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Die freie Wahl der Grundschule ist ein bislang wenig diskutiertes bildungspolitisches Steuerungsinstrument in Deutschland. Vielmehr werden immer wieder andere Maßnahmen, insbesondere kleinere Klassen, als das geeignete, wenn auch sehr kostenintensive Instrument für die Verbesserung der Schulqualität genannt und gefordert. Erst als das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen im Jahr 2006 eine Änderung des Schulgesetzes verabschiedete, die die Auflösung der Grundschulbezirke zum Schuljahr 2008/2009 in allen Kommunen zur Folge hatte, erfuhr die freie Grundschulwahl mehr Aufmerksamkeit in Wissenschaft und Politik. Die Diskussion um die Auflösung der Schulbezirke wird jedoch nach wie vor sehr kontrovers geführt.

Die Befürworter betonen vor allem die Wahlfreiheit, also die Berücksichtigung der elterlichen Präferenzen. Auch die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Grundschulen wird als Chance zur Verbesserung der Schulqualität angesehen. Demgegenüber stehen jedoch die Gegner, die mit steigender ethnischer und sozialer Segregation als Folge der freien Schulwahl argumentieren. Unabhängig von dieser Diskussion kann die Schulwahl aber auch als Steuerungsinstrument eingesetzt werden, wenn sinkende Schülerzahlen die Schließungen von Schulen nahelegen.

Auswirkungen des demografischen Wandels

Die demografische Entwicklung spielt im Zusammenhang mit der freien Grundschulwahl, aber auch mit anderen bildungspolitischen Steuerungsinstrumenten in zweierlei Hinsicht eine zentrale Rolle. Zunächst geht aufgrund sinkender Geburtenzahlen die Zahl der einzuschulenden Kinder immer stärker zurück, so dass – zumindest kurzfristig – mehr Grundschulen für die Eltern zur Auswahl stehen, andererseits müssen die Anzahl der Schulen und die Größe des pädagogischen Personals langfristig an den Rückgang angepasst werden. Besuchten im Schuljahr 1998/1999 in Nordrhein-Westfalen noch rund 830 000 Kinder eine Grundschule, so wurden 2010/2011 nur noch ca. 663 000 Grundschüler gezählt. Infolgedessen sinkt im selben Zeitraum auch die Zahl der Bildungseinrichtungen, allerdings nicht im gleichen Umfang, so dass im Ergebnis kleinere Schulen entstehen, die gerade in weniger dicht besiedelten Gebieten

  • ein wohnortnahes Beschulungsangebot sicherstellen,
  • aber auch insgesamt, im Sinne einer „demografischen Rendite“, eine günstigere Lehrer-Schüler-Relation entstehen lassen.1

Daneben stellt die demografische Entwicklung die Politik auch deswegen vor große Herausforderungen, da sich das Bildungsniveau der Bildungsteilnehmer zunehmend ändert und immer heterogener wird.2 Die demografische Rendite könnte daher ceteris paribus dafür genutzt werden, dieser Entwicklung durch eine gezielte Förderung benachteiligter Kinder und Jugendlicher mit kleineren Klassen entgegenzuwirken.

Vieles deutet jedoch darauf hin, dass kleinere Klassen, d.h. eine höhere Lehrer-Schüler-Relation, zum einen sehr teuer sind und zum anderen alleine nicht ausreichen, um die Schulqualität für alle Beteiligten zu verbessern. In vielen internationalen Studien wird dieser Zusammenhang kritisch diskutiert. So fasst Hanushek3 277 Analysen zum Zusammenhang von Lehrer-Schüler-Relationen und der Leistung der Schüler zusammen. Lediglich 15% der 277 Schätzungen zeigen einen positiven und statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Lehrer-Schüler-Relation und der Leistung der Schüler. Bei 27% (20%) der Ergebnisse ist der Zusammenhang nicht signifikant oder nicht gegeben. Interessanterweise finden sich unter den Schätzungen sogar solche, die einen negativen Zusammenhang zwischen den Lehrer-Schüler-Relationen und den Leistungen der Schüler finden. Die Erhaltung möglichst vieler Schul­standorte und Lehrerstellen führt also nicht automatisch zu einer Erhöhung der Schulqualität. Fraglich ist daher, ob die mit der Aufrechterhaltung aller Standorte verbundenen (hohen) Kosten überhaupt Bildungserträge durch kleinere Klassen rechtfertigen können und ob nicht vielmehr weitere/andere Instrumente zur Steuerung eingesetzt werden müssten.

Wettbewerbssituation mit festen Grundschulbezirken

Die Idee fester und verbindlicher Grundschulbezirke besteht darin, Schülerströme auf bestimmte, wohnortnahe Schulen zu lenken und so eine optimale Verteilung der Bildungsteilnehmer zu erreichen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Zum einen wird sichergestellt, dass jeder Schüler auch in seine wohnortnächste Schule aufgenommen wird bzw. werden muss. Zum anderen wird so die Existenz des Schulstandortes mit den damit verbundenen Lehrer- und Personalstellen gesichert. Hierdurch wird jedoch der Wettbewerb zwischen den Grundschulen stark eingeschränkt. Außerdem mangelt es den Schulen an Anreizen, das eigene pädagogische Konzept zu hinterfragen und es gegebenenfalls zu verändern.

Vor diesem Hintergrund könnten insbesondere bildungsnahe Schichten dazu tendieren, den zuständigen Grundschulen auszuweichen. Eltern schulpflichtiger Kinder finden auch bei bestehenden Schulbezirken – auf Grundlage bestehender Schulgesetze und dort vorhandener Sonderregelungen – Wege, für ihre Kinder die Grundschule zu wählen, die ihnen als die „beste“ erscheint, d.h. diejenige, die das beste Unterrichts- und Förderkonzept aufweist und demnach die besten Bildungschancen für die Kinder bietet. Dies muss nicht zwingend die Gemeinschaftsgrundschule des zuständigen Schulbezirkes sein.

In Nordrhein-Westfalen gibt es zudem neben der Möglichkeit, Kinder auf Antrag an einer nicht zuständigen Gemeinschaftsgrundschule anzumelden, ein großes Angebot an öffentlichen Bekenntnisgrundschulen, die alternativ gewählt werden können. Kristen4 zeigt für die Stadt Essen, dass 2001 rund 11,5% der befragten deutschen Eltern eine andere als die zuständige Grundschule für ihr Kind wählten. Riedel et al. und Schneider et al.5 zeigen für Wuppertal ähnliche Ergebnisse. Rund 34% der Nicht-Muslime in Wuppertal wählten 2007 eine andere als die zuständige Gemeinschaftsgrundschule (vgl. Tabelle 1). Hingegen weisen Personen mit einem Migrationshintergrund bei bestehenden Grundschulbezirken eine deutlich geringere Wahlaktivität auf. Sie tendieren eher dazu in den zuständigen Gemeinschaftsgrundschulen zu verbleiben. In der Studie von Kristen wählten nur 4,3% der türkischen Eltern eine andere Grundschule für ihre Kinder. Bei den Muslimen in der Studie von Schneider et al. lag der Anteil der Wähler mit 28,4% zwar deutlich höher, war aber dennoch geringer als bei den Nicht-Muslimen (vgl. Tabelle 1). Durch die Wahlentscheidungen der bildungsnäheren Schichten könnte die Schülerschaft an den Grundschulen hinsichtlich der ethnischen und sozialen Zugehörigkeit tendenziell homogener werden, was ceteris paribus die soziale Ungleichheit und die Segregation verschärfen könnte.6

Tabelle 1
Besuch der nicht-zuständigen Schule in Wuppertal 2007 und 2008
  Alle Schüler Nicht-Muslime Muslime
  2007 2008 2007 2008 2007 2008
Besuch der nicht-zuständigen Schule (in %) 33,6 39,6 33,7 40,9 28,4 35,1
Entfernung zur zuständigen Schule (in m) 642,1 633,1 669 669,2 539,6 513,5
Schülerzahl 7012a 1979b 5556a 1520b 1456a 459b
Schulen 42 42        

a Schüler der ersten bis vierten Klasse. b Nur Erstklässler.

Quelle: K. Schneider, C. Schuchart, H. Weishaupt, A. Riedel: The Effect of Free Primary School Choice on Ethnic Groups. Evidence From a Policy Reform, in: European Journal of Political Economy, 28. Jg. (2012), H. 4, S. 430-444; zusammengestellt aus Tabelle 1 und 2.

Wettbewerb bei freier Grundschulwahl

Bei Aufhebung der Schulbezirke und der Möglichkeit der freien Schulwahl, zeigen auch Eltern mit einem Migrationshintergrund oder solche aus bildungsfernen Schichten ein aktiveres Wahlverhalten.7 Dies konnte für die Grundschulwahl in den Kommunen in Nordrhein-Westfalen ebenfalls bestätigt werden. So stieg in Wuppertal nach der Auflösung der Grundschulbezirke nicht nur der Anteil der nicht-muslimischen, sondern auch jener der muslimischen Kinder, die nicht die zuständige Grundschule besuchten, nämlich von 28,4% (2007) auf 35,1% im Jahr 2008 (vgl. Tabelle 1).

Für beide Gruppen, Nicht-Muslime und Muslime kann zudem in einem multivariaten Wahrscheinlichkeitsmodell gezeigt werden, dass nicht nur die Entfernung zur eigentlich zuständigen Schule eine wichtige Rolle bei der Wahl spielt, sondern auch die Schulqualität der gewählten Schule – hier gemessen an der Übergangsrate auf das Gymnasium.8

Ein weiteres Ergebnis ist, dass, anders als befürchtet, die ethnische Ungleichheit durch die Auflösung der Schulbezirke nicht zugenommen hat. Makles und Schneider9 können zum einen zeigen, dass die Segregation, d.h. die Ungleichverteilung der Schüler bestimmter ethnischer Gruppen auf die Schulen, bereits vor Aufhebung der Grundschulbezirke im NRW-Mittel auf einem hohen Niveau lag. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass es schon vor der Auflösung der Grundschulbezirke insbesondere zwischen türkischen und deutschen Schülern einen Trend zu steigender Segregation gab. Dieser Trend, das zeigt die Analyse, bleibt trotz der Auflösung der Schulbezirke unverändert. Die Segregation zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen hat sich über einen Zeitraum von acht Jahren, der sowohl die Zeit vor als auch die Zeit nach der Auflösung der Grundschulbezirke umfasst, nicht verändert. Die neue veränderte Wettbewerbssituation hat in Nordrhein-Westfalen also keine messbare negative Wirkung auf die Zusammensetzung der Schülerschaft.

Mehr noch; internationale Studien legen den Schluss nahe, dass durch die freie Wahl der Grundschule insgesamt (bei bildungsnahen und bildungsfernen Familien) die Nachfrage nach „guten“ Schulen steigt und nach „schlechten“ sinkt und somit der Wettbewerb zwischen den Schulen positiv beeinflusst wird.10 Gute Grundschulen sind sehr schnell überlaufen und schlechte leeren sich schnell.

Ausblick

Kurzfristig könnte in Deutschland die sinkende Nachfrage nach Grundschulplätzen genutzt werden, um durch frei werdende Kapazitäten neue Konzepte für die Unterrichtung und Förderung sozial benachteiligter Kinder zu etablieren. Die Infrastruktur der „schlechten“ bzw. nicht-nachgefragten Schulen könnte zudem genutzt werden, um beispielsweise Schulverbünde zu gründen, in denen die nicht nachgefragte Schule ein Nebenstandort der nachgefragten Schule wird und ihr erfolgreicheres pädagogisches Konzept übernimmt.

So können zum einen räumliche und personelle Engpässe an der nachgefragten Schule ausgeglichen und zum anderen Lehrerstellen am nicht nachgefragten Standort erhalten werden. Dies sichert nicht nur die Aufrechterhaltung der wohnortnahen Beschulung, sondern führt auch dazu, dass gute und nachgefragte pädagogische Konzepte schlechte überleben und weiter ausgebaut werden können. Langfristig werden jedoch bei verbindlichen Bildungsstandards das Überangebot und der Wettbewerb die Qualität an allen Schulen erhöhen. Schulen, die nicht-nachgefragt sind, werden entweder geschlossen – somit entscheiden die Präferenzen der Familien über mögliche Schließungen – oder, wie empirische Untersuchungen in anderen Ländern gezeigt haben, nehmen die Schulen den Wettbewerb positiv an. Sie versuchen dann ihre Qualität zu verbessern, um nicht zu viele Schüler zu verlieren und somit die eigene Existenz zu sichern. Letztendlich führt dies also zu einer Verbesserung der Schulqualität.11

  • 1 Vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2012, Bielefeld 2012, S. 227 f.
  • 2 Vgl. ebenda, S. 43 f.
  • 3 Vgl. E. A. Hanushek: Assessing the effects of school resources on student performance: an update, in: Educational Evaluation and Policy Analysis, 19. Jg. (1997), H. 2, S. 141-164.
  • 4 Vgl. C. Kristen: School choice and ethnic school segregation: Primary school selection in Germany, Münster u.a.O. 2005.
  • 5 Vgl. A. Riedel, K. Schneider, C. Schuchart, H. Weishaupt: School choice in German primary schools: How binding are school districts?, in: Journal for Educational Research Online 2, H. 1, S. 94-120; K. Schneider, C. Schuchart, H. Weishaupt, A. Riedel: The Effect of Free Primary School Choice on Ethnic Groups. Evidence From a Policy Reform, in: European Journal of Political Economy, 28. Jg. (2012), H. 4, S. 430-444.
  • 6 Vgl. z.B. E. A. Hanushek, J. F. Kain, S. G. Rivkin: New evidence about brown v. board of education: the complex effects of school racial composition on achievement, in: Journal of Labor Economics, 27. Jg. (2009), H. 3, S. 349-383; R. Allen: Allocating pupils to their nearest secondary school: the consequences for social and ability stratification, in: Urban Studies, 44. Jg. (2007), H. 4, S. 751-770.
  • 7 Vgl. J. S. Hastings, J. M. Weinstein: Information, school choice, and academic achievement: evidence from two experiments, in: The Quarterly Journal of Economics, 123. Jg. (2008), H. 4, S. 1373-1414.
  • 8 K. Schneider, C. Schuchart, H. Weishaupt, A. Riedel: The Effect ..., a.a.O.
  • 9 Vgl. A. Makles, K. Schneider: Segregation in primary schools – Do school districts really matter? Evidence from policy reforms, Schumpeter Discussion Paper, Wuppertal 2011; A. Makles, K. Schneider: Freie Wahl der Grundschule: Wie entscheiden sich Eltern und welche Konsequenzen hat die Schulwahl für die Segregation?, in: Die Deutsche Schule, H. 4, 2012.
  • 10 Vgl. z.B. C. M. Hoxby: School choice and school competition: evidence from the United States, in: Swedish Economic Policy Review, 10. Jg. (2003), H. 2, S. 9-65; J. S. Hastings, J. M. Weinstein, a.a.O.; D. N. Figlio, C. M. D. Hart: Competitive effects of means-tested school vouchers, NBER Working Paper, Cambridge MA 2010.
  • 11 Ebenda.


DOI: 10.1007/s10273-013-1479-3