Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) hat in einem jüngst veröffentlichten Sondergutachten seinen Vorschlag aus dem letzten Jahresgutachten, einen sogenannten Schuldentilgungsfonds einzuführen, wiederholt. Die Idee wird von einem europäischen Beirat des Institute for New Economic Thinking, dem neben einigen aktiven und ehemaligen Mitgliedern des SVR weitere bekannte europäische Ökonomen angehören, aufgegriffen und unterstützt. Während die Bundesregierung Verfassungsbedenken anführt, kommt ein vom SVR in Auftrag gegebenes Rechtsguthaben zu der sybillinischen Antwort, dass vor allem die betroffene Summe dafür entscheidend sei, ob der Fonds als verfassungsgemäß angesehen werden könne. Solange die finanziellen Risiken Deutschlands nicht zu groß werden, könne man wohl von Verfassungskonformität ausgehen.
Die Idee des SVR ist recht einfach: Alle Eurostaaten, die noch nicht in einem Anpassungsprogramm sind, übertragen schrittweise ihre Staatsschuld jenseits der 60% gemessen am Bruttoinlandsprodukt an den Fonds. Alle Staaten haften gemeinsam für diesen Fonds, was für Problemländer eine Senkung der Zinsen bedeutet, während für Deutschland und einige andere Länder die Zinsen steigen. Die Vergemeinschaftung soll den Druck auf die hochverschuldeten Länder senken und somit die Überlebensfähigkeit der Eurozone sichern. Alle Staaten sind weiterhin selbst für ihre Schulden verantwortlich, da sie gemäß ihres Schuldenanteils an den Fonds zahlen. Über einen Zeitraum von rund 25 Jahren soll auf diese Weise die Staatsschuld jenseits der 60% getilgt werden. Lediglich im Fall eines Zahlungsausfalls haften die anderen Mitgliedstaaten. Damit das nicht passiert, verpflichten sich die Schuldner-Staaten zur festen Zuweisung von Steuereinnahmen bzw. neuen Steuern für die Tilgung, hinterlegen eine Sicherung und legen verbindliche Reformpläne vor. Neue Schulden werden nicht durch den Fonds gedeckt. Wird ein Land später zahlungsunfähig, soll ein strukturiertes Insolvenzverfahren für Staaten eingeleitet werden.
Der Fonds erstreckt sich also lediglich auf die alten Schulden und soll dann nach deren Begleichung aufgelöst werden. Damit unterscheidet er sich fundamental von den ebenfalls diskutierten Eurobonds, mit denen eine dauerhafte gemeinsame Finanzierung von Staatsschulden in der Eurozone eingeführt würde. Um bei Eurobonds das Risiko von Fehlverhalten zu verringern, sieht ein Vorschlag des Brüsseler Think-Tanks Bruegel vor, dass nur für die ersten 60% der Verschuldung gemeinsam gehaftet wird, während darüber hinaus die Schuld national und nachgeordnet bedient werden muss. Diese sogenannten „red bonds“ hätten ein höheres Risiko und würden durch die höheren Zinsen disziplinierend wirken. Die gemeinsamen „blue bonds“ hingegen würden, wie beim Tilgungsfonds, von niedrigeren Zinsen profitieren und damit den stark verschuldeten Ländern helfen. In diesem Fall würde aber vermutlich auch Deutschland profitieren, weil davon auszugehen ist, dass die höhere Liquidität der gemeinsamen Bonds ihre Verzinsung senkt. Zugleich würde neben den US-Treasury-Papieren ein zweiter hochliquider globaler Markt für Staatspapiere entstehen, was mittelfristig den Euro zu einer dem US-Dollar vergleichbaren internationalen Währung machen würde. Dies ist ein wichtiger Vorteil von Eurobonds gegenüber dem Tilgungsfonds.
Während sich die beiden Instrumente darin unterscheiden, dass Eurobonds in die Zukunft gerichtet sind und der Tilgungsfonds lediglich die Altlasten abtragen will, haben beide auch Gemeinsamkeiten, die ihre Problemlösungsfähigkeit stark einschränken. Beiden ist gemein, dass sie wohl Anpassungen im europäischen Regelwerk erfordern, was die Ratifikation durch die Mitgliedsparlamente nötig machen würde. Das wird in jedem Fall Zeit brauchen und von daher nicht unmittelbar die Krise lösen. Und beide funktionieren nur, wenn die europäischen Regeln und Institutionen künftig besser greifen. Beide sehen vor, Abweichler vom vereinbarten Kurs zu bestrafen und keine nachträglichen Änderungen an Schuldengrenze oder Laufzeiten der Papiere zuzulassen. Die Zahlungen an den Tilgungsfonds werden als Anteile an der Wirtschaftsleistung bemessen, sie verringern sich also bei schlechter konjunktureller Lage und erhöhen sich, wenn alles gut läuft. Damit ist der Fonds flexibel, was sinnvoll ist, da starre Regeln weniger glaubwürdig sind. Dennoch erinnern die nötigen institutionellen Änderungen fatal daran, dass die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank seit Jahren derart agieren, wie es eigentlich nicht vorgesehen war.
Dem SVR ist nicht vorzuwerfen, dass sein Modell Anpassungen im Regelwerk erforderlich macht. Die entscheidende Frage ist aber, wieso neuerdings die Zusagen der Regierungen in der Eurozone glaubwürdig sein sollten. Die große Unsicherheit der Bürger und an den Finanzmärkten erklärt sich vor allem daraus, dass die Regierungen ihre Aussagen laufend verändern. Niemand kann sicher sein, ob das Volumen von EFSF und ESM vergrößert wird, und ob nicht noch mehr Druck auf die EZB ausgeübt wird, die Finanzierung der Schuldnerstaaten zu übernehmen. Die mangelnde Glaubwürdigkeit hat vor allem damit zu tun, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten offenbar nicht in der Lage sind, sich auf einen Weg aus der Krise, der durchdacht und konsistent ist, zu einigen.
Mit anderen Worten: So gut die Idee im Prinzip ist, so wenig realistisch erscheint sie. Das Problem in Europa ist weniger der Mangel an guten technisch machbaren Lösungen als vielmehr der Unwillen und das Unvermögen der Mitgliedstaaten, sich überhaupt zu einer Lösung durchzuringen. Mitglieder der Bundesregierung und andere hochrangige deutsche Politiker haben klar gemacht, dass sie weder den Tilgungsfonds noch gar Eurobonds wollen und eine stärkere Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik ablehnen. Sie wollen auch keine verstärkte Intervention der Europäischen Zentralbank und die Ausweitung des Aufkaufprogramms von Staatspapieren hoch verschuldeter Staaten. Da sie auch das Auseinanderbrechen der Eurozone (abgesehen von einem Austritt Griechenlands) zumindest offiziell nicht wollen, stellt sich die Frage, was denn die Lösung sein soll. Nur auf unabdingbare Strukturreformen und Sparbemühungen zu setzen, wird das akute Problem nicht lösen, weil sie Zeit benötigen.
Die Unfähigkeit der Regierungen, einen Plan zur Lösung der Krise vorzulegen, erhöht die Unsicherheit, steigert die Risikoprämien und zwingt letztlich die EZB zur Intervention, wenn das Auseinanderbrechen der Eurozone nicht riskiert werden soll. Das ist, wenn auch in anderer Form, natürlich ebenfalls eine Vergemeinschaftung der Haftung, weil die Konsequenzen der EZB-Politik alle Mitgliedstaaten gleichermaßen treffen. Letztlich führt also kein Weg daran vorbei, entweder eine stärkere fiskalische Integration zu erlauben oder das Ende der Eurozone – mit unabsehbaren Kosten auch für Deutschland – in Kauf zu nehmen. Zu glauben, Griechenland und vielleicht einige andere Südländer sollten eben einfach aus der Eurozone ausscheiden und alles würde gut, offenbart ein erschütterndes Maß an Unverständnis für die Situation.
Der Vorschlag des SVR ist ein Schritt in die richtige Richtung; ob er innenpolitisch in Wahlkampfzeiten vermittelbar ist und ob die glaubwürdigen Regeln, die dazu nötig sind, wirklich durchgesetzt werden können, ist eine andere Frage. Allzu optimistisch kann man nicht sein.