Die Beschlüsse des Euro-Gipfels vom Juni 2012 haben bei deutschen Ökonomen heftige Kritik ausgelöst. Der Autor fragt, welche Konsequenzen es gehabt hätte, wenn die Ratschläge der Ökonomen schon in der Finanzkrise 2008 befolgt worden wären, und befürchtet, dass der Verzicht auf eine am Beispiel des Jahres 2008 orientierte Krisenbekämpfungsstrategie einen Teufelskreis auslöst, der zum Sprengsatz für die Währungsunion werden kann.
Wann kriegt Europa die Eurokrise in den Griff? Diese Frage stellen sich nicht nur die Bürgerinnen und Bürger der Eurozone. Auch außerhalb der Eurozone geht die Geduld mit Europa zu Ende. Zwar ist dort auch nicht alles Gold, was glänzt, aber krisenhafte Zuspitzungen auf den Finanzmärkten in den USA sowie anderen entwickelten und sich entwickelnden Volkswirtschaften sind nicht zu beobachten. Befürchtet werden jedoch finanz- und realwirtschaftliche Ansteckungseffekte aus Europa. Entsprechend werden die Europäer, wie jüngst beim G20-Gipfel in Mexiko, zu entschlossenem Handeln gedrängt.
Warum kommen die Europäer dieser Aufforderung nicht nach? Zwei Gründe sind dafür verantwortlich:
- Die europäische Krisenbekämpfungsstrategie wird im Wesentlichen von ordnungspolitischen Vorstellungen dominiert,1 die von der Bundesregierung in den europäischen Gremien eingebracht werden.2 Danach ist die Krise allein eine Folge fundamentaler, hausgemachter Probleme in den Krisenländern. Folglich besteht die Krisenbekämpfungsstrategie darin, diese Probleme zu lösen. Da es sich dabei um fundamentale Probleme handelt, werden Ausdauer und Zeit benötigt. Eine schnelle Bewältigung der Krise ist daher nicht möglich, schon gar nicht mit den Mitteln, die immer wieder ins Spiel gebracht werden: ein stärkerer Einsatz der EZB oder eine verstärkte fiskalpolitische Integration, z.B. über die Einführung von Eurobonds.
- Selbst wenn man diese Mittel als für die Krisenbekämpfung notwendig erachten sollte, verfügt Europa nicht über die institutionellen Grundlagen, sie einsetzen zu können.
Beide Gründe verstärken sich gegenseitig. Solange Krisenbekämpfung als Lösung fundamentaler, hausgemachter Probleme interpretiert wird, bedarf es keiner Änderung der institutionellen Grundlagen in Europa.
In den letzten Jahren ist es aber in Europa zu einer Reihe institutioneller Entscheidungen gekommen, die der ordnungspolitischen Sicht widersprechen: Die Gründung der Rettungsschirme EFSF und ESM, der Verzicht auf eine weitere Beteiligung des privaten Sektors an Umschuldungsmaßnahmen sowie auf ein Insolvenzrecht für Staaten, der temporäre Ankauf von Staatsschuldtiteln durch die EZB, die unbegrenzten Langfristtender der EZB, sowie – als automatischer Stabilisator – die Target2-Salden innerhalb des Eurosystems. Stets bedurfte es aber einer (weiteren) dramatischen Zuspitzung der Krise, um Europa auf immer neuen Krisengipfeln in diese Richtung zu bewegen. Da aber die konzeptionellen Vorbehalte gegen diese Instrumente – insbesondere im größten Gläubigerland der Eurozone Deutschland – groß sind, werden sie nach ihrer Etablierung kritisiert und zerredet.3 Sie verlieren damit ihre Glaubwürdigkeit und werden nur halbherzig eingesetzt.4 Hinzu kommen die aus der Lender-of-last-resort-Literatur bekannten „Stigma“-Probleme, d.h. ein Land greift aus Sorge vor Stigmatisierung durch die Finanzmärkte auf die diversen Rettungsmechanismen erst dann zurück, wenn es den Marktzugang praktisch vollständig verloren hat. Folglich schwelt die Krise nicht nur weiter, sondern nimmt – weil ungelöst – an Schärfe immer mehr zu.
Die beiden Wochen vor und nach dem EU-Gipfel im Juni 2012 illustrieren diese Problematik in besonders eindrucksvoller Weise: Erst bekräftigt die Bundesregierung ihre Grundposition und lehnt eine weitere Vergemeinschaftung von Risiken ab. Dann beschließt der EU-Gipfel zumindest den Einstieg in diese Vergemeinschaftung in Form einer Bankenunion. Anschließend ist die Regierung einer Welle der Kritik ausgesetzt, weil sie gegen jene Grundposition verstoßen hat.
Im Folgenden wird am Beispiel der Finanzkrise 2008 gezeigt, dass Europa die Eurokrise nicht in den Griff bekommt, weil die artikulierte ordnungspolitische Grundkonzeption zur Bewältigung einer Krise nicht geeignet ist. Denn die Krise 2008 wurde gerade mit jenen Mitteln erfolgreich bekämpft, die heute strikt abgelehnt werden. Hinzu kommt als Besonderheit der Eurokrise, dass Europa nicht über die institutionellen Grundlagen verfügt, die Mittel einzusetzen, die in 2008 die Krise erfolgreich eingedämmt haben. Es fehlen in Europa eine Fiskal- und Bankenunion.
Diese institutionellen Grundlagen zu etablieren, hat jedoch allgemein-politische Auswirkungen – Stichwort Souveränitätsverzicht –, die weit über das hier im Mittelpunkt stehende ökonomische Problem „die Bewältigung der Eurokrise“ hinausgehen. Es ist deshalb nicht nur legitim, sondern es wäre auch konsequent, wenn die Wählerinnen und Wähler in einem oder in mehreren Mitgliedstaaten der Eurozone sagen würden: diese allgemein-politischen Auswirkungen gehen zu weit. Dann lautet die Schlussfolgerung: die Währungsunion muss so schnell wie möglich beendet werden, selbst wenn dies hohe ökonomische Kosten implizieren sollte. Die umgekehrte Haltung, genauso legitim und konsequent, lautet, für diese institutionellen Änderungen auch allgemein-politisch zu werben, um ein erfolgreiches Krisenmanagement gestalten und die Währungsunion auf eine solide Grundlage stellen zu können.
Diese Alternativen werden jedoch kaum thematisiert, weil die bisher verfolgte Krisenbekämpfungsstrategie einen „free lunch“ suggeriert: Danach ist, sofern die ordnungspolitische Konzeption strikt angewandt wird, zur Bewältigung der Krise weder eine vertiefte Integration, noch die Aufgabe der Währungsunion notwendig – und das alles zu Null Kosten (die Anpassungskosten in den Krisenländern nicht einberechnet, da sie unabhängig vom Währungsregime zu tragen sind). Es ist nicht verwunderlich, dass diese Strategie beim Wähler sehr beliebt ist, und die von der Krise immer wieder neu erzwungenen Rettungspakete und geldpolitischen Maßnahmen als ökonomisch unnötig und daher politisch motiviert angesehen werden. Da es aber bekanntermaßen keinen „free lunch“ gibt, steigen die Kosten der beiden anderen Alternativen, je länger wir uns dieser Illusion hingeben und auf entschlossenes Handeln, so oder so, verzichten.
Die ordnungspolitische Konzeption der Eurokrisenbekämpfung
In jeder Finanzkrise bestimmt der Gläubiger die Richtlinien der Krisenbewältigungsstrategie. Der größte Gläubiger in der Eurokrise ist die Bundesrepublik Deutschland. Deshalb bestimmt Deutschland das konzeptionelle Fundament der europäischen Krisenpolitik. In ihrer Regierungserklärung vom 27. Juni 20125 hat die Bundeskanzlerin die Grundelemente dieser Konzeption besonders klar herausgearbeitet, indem sie eine nahezu unkonditionierte Absage an sogenannte Eurobonds formulierte, also an eine gemeinschaftliche Haftung aller Euroländer für die Schulden aller Euroländer. Denn Eurobonds überdecken die fundamentalen Probleme, statt sie zu lösen. Ja, sie verstärken die fundamentalen Probleme, also die zu hohe Staatsverschuldung und die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit, die die Krise verursacht haben. Denn sie schwächen den Anreiz für Länder, die über ihre Verhältnisse leben und unsolide wirtschaften, ihre Politik zu ändern, also Staatsschulden abzubauen und die Wettbewerbsfähigkeit über Strukturreformen wiederherzustellen. Dies liegt daran, dass Eurobonds die in der Eurozone seit Ausbruch der Krise entstandenen Zinsunterschiede wieder einebnen würden. Gleiche Zinssätze werden aber als eine zentrale Ursache der Krise angesehen, da sie die Krisenländer zu einer höheren Staats- bzw. Privatverschuldung verleitet haben. Die entstandenen Zinsunterschiede über den Umweg der Eurobonds wieder auszugleichen, wäre daher ökonomisch kontraproduktiv. Vor diesem Hintergrund ist es nur noch ein zusätzliches, aber eigentlich nicht wichtiges Kontra-Argument, dass Eurobonds unter den gegenwärtigen institutionellen Bedingungen abzulehnen sind, weil Haftung und Kontrolle in einem Missverhältnis stehen.
Die Regierungserklärung spiegelt die Auffassungen vieler deutscher Ökonomen wider, die seit Beginn der Eurokrise davor warnen, sich von den Finanzmärkten erpressen zu lassen und den Ordnungsrahmen der Währungsunion weiter auszuhöhlen. Eine Schuldenkrise lässt sich nicht durch neue Schulden bekämpfen. Grundfalsch wäre es auch, dem Drängen angelsächsischer Interessenvertreter und Ökonomen für eine schnelle und große Lösung nachzugeben, also z.B. Eurobonds einzuführen. Hausgemachte Probleme müssen auch zu Hause gelöst werden. Der Verweis auf Ansteckungseffekte und dem dann möglichen Zusammenbruch des Euro hält einer wissenschaftlichen Überprüfung ohnehin nicht stand. Entsprechend sind mit der Befolgung ordnungspolitischer Grundsätze auch praktisch keine Risiken für Deutschland, den deutschen Steuerzahler oder Bankeinleger verbunden. Risiken weisen nur Rettungspakte und – in potenzierter Form – Eurobonds auf. Und abgesehen von ökonomischen Argumenten: rechtlich ist die Einführung von Eurobonds ohnehin nicht möglich.
Der EU-Gipfel vom 29. Juni 2012 und seine Folgen
In den Wochen vor dem EU-Gipfel hatte sich die Krise wieder einmal erheblich zugespitzt. Die Zinssätze für spanische und italienische Staatsschuldtitel erreichten eine Höhe, die mittelfristig weder mit der Solvenz beider Staaten noch mit einer wirtschaftlichen Erholung in diesen Ländern vereinbar ist. Gleichzeitig gerieten in beiden Ländern die Bankensysteme unter immer stärkeren Refinanzierungsdruck. Vor diesem Hintergrund stimmte die Bundeskanzlerin zumindest dem Einstieg in eine gemeinschaftlich getragene Bankenrekapitalisierung (Haftung) einschließlich europäischer Bankenaufsicht (Kontrolle) zu.6 Während sie damit formal im Rahmen der von ihr im Bundestag vertretenen Position blieb, weil Haftung und Kontrolle zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden, stand der Inhalt der Brüsseler Entscheidung im offenen Widerspruch zu der Grundkonzeption, die sie zwei Tage zuvor skizziert hatte. Weitere fünf Tage später reagierten 172 deutschsprachige Ökonomen auf diese Zustimmung in Form eines offenen Briefes an die Mitbürger, in dem zum Protest gegen die EU-Gipfel-Entscheidung aufgerufen wird.7 Er enthält – neben allgemein politischen Stellungnahmen, die hier umkommentiert bleiben, weil sich dieser Beitrag allein der ökonomischen Analyse widmen soll – praktisch alle Elemente der ordnungspolitisch geprägten Grundposition. Insofern ist der Brief als Ausdruck der Enttäuschung über die Bundesregierung zu werten, die – so steht es im Einleitungssatz des Briefes – „sich gezwungen sah“, falsch zu entscheiden, also gegen jene ordnungspolitischen Grundsätze, der sie doch so vehement zuzustimmen schien.
Die Enttäuschung der Unterzeichner ist nachvollziehbar, aber die Bewertung ist falsch. Die Bundesregierung entschied beim Gipfel gegen diese Grundsätze, weil sie zur Eindämmung einer Krise ungeeignet sind. Es bedurfte nur wieder einmal einer enormen Zuspitzung der Krise, die alle Gipfelbeteiligten dazu zwang, wenigstens rudimentär jene institutionellen Bedingungen zu schaffen, auf deren Basis es zumindest möglich wäre, die Krise erfolgreich zu managen. Konkret bedeutet dies: die Zinssätze für Krisenländer nicht auf ein Niveau ansteigen zu lassen, das weder mit Wirtschaftswachstum noch mit langfristiger Solvenz von Staaten und Banken vereinbar ist.
Ordnungspolitik und Finanzkrise – das Beispiel 2008
Die Finanzkrise 2008 illustriert, dass die erfolgreiche Bekämpfung einer Krise genau jener Instrumente bedarf, die ordnungspolitisch kategorisch abgelehnt werden. Damals gab die Bundesregierung eine Garantieerklärung für die Sicherheit aller Einlagen bei deutschen Banken ab. Damit wurde aus einer einzelwirtschaftlichen Haftung der Banken eine gemeinschaftliche Haftung des deutschen Steuerzahlers. Diese Garantieerklärung wurde zudem unkonditioniert abgegeben: keiner Bank, auch nicht der schlechtesten Bank, wurde ein Anpassungs-, Spar- und Strukturprogramm vorgeschrieben. Sowohl von der Dimension als auch von ihrer Ausgestaltung ist dieser Rettungsschirm also umfassender als alles, was in der Eurokrise in den letzten Jahren diskutiert wurde.
Standen Haftung und Kontrolle damals in einem ausgewogenen Verhältnis? Ja, kann man argumentieren, weil alle deutschen Banken der Bankenaufsicht unterliegen, die die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und die Bundesbank gemeinsam ausüben. Nein, weil Krise und Garantieerklärung gerade zeigten, dass diese Kontrolle nicht wirksam (genug) war. Sonst hätte es keinen Anlass gegeben, eine Garantie abzugeben. Zum Zeitpunkt der Garantieerklärung standen somit Haftung und Kontrolle in einem offensichtlichen Missverhältnis. Und dass die Probleme im deutschen Bankensektor – gerade bei den unmittelbaren Problembanken – auch hausgemacht waren: zu schlechte Kredite, zu extreme Fristentransformation, zu wenig Eigenkapital, zu wenig Liquidität, ist ebenfalls kaum zu bestreiten. Dennoch wurde in Form eines Befreiungsschlages gehandelt. Die Gefahr von Ansteckungseffekten, forciert durch die Unsicherheit über die Hypo Real Estate, dem Griechenland-Äquivalent des deutschen Bankensektors von 2008, war schlicht zu groß.
Die Gemeinschaftshaftung, zusammen mit anderen Instrumenten und Maßnahmen, wie z.B. dem Versprechen, keine systemrelevante Bank Konkurs gehen zu lassen oder massiven Liquiditätsspritzen der Europäischen Zentralbank, sorgte dafür, dass sich Banken, unabhängig von ihrer Bonität, Liquidität zum gleichen niedrigen Zins leihen konnten. Dies war gerade ein Ziel der Rettungsmaßnahmen, denn es war klar, dass Banken, die sich in Schwierigkeiten befanden, einen Zinsanstieg nicht hätten verkraften können. Zudem sehen in der Krise Anleger in einem steigenden Zins keinen das Risiko ausgleichenden Faktor, der sie zur Kreditvergabe ermutigt, sondern ein Signal für ein hohes Risiko, das sie von der Kreditvergabe abhält. Die Liquiditätsklemme, die dem Bankensystem 2008 drohte, hätte sich daher ohne Garantieerklärung weiter verschärft, mit erheblichen Folgen für die Realwirtschaft, also für Wachstum und Beschäftigung. Dies hätte wiederum negative Rückkoppelungen auf Solvenz und Liquidität der Banken gehabt. Ein Teufelskreis drohte zu entstehen.
Die Bekämpfung der Finanzkrise 2008 – eine ordnungspolitische Bewertung
Die Bekämpfung der Finanzkrise 2008 verstieß elementar gegen ordnungspolitische Grundsätze, weil sie die einzelwirtschaftliche Haftung aushebelte. Der Anreiz für eigenverantwortliches Handeln der Banken wurde erheblich geschwächt. Dies gilt nicht nur für die Garantieerklärung für Bankschulden gegenüber Nicht-Banken, sondern auch für alle anderen Maßnahmen, die 2008 ergriffen wurden, um die Krise zu meistern.
Die Garantieerklärung war und ist auch mit Kosten verbunden. Der Steuerzahler hat Verluste erlitten und er haftet immer noch für Milliarden von Euro, die in den Büchern diverser Bad Banks und anderer Banken mit staatlichem bzw. verstaatlichtem Kapital stehen.8 Und schließlich wurde mit keiner Maßnahme der Krisenbekämpfung auch nur ein einziges fundamentales Problem des Bankensektors angegangen oder gar gelöst. Weder verbesserte sie unmittelbar die Kreditvergabepraxis der deutschen Banken, noch zwang sie die Banken, den Grad der Fristentransformation einzuschränken bzw. mehr Eigenkapital oder Liquidität zu halten. Dennoch gab es keinen Aufruf deutscher Ökonomen, gegen diese Maßnahmen zu protestieren. Dabei bedarf es nur einiger Änderungen, um die jüngste Stellungnahme der 172 Ökonomen zur Eurokrise auf die damalige Situation anzuwenden (vgl. Kasten 1).
Von einer erfolgreichen Erpressung der Finanzmärkte wurde damals ebenfalls nicht gesprochen. Und trotz der gewaltigen Höhe der Garantie – im September 2008 belief sich die Verschuldung des deutschen Bankensystems gegenüber Nicht-Banken auf 2620 Mrd. Euro – sah niemand die Kreditwürdigkeit Deutschlands als gefährdet an.
Kasten 1
Liebe Mitbürger,
die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin und der Finanzminister gezwungen sahen*, waren falsch. Wir, Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftler der deutschsprachigen Länder, sehen den Schritt in eine kollektive Haftung für die Schulden der deutschen Banken mit großer Sorge. Die deutschen Bankschulden (gegenüber Nicht-Banken: 2620 Mrd. Euro) sind mehr als eineinhalb mal so groß wie die Staatsschulden (1578,8 Mrd. Euro). Die Steuerzahler, Rentner und Sparer bei bislang noch soliden Banken dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden, zumal bei einigen Problembanken riesige Verluste aus der Finanzierung der inflationären Wirtschaftsblasen in den USA, in Irland, in den südlichen Euroländern sowie in Osteuropa absehbar sind. Banken müssen scheitern dürfen. Wenn die Schuldner nicht zurückzahlen können, gibt es nur eine Gruppe, die die Lasten tragen sollte und auch kann: die Gläubiger selber, also die Einleger und Kreditgeber dieser Banken, denn sie sind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen, und nur sie verfügen über das notwendige Vermögen.
Die Politiker mögen hoffen, die Haftungssummen begrenzen und den Missbrauch durch die Bankenaufsicht verhindern zu können. Das wird ihnen aber kaum gelingen, solange die Problembanken so wichtig sind. Wenn die Bundesregierung der Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden grundsätzlich zustimmt, wird sie immer wieder Pressionen ausgesetzt sein, die Haftungssummen zu vergrößern oder die Voraussetzungen für den Haftungsfall aufzuweichen. Streit und Zwietracht zwischen Staat und Banken, sowie zwischen soliden und schwachen Banken, sind vorprogrammiert. Weder das deutsche Finanzsystem noch die deutsche Wirtschaft als solche werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet; geholfen wird statt dessen der Frankfurter Börse, den Frankfurter und Münchner Großbanken – auch einigen anderen Investoren in Deutschland – und einer Reihe maroder Landesbanken, die nun weiter zu Lasten der Bürger, die mit all dem wenig zu tun haben, ihre Geschäfte betreiben dürfen.
Die Sozialisierung der Schulden löst nicht dauerhaft die aktuellen Probleme; sie führt dazu, dass unter dem Deckmantel der Solidarität einzelne Gläubigergruppen bezuschusst und volkswirtschaftlich zentrale Investitionsentscheidungen verzerrt werden.
* Änderungen gegenüber dem aktuellen Ökonomen-Aufruf kursiv.
Gemeinschaftliche Haftung und Krisenbekämpfung
Die Garantieerklärung war, gemeinsam mit anderen Instrumenten und gemessen an ihrem Ziel, ein voller Erfolg: Die Finanzkrise wurde rasch überwunden. Die gemeinschaftliche Haftung war keine Scheinlösung, sondern hatte reale Wirkungen. Sie war nicht kostenfrei. Aber dass die Verluste wesentlich höher gewesen wären, wenn Staat und Zentralbank nicht gehandelt hätten, ist kaum zu bezweifeln. Das Beispiel zeigt: es ist prinzipiell möglich, Finanzkrisen mit einem Befreiungsschlag, mit einer Gemeinschaftshaftung, schnell und erfolgreich zu bekämpfen.
Wie ist das möglich, wenn aus ordnungspolitischer Sicht doch jede Finanzkrise fundamental gerechtfertigt ist, der Markt in der Krise also endlich jene fundamentalen Probleme deutlich macht, die er zuvor – aus welchen Gründen auch immer – nicht gesehen hat?9 Die Antwort lautet: Der größte Teil einer Finanzkrise ist nicht fundamental gerechtfertigt, sondern stellt in seinem Kern eine Vertrauenskrise dar.10 Dies heißt nicht, dass Fundamentalfaktoren irrelevant sind. Im Gegenteil: Für den ursprünglichen Verlust an Vertrauen gegenüber einzelnen Schuldnern gibt es durchaus fundamentale Gründe oder Anhaltspunkte. Aber eine Finanzkrise geht weit über jene Gründe hinaus. Denn in der Krise wird Kreditnehmern der Kredit entzogen, nicht weil die Gläubiger wissen, dass sie insolvent sind, sondern weil sie dies befürchten, und sei es nur, weil ein anderer Schuldner mit ähnlichen „fundamentalen“ Charakteristiken Insolvenz anmelden musste. In einem solchen Umfeld wirkt eine Vergemeinschaftung von Risiken beruhigend, weil das Solvenzrisiko für die Gemeinschaft als Ganzes praktisch Null ist. Damit muss die Gemeinschaft zwar den Ausfall jener Schuldner kompensieren, die wirklich insolvent sind, aber sie vermeidet den Ausfall von Schuldnern, die allein aufgrund von Ansteckungseffekten, d.h. der Sorge um die Solvenz und die entsprechende Illiquidität in die Insolvenz getrieben werden.11 Deshalb sind es – aus ordnungspolitischer Sicht paradoxerweise – die soliden Banken, die von einer Gemeinschaftshaftung profitieren, weil sie von diesen Ansteckungseffekten verschont bleiben.12 In der Krise 2008 waren daher auch nicht Problembanken, die Großbanken oder die Börse Auslöser der Garantieerklärung, sondern die Sparkassen, die in der Woche zuvor zwar geringfügige, aber doch ungewöhnliche Mittelabflüsse registrierten. Die Garantie wirkt, weil sie den Anlegern – und das heißt: den Sparern – Vertrauen einflößt. Das ist exakt das Mittel, das man in einer Vertrauenskrise einsetzen muss.
Aber was ist mit den fundamentalen Problemen, die zu einer Krise führen? Sie müssen angegangen werden, aber erst nachdem die Vertrauenskrise überwunden ist. Auch hier ist die Finanzkrise 2008 ein gutes Beispiel: Basel III, der Dodd Frank Act in den USA sind Maßnahmenpakete, die das Übel – zu viele schlechte Kredite, zu viel Fristentransformation, zu wenig Eigenkapital und Liquidität – an der Wurzel packen sollen. Dabei sind zum Teil lange Anpassungsfristen vorgesehen, weil sich fundamentale Probleme eben gerade dadurch auszeichnen, dass sie sich nicht von heute auf morgen lösen lassen. Es herrscht sogar weitgehend Einigkeit darüber, dass der Versuch, das (ordnungspolitisch) Richtige überhastet zu tun, kontraproduktiv wirken könnte. Eine schlagartige, durchgreifende Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen an Banken, um ein Beispiel zu nennen, hätte zu einer Kreditklemme für den realen Sektor, also Unternehmen, gerade mittelständische Unternehmen, und Haushalte geführt und damit die Krise weiter verschärft.
Dabei wissen wir nicht, ob die neuen Instrumente und Kontrollen so wirksam wie erhofft sein werden. Wir wissen auch nicht, ob nicht doch negative Anreizwirkungen der Krisenbekämpfung in der Zukunft dafür sorgen werden, dass Banken höhere Risiken eingehen können, weil ihre Gläubiger wissen, dass sie letztendlich doch nicht haften müssen. In jedem Fall sprechen alle Erfahrungen dafür, dass selbst die fundamentalsten Änderungen bei Bankenaufsicht und -regulierung Krisen nicht für alle Zeiten verhindern können. Dennoch kam keiner der politisch Verantwortlichen auf die Idee, den Einsatz jener Instrumente, die die Krise erfolgreich managten, an die Umsetzung jener anderen Instrumente zu knüpfen, die die fundamentalen Probleme bewältigen sollen. Die Aussicht, morgen wieder mit einer Krise konfrontiert sein zu können, führte nicht zu der Schlussfolgerung, unser marktwirtschaftliches System schon heute in den Finanzkollaps abdriften zu lassen.
Schließlich stand die Garantieerklärung auf rechtlich tönernen Füßen. Niemand weiß bis heute, was sie eigentlich bedeutet. De facto gibt es also einen rechtlich fragwürdigen, unkonditionierten, sowie weder zeitlich noch vom Volumen her begrenzten Rettungsschirm für den deutschen Bankensektor. In der Zwischenzeit sind die Einlagen der Nicht-Banken bei deutschen Banken von 2620 Mrd. Euro im September 2008 auf 3052 Mrd. Euro im April 2012 gestiegen.
Schlussfolgerungen aus der Finanzkrise 2008 für die Eurokrise
Die globale Finanzkrise im engeren Sinn war nach sechs Monaten überwunden. Die Eurokrise befindet sich im dritten Jahr und ein Ende ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: die Krise wird immer schlimmer. Warum? Ein Grund ist offensichtlich: die institutionellen Bedingungen für die Nutzung jener Instrumente, die 2008 die Krise entschärften, sind in einem entscheidenden Punkt nicht vorhanden: die Eurozone ist kein Staat, der gemeinschaftlich Haftung und die sich daraus ergebenden Risiken zu tragen in der Lage wäre, einschließlich der Risiken der gemeinsamen Zentralbank. Darauf weisen die Kritiker von Rettungsschirmen und Eurobonds zu Recht immer wieder hin.13
Aus dieser Feststellung lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen. Die erste Schlussfolgerung lautet, dass das Experiment einer „staatenlosen Währung“14 gescheitert ist und beendet werden sollte, weil sie unter den Bedingungen, die bei ihrer Einführung geschaffen wurden, nicht krisenresistent ist. Allerdings bleibt richtig, dass die Eurozone zwar kein gemeinsamer Staat, aber ein hochintegrierter, also gemeinsamer Wirtschaftsraum ist. Dies gilt gerade für den Finanzsektor.15 Deshalb muss man, um diese Position bewerten zu können, auch ihre Kosten berücksichtigen, d.h. den möglichen Konkurs von Banken und Eurostaaten, der hohe Verluste für deutsche Banken und andere Finanzintermediäre implizieren würde. Dies würde die Stabilität dieser Institute erheblich schwächen und hätte daher dramatische Folgen für alle Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei deutschen Banken, Pensionskassen, und anderen Intermediären Einlagen halten oder andere Forderungen aufgebaut haben. Folglich gilt: die Verwerfungen auf den Finanz- und Bankenmärkten, die ein Ende der Währungsunion auslösen würde – der Konkurs von Lehman Brothers wäre dagegen eine Lapalie16 – lassen diese Schlussfolgerung ökonomisch als unverantwortlich erscheinen; aber es handelt sich um eine konsistente Position.
Die zweite Schlussfolgerung lautet, für eine stärkere ökonomische Integration in Europa „Stichwort: Bankenunion und Fiskalunion“ politisch zu werben. Wie es die Bundesbank in ihrer ersten Stellungnahme zur Währungsunion im Jahr 1990 voraussagte,17 muss eine solche Union kommen, um die gemeinsame Währung dauerhaft zu machen. Dass diese schwierig zu gestalten sein wird, ist dabei unstrittig. Aber die Integration ist erforderlich, weil nur dann Europa in der Lage wäre, jene Instrumente anzuwenden, die zur Eindämmung der Krise unerlässlich sind. Und über eine gemeinsame Wirtschaftspolitik wäre es möglich, nach Beendigung der Krise jene fundamentalen Probleme anzugehen, die es innerhalb der Eurozone gibt.
Ratschläge deutscher Ökonomen
Seit dem Beginn der Eurokrise im Frühjahr 2010 vertreten viele deutsche Ökonomen jedoch eine dritte Auffassung. Danach kann der Euro gerettet werden, ohne die europäische Integration vertiefen zu müssen, also gemeinschaftliche Haftung einzuführen. Im Gegenteil: er kann nur gerettet werden, wenn man auf eine weitergehende Integration verzichtet. Und das ordnungspolitische Credo liefert dafür die Konzeption, indem es einerseits alle Maßnahmen, die im Jahr 2008 zur Bekämpfung der Krise beigetragen haben, als schädlich und kontraproduktiv identifiziert, andererseits die Lösung fundamentaler Probleme zum zentralen Element der Krisenbekämpfung erhebt. Die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen zur Bekämpfung der Krise lauteten daher:
- die No-bailout-Klausel des Maastrichter Vertrages strikt anwenden und keine EZB-Kredite an Staaten zu vergeben,
- eine Insolvenzordnung für Staaten bzw. eine Beteiligung des privaten Sektors an Umschuldungsmaßnahmen einführen,
- Strukturreformen und Sparpakete in den Krisenländern gestalten und umsetzen,
Die Bundesregierung folgte diesen Ratschlägen und setzte sie zunächst auch in Europa durch. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Jahr 2008 konnte dieser Politikansatz jedoch nicht funktionieren. Was wäre 2008 passiert, wenn
- man keine Garantieerklärung abgegeben und keinen Rettungsschirm über das Bankensystem gespannt hätte,
- die EZB den Banken keine Liquidität zur Verfügung gestellt hätte, sowie
- die politische Führung mitten in der Krise ankündigt hätten, Problembanken leichter in Konkurs gehen zu lassen?
Die Krise hätte sich dramatisch zugespitzt und zur Kurskorrektur gezwungen. Und genau dies ist seit Mai 2010 in der Eurokrise zu beobachten: eine Serie von Kurskorrekturen, die jeweils mit einer Zuspitzung der Krise zusammenfielen. Dazu zählen die Gründung eines vorläufigen Rettungsschirms im Mai 2010 sowie die Gründung eines dauerhaften Rettungsschirms im Dezember 2010, die Staatsanleihenkäufe der EZB im Mai 2010 und die langfristige Refinanzierung des europäischen Bankensektors im Winter 2011/2012. Und ebenso wie nach dem EU-Gipfel Ende Juni 2012 gab es nach jeder Kurskorrektur heftige Kritik deutscher Ökonomen, weil sie die ordnungspolitischen Grundsätze verletzt sahen.
Angesichts der Tatsache, dass eine ähnliche Kritik im Herbst 2008 ausblieb, lässt sich schlussfolgern, dass Staaten und Staatsverschuldung anders bewertet werden als Banken und Bankverschuldung. Bei Banken mag es Liquiditätsprobleme geben, auch wenn es sie im ordnungspolitischen Denkgebäude „eigentlich“ nicht gibt, aber ganz bestimmt nicht bei Staaten: „Staaten, die eines Rettungsschirmes bedürfen, weil ihre Gläubiger von einem bloßen Liquiditätsengpass nicht zu überzeugen sind, müssen [daher] als insolvent betrachtet werden“ heißt es in der Stellungnahme deutscher Ökonomen zur Eurokrise vom Februar 2011.18 Wenn dieser Satz im Oktober 2008 auf die deutschen Banken angewandt worden wäre, gäbe es heute keine privatwirtschaftlich geführte Bank in unserem Land. Nicht weil alle privaten Banken insolvent waren, sondern weil die Zinswirkungen der Illiquidität sie über kurz oder lang in die Insolvenz geführt hätten.
Warum sehen viele deutsche Ökonomen bei Staaten keine Liquiditätsprobleme? Neben dem grundsätzlichen Argument, dass es eigentlich keine Liquiditätsprobleme ohne entsprechende Solvenzprobleme geben kann, verleitet die unterschiedliche Fristigkeit der Schuldtitiel zu falschen Schlussfolgerungen: Staatsschuldtitel sind nicht wie Bankeinlagen täglich fällig. Zudem verfügen Staaten im Vergleich zu Banken über erheblich größere Möglichkeiten, Einnahmen zu generieren und Ausgaben zu kürzen, d.h. den Konkurs trotz Liquiditätsproblemen zu verhindern. Das Gift der hohen Zinsen wirkt entsprechend langsamer als bei Banken. Dies reduziert den Druck, in einer Vertrauenskrise, die Staaten erfasst, genauso zu handeln wie in einer Bankenkrise. Aber das Gift wirkt! Wir sehen es im Teufelskreis von höheren Zinssätzen, niedrigerem Wirtschaftswachstum bzw. tieferer Rezession, höherer Staatsverschuldung trotz Sparanstrengungen, höheren Zinsen etc. Aus diesem Teufelskreis können sich die Krisenstaaten aus eigener Kraft ebenso wenig befreien wie es Banken in einer Vertrauenskrise können. Und da die Bankensektoren der Krisenstaaten direkt (weil sie entsprechende Staatsschuldtitel halten) oder indirekt (über die nachlassende Konjunktur) betroffen sind, springt die Vertrauenskrise vom Staats- auf den Bankensektor. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie im Fall Griechenlands – ein Land tatsächlich seine Verbindlichkeiten nicht mehr vollständig bedient, d.h. der Konkursfall eintritt.
Sprengsatz für die Währungsunion
Dieser Teufelskreis ist der Sprengsatz, der die Währungsunion in ihrem Kern bedroht. Und die brennende Lunte wird immer kürzer. Es ist schon sehr spät, aber ein kräftiger, starker Wasserstrahl könnte das Feuer noch löschen. Dazu fehlen aber sowohl die institutionellen Voraussetzungen als auch der Wille bzw. die Einsicht. Und beides ist auch auf die ordnungspolitische Grundkonzeption der Krisenbekämpfungsstrategie zurückzuführen, weil sie einerseits eine ganz andere Lunte, einen ganz anderen Sprengsatz der Währungsunion ausgemacht hat: die fundamentalen, strukturellen Probleme in den Krisenländern, eine nur schleppende Umsetzung der Reformprogramme sowie die Notwendigkeit der Anpassung nach Jahren der Misswirtschaft. Andererseits würden Rettungsschirme, Banken- und Fiskalunion, Zinssenkungen nicht helfen, sondern nur wieder das „Wachstum auf Pump“ ermöglichen. Hausgemachte Probleme müssen eben zu Hause gelöst werden.
Das klingt alles logisch und attraktiv für die Gläubigerstaaten, die bei den Rettungsschirmen, der Banken- und Fiskalunion in die Mithaftung für schwächere Staaten (und deren Banken) genommen würden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens, die Mithaftung ist nicht notwendig. Zweitens, und noch wichtiger: dem deutschen Steuerzahler, Rentner und Sparer – als Repräsentanten eines Gläubigerlandes – entstehen für den Fall des Konkurses eines oder mehrerer Euroländer, einer oder mehrer Banken im Euroraum bzw. im Fall des Austritts eines oder mehrerer Länder aus der Eurozone erst und nur durch die Mithaftung Kosten. Mit anderen Worten: die Euro-Rettung gibt es als „free lunch“. Kosten entstehen nur, weil die deutsche Politik von den Südländern „gezwungen wird“, dem gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum europäische Institutionen ohne Kontrolle zu geben. Dass wir in „der Falle sitzen“19, weil wir in einem hoch integrierten europäischen Wirtschaftsraum leben, der durch gegenseitige Forderungen und Verbindlichkeiten, durch massive Handelsverflechtungen, einen gemeinsamen Arbeitsmarkt, eine Angleichung der Konjunkturzyklen und eine gemeinsame Währung gekennzeichnet ist, bleibt unerwähnt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung jedem Euro, der in Rettungsschirme fließt, nachtrauert und Bürger „Wutbürger“ werden, wenn sie von wirtschaftswissenschaftlicher Stelle bescheinigt bekommen, dass die Euro-Rettung ein ökonomisch sinnloser und kontraproduktiver Transfer vom „fleißigen, soliden Norden“ in den „faulen, maroden Süden“ ist.
Noch einmal muss das Beispiel des Jahres 2008 herangezogen werden, um diese Sichtweise einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Was war der Auslöser der Krise? Eine US-amerikanische Investmentbank machte Konkurs. Die US-Regierung hatte ordnungspolitisch richtig gehandelt: Eine Bank konnte scheitern. Kein deutscher Steuerzahler, Rentner oder Bankkunde war in der Haftung. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den USA und Deutschland ist zwar sehr stark ausgeprägt, hat aber bei weitem nicht das Niveau der europäischen Integration erreicht. Vor allem haben Deutschland und die USA keine gemeinsame Währung. Dennoch waren die Kosten dieses Konkurses für den deutschen Steuerzahler erheblich. Über die direkten Ansteckungseffekte innerhalb des internationalen Finanzsystems, d.h. die Rettung diverser deutscher Banken, vor allem aber über die Haushaltsdefizite, die erforderlich waren, um die realwirtschaftlichen Folgen der Finanzkrise zu bekämpfen. Die Vorstellung, wir würden ohne Euro und ohne europäische Integration nicht in der Falle sitzen, ist also falsch. Was wäre die Implikation, wenn wir dem Vorschlag der 170 Ökonomen folgen würden, auf weitere Integrationsschritte verzichten und dafür spanische und italienische Banken scheitern lassen würden? Hätte das nur Folgen für die Wall Street, oder auch für den deutschen Steuerzahler, Rentner und Sparer? Wer diese Frage mit „nur für die Wall Street“ beantwortet, der verkennt, dass saldenmechanische und bilanzielle Zusammenhänge auch in der Krise gelten. Und über Ansteckungs- und Kreislaufeffekte gehen diese Zusammenhänge weit über den Kreis von Sparern hinaus, die direkt oder indirekt – über ihre Einlagen und Anlagen bei deutschen Banken und anderen Finanzintermediären – zur Finanzierung des privaten oder öffentlichen Sektors in den Krisenländern beigetragen haben. Das Beispiel zeigt, dass wir der Falle nicht dadurch entgehen können, dass wir auf eine weitere europäische Integration verzichten. Aus der Falle kämen wir nur, wenn wir zurück in die Nationalwirtschaft mit Zöllen und Kapitalverkehrskontrollen gehen, die die Nachfrage nach den von ihr produzierten Gütern selbst erzeugt. Es gibt keinen „free lunch“.
… und wieder grüßt der Krisengipfel
Europa kriegt die Krise nicht in den Griff, weil es Krisenmanagement auf der Grundlage einer ordnungspolitischen Konzeption betreibt, die Krise mit fundamentalen Problemen gleichsetzt und daher alle Instrumente, die in Nationalstaaten zur Krisenbekämpfung eingesetzt werden, als kontraproduktiv und unnütz verwirft. Zudem suggeriert sie, dass selbst in einem hochintegrierten Wirtschaftsraum wie der Eurozone, Steuerzahler, Rentner und Sparer der Gläubigerstaaten keine Krisenkosten zu tragen haben, sofern sie sich nur der gemeinsamen Haftung, dem zentralen Element der Krisenpolitik wie sie in Nationalstaaten praktiziert wird, entziehen. Folglich macht die Eurozone auch keine sichtbaren Anstalten, jene institutionellen Voraussetzungen zu treffen, die für eine erfolgreiche Krisenpolitik notwendig sind.
So taumelt die europäische Währungsunion von einer Zuspitzung der Krise in die nächste. Doch statt dies als Signal für eine grundsätzliche Kurskorrektur anzusehen, werden Finanzmärkte als Erpresser und Spekulanten dargestellt, die sich am Geld der soliden Länder bereichern wollen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Krisenländer und der Druck auf sie, sodass sie – getrieben von Ansteckungseffekten zwischen Banken und Staaten, Finanz- und Realwirtschaft – in eine Situation hineingeraten, in der Illiquidität zur Insolvenz wird. Dies erhöht wiederum das Misstrauen in die Stabilität der Währungsunion insgesamt.
Die Beschlüsse des Gipfels vom 29. Juni 2012 reihen sich ein in eine Serie von Bemühungen, Kurskorrekturen vorzunehmen. Doch die Schritte sind regelmäßig zu klein, um Vertrauen herzustellen und damit der Krise die Dynamik zu entziehen. Gleichzeitig werden sie wieder zerredet, weil sie der ordnungspolitischen Grundauffassung widersprechen. Und da diese den Bürgerinnen und Bürgern in den Gläubigerländern einen kostenfreien Weg zur Bewältigung der Krise suggeriert, wächst der politische Widerstand gegen jene Kurskorrekturen in den Gläubigerländern.
Die Spannungen, die sich aus Rezession, Arbeitslosigkeit, Staatsschulden- und Bankenkrise in den Krisenländern und dem wachsenden Widerstand gegen eine aktive Krisenpolitik in den Gläubigerländern ergeben, werden wohl weiter zunehmen. Das Positivszenario, dass ein starker Aufschwung in den Gläubigerländern, insbesondere in Deutschland, unterstützt von einem positiven weltwirtschaftlichem Umfeld und zusammen mit den Reformen in den Krisenländern selbst, für eine wirtschaftliche Erholung in der Eurozone insgesamt sorgt, wird zunehmend unwahrscheinlich. Stattdessen nehmen die Anzeichen zu, dass der rezessive Impuls aus den Krisenländern die Eurozone insgesamt und damit auch die Weltwirtschaft in den Abschwung führt. Für diesen Fall ist es wahrscheinlich, dass sich das politische Umfeld der Euro-Rettung in den Gläubigerländern weiter eintrübt, weil die Schuldenkrise des Südens für den Abschwung im Norden verantwortlich gemacht werden wird. Was dies für den Ausgang der Eurokrise bedeutet, mag man sich nicht ausmalen.
- 1 Genauer: sie wird von Vorstellungen dominiert, die sich auf die Ordnungspolitik berufen. Ob dies begründet ist, kann und soll hier nicht ausgeführt werden. Wie schwierig es ist, ökonomische Strömungen selbst 75 Jahre nach den Ereignissen politischen Entscheidungsprozessen zuzuordnen zeigt L. H. White: Did Hayek and Robbins Deepen the Great Depression?, in: Journal of Money, Credit and Banking, 40. Jg. (2006), H. 4, S. 751-768.
- 2 Vgl. Die Bundesregierung: Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel zum Europäischen Rat am 28. und 29.6.2012 in Brüssel, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2012/2012-06-27-bkin.html?nn=391832, (9.7.2012).
- 3 Vgl. z.B. C. Fuest, M. Hellwig, H.-W. Sinn, W. Franz: Zehn Regeln zur Rettung des Euro, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.6.2010, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/europas-schuldenkrise/appell-an-die-bundesregierung-zehn-regeln-zur-rettung-des-euro-1597057.html (9.7.2012); Wissenschaftlicher Beirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie: Überschuldung und Staatsinsolvenz in der Europäischen Union, Gutachten 01/11, Januar 2011; Plenum der Ökonomen: Stellungnahme zur EU-Schuldenkrise, 17.2.2011, http://www.wiso.uni-hamburg.de/lucke/?p=581 (9.7.2012).
- 4 Ein Beispiel stellt der Beschluss der EZB dar, auf dem Staatsanleihenmarkt zu intervenieren, auf den der damalige Bundesbankpräsident Weber einen Tag später mit der Warnung vor Stabilitätsrisiken reagierte; vgl. A. Weber: Kaufprogramm birgt erhebliche Risiken, Interview, Börsen-Zeitung, 11.5.2010.
- 5 Vgl. Die Bundesregierung, a.a.O.
- 6 Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird durchaus unterschiedlich gesehen, vgl. z.B. W. Münchau: Der Teufel steckt im Kleingedruckten, 2012, http://www.spiegel.de/wirtschaft/wolfgang-muenchau-merkel-hat-auf-dem-euro-gipfel-nichts-aufgegeben-a-842488.html (9.7.2012).
- 7 Vgl. Der offene Brief der Ökonomen im Wortlaut: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/protestaufruf-der-offene-brief-der-oekonomen-im-wortlaut-11810652.html (9.7.2012).
- 8 Vgl. N.N.: Bad Bank der HRE macht zehn Milliarden Euro Verlust, http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/bad-bank-der-hre-macht-zehn-milliarden-euro-verlust-a-842297.html (9.7.2012).
- 9 Diese Argumentation findet man z.B. bei O. Issing: Die Mär von der Spekulation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.5.2010.
- 10 Vgl. W. Bagehot: Lombard Street. Homewood, Ill., 1873.; C. W. Calomiris, C. M. Kahn: The Role of Demandable Debt in Structuring Optimal Banking Arrangements, in: The American Economic Review, 81. Jg. (1991), S. 497-513; sowie C. W. Calomiris, G. Gorton: The Origins of Banking Panics, in: R. G. Hubbard (Hrsg.): Financial Markets and Financial Crises, Chicago 1991, S. 109-173.
- 11 Vgl. dazu auch C. A. E. Goodhart: Myths about the LOLR, in: International Finance, 2. Jg. (1999), S. 339-360.
- 12 Vgl. dazu auch A. Winkler: The joint production of confidence: lessons from nineteenth-century US commercial banks for twenty-first-century Eurozone governments, in: Financial History Review, 18. Jg. (2011), H. 3, S. 249-276.
- 13 Allerdings haben sowohl die amerikanische Notenbank als auch die EZB Kredite an Institute (einschließlich Zentralbanken) außerhalb ihres jeweiligen Staaten- und Währungsgebietes vergeben.
- 14 Vgl. E. M. Truman: Unraveling the Euro Crisis, Prepared remarks before the National Economists Club, Peterson Institute for International Economics, 2012.
- 15 Vgl. Deutsche Bundesbank: Das deutsche Auslandsvermögen seit Beginn der Währungsunion, Monatsbericht Oktober 2008, S. 15-33.
- 16 Barry Eichengreen bezeichnete daher schon vor Jahren einen Kollaps der Eurozone als die „Mutter aller Finanzkrisen“. Vgl. B. Eichengreen: The euro: love it or leave it? 4.5.2010, http://www.voxeu.org/article/eurozone-breakup-would-trigger-mother-all-financial-crises (9.7.2012).
- 17 Vgl. Deutsche Bundesbank: Stellungnahme der Deutschen Bundesbank zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion in Europa, 19.9.1990, Monatsbericht Oktober 1990, S. 41-45.
- 18 Plenum der Ökonomen, a.a.O.
- 19 Vgl. H. Göbel, H. Steltzner: Im Gespräch: Ökonom Hans-Werner Sinn „Wir sitzen in der Falle“, 18.2.2012, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/im-gespraech-oekonom-hans-werner-sinn-wir-sitzen-in-der-falle-11653095.html.