätte.

Da bisher keine Einigung in dieser Frage erzielt werden konnte, ergriff die US-Regierung parallel dazu Maßnahmen, um ihr vergleichsweise hohes Leistungsbilanzdefizit schon bis 2015 abzubauen. Dies soll durch die Verdopplung der Exporte der US-Wirtschaft in diesem Zeitraum erreicht werden.2 Der einfachste Weg eine solche Anpassung zu erreichen, ist der Wechselkursmechanismus. Durch eine Abwertung ihrer Währung kann ein Land gegenüber den anderen an preislicher Wettbewerbsfähigkeit gewinnen und damit seine Exporte von Gütern und Dienstleistungen steigern. Gelingt dies nicht, muss ein Nettokapitalimport in Höhe der Leistungsbilanzdefizite sichergestellt werden. Die USA haben das weltweit größte kumulierte Leistungsbilanzdefizit sowohl absolut als auch pro Kopf der Bevölkerung. 2011 betrug ihr Leistungsbilanzdefizit nach vorläufigen Schätzungen 471,9 Mrd. US-$. Das entspricht 3,3% ihres BIP. Es hat bereits ein deutlicher Abbau stattgefunden, 2007 betrug es noch 731 Mrd. US-$.

Länder, die über einen längeren Zeitraum Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen, betreiben parallel dazu einen langfristigen Kapitalexport. Insbesondere Deutschland, Japan oder China hatten seit langem Exportüberschüsse in der Kapitalbilanz und wurden deswegen von den großen Defizitländern, insbesondere den USA, heftig angegriffen.3 Allerdings sind Kapitalexporte keineswegs schädlich. Sieht man die Zahlungsbilanz als von den Kapitalströmen dominiert an, können Defizite in der Leistungsbilanz als Folge von Überschüssen in der Kapitalbilanz interpretiert werden. Noch Mitte der letzten Dekade wurde das hohe Leistungsbilanzdefizit der USA daher von Ben Bernanke4 als Ausdruck wirtschaftlicher Stärke interpretiert. Da Kapital bei freien internationalen Kapitalmärkten nach den besten Anlagemöglichkeiten im jeweiligen In- und Ausland strebt, werden hohe Kapitalzuflüsse als Folge attraktiver Anlagemöglichkeiten dort gedeutet. Die reicheren Länder exportieren aufgrund höherer Sparquoten Kapital in die ärmeren Länder. Mithin ist ein nachhaltiger Kapitalexport aus diesen Ländern sogar angemessen, wenn das Kapital dort zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft beiträgt. Das Beispiel China/USA zeigt aber, dass es auch zu umgekehrten Kapitalströmen kommen kann.

Ein Vorwurf in der Debatte um den Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse ist dabei, dass insbesondere China, aber auch Japan, den Kurs ihrer Währung gegenüber dem US-Dollar durch Interventionen der jeweiligen Zentralbanken am Devisenmarkt künstlich niedrig halten. Infolge der großen Rezession 2008/2009 drohte ein Handelskrieg auszubrechen, da wegen der drastisch gestiegenen Arbeitslosigkeit insbesondere in den USA die US-Regierung unter massivem Druck stand, Arbeitsplätze zu schaffen. Seitdem hat sich die Lage etwas entspannt und die Gefahr eines Handelskriegs ist wohl vorerst gebannt. Die Spannungen in den Handelsbeziehungen nehmen jedoch tendenziell weiterhin zu. Massiver Handelsprotektionismus hätte – wie in der großen Rezession nach 1929 – die Situation der Weltwirtschaft deutlich verschärfen können.5

Fundamentales Ungleichgewicht in der Eurozone?

Seitdem die Eurozone 2010 in eine tiefe Finanzkrise insbesondere der peripheren Mitgliedsländer6 gerutscht ist, die wegen ausufernder Staatsverschuldung Finanzmittel nur zu exorbitant hohen Zinssätzen erhalten konnten, wurde sukzessive ein ganzes Bündel von Rettungsmaßnahmen von den Regierungen der Mitgliedsländer der Eurozone, der EZB und der EU-Kommission eingeleitet. Wegen der bestehenden Ungleichgewichte zwischen den einzelnen Mitgliedsländern rückten dabei erneut deren Leistungsbilanzen in den Fokus der Diskussion. Da ein rascher Abbau der Leistungsbilanzungleichgewichte innerhalb einer Währungsunion nicht über eine Wechselkursanpassung erreichbar ist, wurde nach anderen Wegen gesucht. Dabei geriet insbesondere Deutschland mit seinem hohen Leistungsbilanzüberschuss erneut in die Kritik. Kritisiert wurde, dass Deutschland zu Lasten der anderen Defizitländer von der Währungsunion profitiert, weshalb es verstärkt Maßnahmen zum Abbau der Leistungsbilanzüberschüsse ergreifen müsse. Dies zeige sich beim Vergleich der Leistungsbilanzsalden einzelner Euroländer (vgl. Abbildung 1). Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass die Leistungsbilanz der Eurozone als Ganzes weitgehend ausgeglichen ist. Mithin besteht das Problem der Leistungsbilanzungleichgewichte fast ausschließlich zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone (vgl. Tabelle 1).

Offensichtlich waren die Leistungsbilanzsalden der Eurozone insgesamt seit 1999 weitgehend ausgeglichen und werden dies voraussichtlich in den kommenden Jahren weiter sein. Trotzdem bedeutet das nicht, dass sich die Leistungsbilanzsalden nur zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone im Ungleichgewicht befinden. Diese Sicht der Dinge erweist sich als Irrtum, wenn man beispielsweise die Leistungsbilanz Deutschlands detaillierter betrachtet.

Abbildung 1
Leistungsbilanzsalden der einzelnen Länder innerhalb der Eurozone

in Mrd. Euro

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Quelle: AMECO, Berechnungen des IMK 2011.

Tabelle 1
Leistungsbilanzsalden der Eurozone insgesamt1
  Mrd. US-$ in % des BIP
1999 30,177 0,44
2000 -39,699 -0,634
2001 2,525 0,04
2002 44,013 0,636
2003 37,096 0,435
2004 112,191 1,150
2005 38,760 0,382
2006 36,440 0,339
2007 20,226 0,163
2008 -98,636 -0,725
2009 13,424 0,108
2010 34,821 0,286
2011 16,834 0,126
2012 55,947 0,409
2013 67,796 0,485
2014 77,807 0,544
2015 76,555 0,522
2016 74,519 0,495

1 Prognosen beginnen nach 2010.

Quelle: Internationaler Währungsfonds, Eurostat, World Economic Outlook Database, September 2011.

Viel Lärm um nichts

Der gesamte Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands betrug 2010 rund 141 Mrd. Euro (vgl. Tabelle 2). Allerdings ist dies der Saldo gegenüber dem gesamten Ausland. Gegenüber den übrigen Mitgliedsländern der Eurozone betrug er für Deutschland nur rund 73 Mrd. Euro, d.h., er war nur etwas mehr als halb so groß. Knapp die Hälfte der Leistungsbilanzüberschüsse der deutschen Wirtschaft wurde außerhalb der Eurozone erwirtschaftet.

Entsprechend gilt dies auch für die anderen Länder der Eurozone. In der Abbildung 2 sind die tatsächlichen bilateralen Leistungsbilanzsalden einzelner Mitgliedsländer der Eurozone mit Deutschland dargestellt. Bemerkenswert ist, dass Frankreich und Österreich die größten Leistungsbilanzdefizite gegenüber Deutschland aufweisen, erst dann folgen Spanien, Italien, Portugal und Griechenland. Sieht man von den Ungleichgewichten gegenüber Frankreich, Österreich, Spanien und Italien ab, gleichen sich die Defizite gegenüber den anderen Mitgliedsländern der Eurozone mit den Überschüssen aus.

Abbildung 2
Beitrag der Länder der Eurozone zum gesamten Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands 2010
in Mrd. Euro
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Quelle: Deutsche Bundesbank, Juli 2011; DIW 2012.

Tabelle 2
Leistungsbilanz Deutschlands insgesamt und nach einzelnen Regionen
in Mrd. Euro
  Warenhandel (fob) Dienstleistungen (fob) Saldo des
Waren­handels
und der Dienst­leistungen
Erwerbs- und Vermögenseinkommen Laufende Über­tragungen Saldo der
Leistungs­bilanz
  Aus­fuhren Ein­fuhren Saldo Aus­fuhren Ein­fuhren Saldo Ein­nahmen Aus­gaben Saldo Ein­nahmen Aus­gaben Saldo
Insgesamt
1999 505,6 440,3 65,4 78,9 133,2 -54,4 11,0 86,9 98,3 -11,4 15,2 39,9 -24,8 -25,2
2000 591,4 530,6 60,8 90,2 149,9 -59,7 1,1 116,0 124,3 -8,3 15,3 43,2 -28,0 -35,2
2001 632,1 533,5 98,7 98,9 159,4 -60,5 38,2 101,9 112,8 -10,9 15,9 42,8 -26,9 0,4
2002 647,6 513,3 134,3 108,5 154,3 -45,8 88,5 103,9 121,9 -18,0 15,8 43,3 -27,5 43,0
2003 660,9 531,8 129,2 109,1 154,0 -44,9 84,3 104,8 119,9 -15,1 15,3 43,6 -28,3 40,9
2004 730,3 578,9 151,4 118,3 159,4 -41,1 110,3 136,9 116,5 20,4 15,2 43,0 -27,8 102,8
2005 790,6 634,6 156,0 131,7 171,0 -39,3 116,7 160,8 135,9 24,9 16,9 45,6 -28,7 112,9
2006 904,2 744,9 159,3 149,1 179,6 -30,5 128,8 200,2 155,4 44,9 19,4 48,1 -28,7 145,0
2007 987,4 787,9 199,5 162,2 191,0 -28,8 170,7 239,8 196,4 43,3 18,1 50,9 -32,8 181,1
2008 1018,9 839,4 179,5 173,1 200,0 -27,0 152,7 195,5 159,9 35,6 18,6 52,1 -33,6 154,7
2009 832,5 696,8 135,7 166,4 185,4 -19,0 116,7 178,5 128,4 50,1 17,2 50,2 -33,0 133,7
2010 983,4 826,4 157,0 178,8 201,1 -22,3 134,7 173,8 129,3 44,5 17,1 55,2 -38,1 141,1
Eurozone (17)
2007 430,3 316,0 114,3 53,2 73,7 -20,5 93,9 121,7 101,9 19,8 3,9 9,3 -5,4 108,2
2008 431,0 327,9 103,0 57,0 77,2 -20,2 82,9 110,0 88,8 21,2 4,2 8,6 -4,4 99,6
2009 352,1 271,1 81,0 53,7 72,9 -19,2 61,7 98,0 71,7 26,3 3,9 9,0 -5,0 83,0
2010 396,2 320,0 76,1 55,8 77,0 -21,2 54,9 98,3 73,6 24,8 4,0 10,4 -6,4 73,2
übrige Welt
2007 557,1 472,0 85,1 109,1 117,4 -8,3 76,8 118,0 94,5 23,5 14,2 41,6 -27,4 72,9
2008 587,9 511,4 76,5 116,1 122,8 -6,7 69,8 85,5 71,1 14,4 14,4 43,5 -29,1 55,0
2009 480,4 425,7 54,7 112,7 112,5 0,2 54,9 80,5 56,7 23,8 13,3 41,3 -28,0 50,7
2010 587,3 506,4 80,9 123,0 124,1 -1,1 79,8 75,4 55,7 19,7 13,2 44,8 -31,7 67,9
PIIGS-Länder
2007 135,2 89,5 45,7 15,7 28,5 -12,8 32,9 37,2 19,8 17,4 0,6 3,6 -3,0 47,3
2008 126,9 91,1 35,8 17,0 28,7 -11,7 24,1 36,3 7,2 29,1 0,6 3,6 -3,0 50,1
2009 99,1 76,9 22,2 14,8 26,5 -11,7 10,5 29,1 10,2 18,9 0,5 3,6 -3,1 26,3
2010 111,0 87,1 23,9 15,5 28,0 -12,5 11,4 28,2 11,3 16,8 0,5 4,1 -3,6 24,6

Quellen: Deutsche Bundesbank, Juli 2011; DIW 2012.

Tabelle 3
Leistungsbilanzsalden einzelner Länder
in % des BIP
  2007 2008 2009 2010
Eurozone (16 Länder) 0,1 -1,5 -0,3 -0,4
Belgien 1,6 -1,8 0,4 1,4
Bulgarien -25,2 -23,0 -8,9 -1,0
Tschechien -3,2 -0,7 -3,2 -3,8
Dänemark 1,4 2,7 3,6 5,5
Deutschland 7,4 6,2 5,6 5,7
Estland -17,2 -9,7 4,5 3,6
Irland -5,3 -5,6 -3,0 -0,7
Griechenland -14,3 -14,7 -11,0 -10,5
Spanien -10,0 -9,6 -5,2 -4,5
Frankreich -1,0 -1,9 -1,9 -2,1
Italien -2,4 -2,9 -2,1 -3,3
Zypern -11,7 : : -7,7
Lettland -22,3 -13,1 8,6 3,6
Litauen -14,5 -13,1 4,3 1,8
Luxemburg 10,1 5,3 6,9 7,8
Ungarn -6,9 -7,3 0,4 2,1
Malta -5,6 -7,3 -6,9 -4,1
Niederlande 6,7 4,4 4,9 7,7
Österreich 3,5 4,9 3,1 2,7
Polen -4,7 -4,8 -2,2 -3,4
Portugal -10,1 -12,6 -10,9 -9,9
Rumänien -13,4 -11,6 -4,2 -4,1
Slowenien -4,8 -6,7 -1,5 -1,1
Slovakei -5,3 -6,2 -3,2 -3,4
Finnland 4,3 2,9 2,3 3,1
Schweden 9,2 8,8 7,0 6,3
Großbritannien -2,7 -1,5 -1,7 -2,5
Norwegen 14,2 17,8 13,1 12,8
Türkei -5,9 -5,6 -2,3 -6,6
USA -5,1 -4,7 -2,7 :
Japan 4,8 3,2 2,8 :

Die Salden geben die Leistungsströme des jeweiligen Landes (der saldierten Eurozone) mit dem Rest der Welt wieder.

Quelle: Eurostat.

Am Beispiel Österreichs wird auch deutlich, dass ein deutliches Leistungsbilanzdefizit gegenüber Deutschland für das Land durchaus keine Wirtschafts- und Beschäftigungskrise bedeuten muss. So lag im Januar 2012 die harmonisierte Arbeitslosenquote nach Eurostat bei 4%. Im Vergleich dazu lag sie in Deutschland bei 5,8%. Zwischen Arbeitslosigkeit und Leistungsbilanzsaldo besteht offenbar kein eindeutiger oder gar enger Zusammenhang, wie von einigen Kritikern am deutschen Leistungsbilanzüberschuss immer wieder betont wird.

Überschüsse in der Leistungsbilanz führen zu einem Kapitalexport in andere Länder, wo sich – so hoffen die jeweiligen Anleger – höhere Renditen erwirtschaften lassen als im Heimatland. Allerdings sind die Einnahmen aus Vermögenseinkommen im Ausland seit 2007 deutlich eingebrochen. Die Politik niedriger Zinsen hat Folgen für die Krediterträge aus dem Ausland. So ist der Saldo der Zinseinkünfte für Kredite in die Eurozone zwischen 2007 und 2010 von 11,3 Mrd. auf 5,1 Mrd. Euro gesunken, und entsprechend hat auch der Leistungsbilanzüberschuss abgenommen.7 Gegenüber der übrigen Welt sank der Saldo im selben Zeitraum von 16,7 Mrd. Euro auf 7,4 Mrd. Euro. Trotz der seit Ausbruch der Krise wieder angestiegenen Zinssätze insbesondere in Krisenländern der Eurozone hat sich dies nicht positiv auf den entsprechenden Posten der deutschen Leistungsbilanz ausgewirkt.

Hier wird vermutlich der Rückgang der Kreditvergabe trotz höherer Zinssätze wegen des damit erwarteten höheren Risikos eine wichtige Rolle gespielt haben. Deswegen kam es auch zu einem entsprechenden Rückgang der deutschen Kapitalexporte (ohne Direktinvestitionen und Wertpapieranlagen) in die Länder der Eurozone von 140,9 Mrd. Euro (2007) auf 54,9 Mrd. Euro (2010).8 Deutsche Investoren haben in nicht unerheblichem Umfang ihre Kapitalanlagen in Griechenland, Italien, Irland und Portugal reduziert. Solange die Krise der Eurozone aus Sicht der Anleger insbesondere aus Deutschland als nicht nachhaltig überwunden gilt, könnte es sogar per saldo zu einem Kapitalimport aus diesen Ländern kommen. Ob die Veränderungen der Salden der Leistungsbilanz ihre jeweiligen Ursachen in den Komponenten der Leistungsbilanz oder stattdessen in der Kapitalbilanz als Komplement in der Zahlungsbilanz haben, bleibt eine offene Frage. Es ist festzuhalten, dass eine Gegenüberstellung der Leistungsbilanzen der Mitgliedsländer innerhalb der Eurozone, wie sie die Abbildung 1 darstellt, zu Fehlinterpretationen verleitet.

In Tabelle 2 ist die Entwicklung der Leistungsbilanz und ihrer Einzelkomponenten für Deutschland für den Zeitraum 1999 bis 2010 dargestellt. Die Leistungsbilanz Deutschlands lag zu Beginn der letzten Dekade noch im Defizit und schwoll bis 2007 auf einen Überschuss von rund 181 Mrd. Euro an. Zugleich blieb der Saldo aus der Dienstleistungsbilanz negativ, wenn auch das Defizit gesenkt werden konnte. Nicht zuletzt wegen der völlig unterschiedlichen Entwicklungen der Teilkomponenten ist eine monokausale Deutung der Leistungsbilanzsaldenentwicklung kaum sinnvoll.9

Betrachtet man nur die Gesamtaggregate der Leistungsbilanzsalden im Verhältnis zu den jeweiligen Bruttoinlandsprodukten der einzelnen Länder, dann ergibt sich folgendes Bild: Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss gegenüber Griechenland beträgt 1,4% des griechische BIP. Zur gleichen Zeit betrug aber gemäß Eurostat das Leistungsbilanzdefizit Griechenlands 10,5% (vgl. Tabelle 3). Es entfallen mithin nur 1,4 Prozentpunkte von 10,5% auf den deutschen Leistungsbilanzüberschuss. Offenbar hat Griechenland aus ganz anderen Ländern sein Leistungsbilanzdefizit gespeist. Für Spanien ergibt sich ein deutscher Anteil am spanischen Leistungsbilanzdefizit des Jahres 2010 von 0,96% des BIP bei einem gesamten Defizit von 4,5%. Für Portugal lauten die entsprechende Werte 2,45 Prozentpunkte von 9,9%. Für Italien lauten sie 0,7 Prozentpunkte von 3,3%. Und schlussendlich für Irland ergibt sich ein Leistungsbilanzüberschuss gegenüber Deutschland von 4,7% zu einem Defizit von insgesamt 0,7%. Summa Summarum sind die deutschen Beiträge zu den Leistungsbilanzdefiziten der vier zuerst genannten Länder deutlich niedriger als das Gesamtdefizit in der Leistungsbilanz der jeweiligen Länder.

Dies sind keine Größenordnungen, die dafür sprechen, dass die bestehenden Ungleichgewichte zwischen Deutschland und den übrigen Mitgliedsländern einen Kollaps verursacht haben.10 Zudem haben sich diese Ungleichgewichte seit 2007 deutlich zurückgebildet, vor allem aufgrund der unterschiedlichen Wachstumsdynamiken der einzelnen Länder der Eurozone vor und nach der weltweiten Krise. Während Deutschland relativ gut aus der schweren Rezession 2009 hervorgegangen ist, ist dies insbesondere für die PIIGS-Staaten nicht der Fall. Die Einfuhren aus der Eurozone nach Deutschland wuchsen dabei rascher als die Ausfuhren.11 Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die relative Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verändert hat.

Im Wesentlichen wird der Handelsbilanzsaldo von Unterschieden in der Wachstumsdynamik der jeweiligen Länder bestimmt. Wächst Deutschland rascher als die anderen Länder, so steigt die Importnachfrage und unter bestimmten Bedingungen sinkt der deutsche Handelsbilanzüberschuss. Der Aufbau der hohen Überschüsse innerhalb der Eurozone ist entsprechend Ausdruck der niedrigeren Wachstumsdynamik Deutschlands. Deutschland war vor nicht allzu langer Zeit Schlusslicht beim Wirtschaftswachstum. Jetzt hat sich das Blatt gewendet. Die Abbildung 3 zeigt deutlich, dass die jetzigen Krisenländer im Vergleich zu Deutschland sehr viel rascher gewachsen sind. Irland, Griechenland und Spanien sind im Zeitraum 1999 bis 2008 Spitzenreiter beim Wirtschaftswachstum gewesen. Dies war durch Kapitalimporte möglich. Sobald das weit überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum dieser Länder sich als nicht nachhaltig erwies, kehrten sich die Kapitalströme um.

Abbildung 3
Kumuliertes reales Wirtschaftswachstum in der Eurozone und in ausgewählten Ländern

in %

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Quelle: Eurostat; eigene Berechnungen; DIW 2012.

Auch gegenüber den USA und Japan bestehen aus deutscher Sicht keine größeren Handelsbilanzungleichgewichte. Dasselbe kann für China als zweitwichtigsten Handelspartner Deutschlands festgestellt werden.12 Derzeit dürfte Deutschland keinem seiner wichtigsten Handelspartner größeres Kopfzerbrechen hinsichtlich seiner bestehenden Ungleichgewichte bereiten. Allein Frankreich müsste sich wegen seines geringeren Wachstums im Vergleich zu Deutschland bei gleichzeitigem Leistungsbilanzdefizit Sorgen machen. Deutschland dagegen ist eine erfolgreiche Exportnation, aber dies ist es schon seit 100 Jahren.13 Im Gegenzug exportiert es Kapital in die übrige Welt, wo vergleichsweise Kapitalmangel herrscht. In einer Welt mit einem Zuwachs der Bevölkerung ist ein Kapitalexport, sofern er produktiv verwendet wird, sinnvoll und wünschenswert. Es hilft den Ländern, die Kapital importieren, sich schneller wirtschaftlich zu entwickeln.

Allerdings heißt Kapitalexport in andere Länder nicht automatisch, dass die übertragenen Finanzmittel dort produktiv verwendet werden. Sie können auch konsumiert werden. Ein Vergleich zwischen den Leistungsbilanzen Griechenlands und der Türkei macht dies deutlich. Die Türkei hatte 2011 ein Leistungsbilanzdefizit von 8% ihres BIP. Griechenland hatte in dem Jahr ein fast gleich hohes Leistungsbilanzdefizit von 7,9% seines BIP. Im gleichen Jahr wuchs aber das BIP der Türkei um 6,6%, während es in Griechenland um 6% schrumpfte.14 Offensichtlich spielt die Verwendung der Kapitalexporte eine entscheidende Rolle für den Erfolg einer Wirtschaft. Ist diese unproduktiv oder dient sie wie im Falle Griechenlands zur Schuldentilgung alter Forderungen des Auslands, dann bleibt ein Wachstumseffekt aus. Im Gegensatz dazu führen die Kapitalimporte in der Türkei zu einem Wachstumsboom.

Fazit

In der hitzigen Debatte über die Krise der Eurozone wird von Seiten der Krisenländer und einiger Ökonomen der Vorwurf erhoben, diese Länder würden wegen der Folgen der Leistungsbilanzdefizite, die diese gegenüber Deutschland aufweisen, in die Rezession getrieben. Deutschlands Exportsteigerungen seien schuld an der Misere dieser Länder. Leistungsbilanzen, Handelsbilanzen oder Zahlungsbilanzen sind aber nur Ausdruck der Saldenmechanik und müssen im Kontext mit anderen Größen hinsichtlich ihres Entstehungs- und Wirkungszusammenhangs interpretiert werden. Allein die vorhandenen Ungleichgewichte in den Salden zeigen keine Fehlentwicklungen auf. Das Beispiel der Leistungsbilanzsalden der Türkei und Griechenlands macht das deutlich. Deutschland kann für die Versäumnisse der griechischen Wirtschaft und Politik nicht in die Verantwortung genommen werden. Eher ist denjenigen, die leichtfertig Kapital nach Griechenland exportierten, vorzuwerfen, dass sie sich zu wenig um den sinnvollen Einsatz der Mittel Gedanken gemacht haben. Die Eurokrise ist daher vorrangig hausgemacht und nicht das Ergebnis von Fehlkonstruktionen der Eurozone als Währungsraum. Die Krise entstand aufgrund der systematischen Verletzung der Prinzipien ordnungsgemäßen Wirtschaftens mit knappen Mitteln. Werden diese nicht effizienter eingesetzt, wird die Krise auch kein Ende finden.

  • 1 R. Buergin, F. Yoon: G-20 Nations Split Over Geithner’s Trade Plan, in: Bloomberg vom 22. Oktober 2010.
  • 2 H. Cooper: Obama Sets Ambitious Export Goal, in: The New York Times vom 28. Januar 2010.
  • 3 Vgl. hierzu A. Belke, C. Dreger, G. Erber: Abbau globaler Handelsungleichgewichte: muss China aufwerten?, in: DIW Wochenbericht, 77. Jg. (2010), Nr. 40, S. 2-8.
  • 4 B. Bernanke: The Global Saving Glut and the U.S. Current Account Deficit, Rede anlässlich der Sandrige Lecture der Virginia Association of Economists in Richmond, Virginia, 14. April 2005.
  • 5 G. Erber, U. Thiessen: Gefahr für den Welthandel: Protektionismus durch institutionelle Reformen stoppen, in: DIW-Wochenbericht, 76. Jg. (2009), Nr. 14, S. 228-234.
  • 6 Hierzu werden Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien (PIIGS) gezählt.
  • 7 Deutsche Bundesbank: Zahlungsbilanz nach Regionen, Ergänzende Tabellen zur Statistischen Sonderveröffentlichung 11, Frankfurt a.M., August 2011.
  • 8 Ebenda.
  • 9 Slowenien trat der Währungsunion 2007, Zypern und Malta 2008, die Slowakei 2009 und Estland 2011 bei. Erst seit 2011 hat die EU 17 Mitgliedsländer. Um eine zeitliche Entwicklung wenigstens über wenige Jahre darstellen zu können, wurden die Leistungsbilanzen der späteren Mitgliedsländer bereits ab 2007 der Eurozone zugeordnet.
  • 10 H. Flassbeck: Deutschland spaltet die Währungsunion, in: FocusMoney vom 11. März 2009.
  • 11 G. Erber: Dichtung und Wahrheit – Deutschlands Position bei Lohnstückkosten, Extrahandel und realen Wechselkursen in der Eurozone – Was sagt die Statistik?, in: Ifo-Schnelldienst, 65. Jg. (2012), Nr. 5, S. 20-34.
  • 12 G. Erber: Deutsch-chinesische Wirtschaftsbeziehungen: Chancen und Risiken, in: DIW-Wochenbericht, 78. Jg. (2011), Nr. 50, S. 3-7.
  • 13 B. Rürup, D. Heilmann: Fette Jahre – Warum Deutschland eine glänzende Zukunft hat, München 2012.
  • 14 Daten aus CIA World Fact Book und vom IWF.

Title:Aberrations and Confusions over the Current Account Statistics

Abstract:In the current crisis the current account surplus and deficit position of single member countries has been considered to be a key indicator of the internal imbalances of the eurozone. German current account surplusses are confronted with current account deficits in the GIIPS countries. But Germany‘s current account surplus vis-à-vis these countries has rapidly declined since the outbreak of the global economic and fi nancial crisis mostly caused by the drastic recession in these countries. Furthermore, the near-zero interest rate policy of the ECB has drastically reduced the interest payments from these countries to Germany.

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DOI: 10.1007/s10273-012-1405-0

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