Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Moderne Marktordnungen schützen den Verbraucher vor Schäden und sichern den Leistungswettbewerb und die Funktionsfähigkeit von Märkten. Wettbewerbsorientierte Verbraucherpolitik und verbraucherorientierte Wettbewerbspolitik ergänzen sich dabei. Die Verhaltensökonomik zeigt allerdings, dass Verbraucher nur eingeschränkt die ihnen im Wettbewerb angebotenen Alternativen erkennen und nutzen können. Allein eine umfassende Information hilft dabei nur wenig. Die Einsichten der Verhaltensökonomik erfordern daher eine Weiterentwicklung des bisher gängigen Leitbildes vom „mündigen und souveränen Verbraucher“ und der Instrumente der Verbraucherpolitik.

Lange Zeit galt in den Wirtschaftswissenschaften das Credo, dass eine gute Wettbewerbspolitik der beste Verbraucherschutz sei. Dahinter stand vor allem das Bild des perfekt informierten und ganz rational handelnden Verbrauchers, der bei funktionstüchti­gem Preis-, Qualitäts- und Innovationswettbewerb das für ihn richtige Angebot nicht nur vorfindet, sondern auch auswählt. In dieser (rein neoklassischen) Welt ist ein über Wettbewerbsregeln hinausgehender Schutz des Verbrauchers nicht notwendig. In einem ersten Schritt hin zu einer realistischeren Analyse von Märkten und Verbraucherentscheidungen haben Informations- und Neue Institutionenökonomik insbesondere Informationsasymmetrien, Informationssuch- und Trans­aktionskosten in den Blick genommen.1 Die Erkenntnisse der Informationsökonomik haben der Verbraucherpolitik in der EU und in Deutschland dazu gedient, eine Fülle von Informationspflichten etwa beim Fernabsatz, bei Verbraucherkredit- und Versicherungsverträgen zu statuieren. Hier wird argumentiert, dass der Verbraucher – wenn er nur ausreichend informiert wird – angemessen geschützt sei.

Die moderne Verhaltensökonomik2 im Verbund mit den Neurowissenschaften löst sich nun auch von der Annahme vollständiger Rationalität und fokussiert vor allem auf die begrenzten kognitiven Fähigkeiten von Akteuren bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung. Sie bietet damit das Potenzial, Entscheidungsverhalten auch von Verbrauchern besser zu verstehen und ein differen­ziertes Verbraucherleitbild ökonomisch zu fundieren. So haben etwa die Generaldirektion Gesund­heit und Verbraucher (SANCO) der Europäischen Kommission und die sowohl für den Wett­bewerbs- als auch den Verbraucherschutz zuständige US-amerikanische Federal Trade Commission (FTC), das britische Cabinet Office und das britische Office of Fair Trading (OFT) begonnen, in ihrer Arbeit verhaltensökonomische Einsichten (in unterschiedlichem Maß) zu berücksichtigen.3

Wettbewerb(spolitik) als notwendiger, aber nicht hinreichender Verbraucherschutz

Folgende (teilweise überlappende) Ziele von Markt­ordnungen lassen sich unterscheiden:

  1. den Markt konstituieren, d.h. dazu beitragen, dass ein Markt überhaupt entsteht und funktioniert und die Akteure den Anreiz haben, daran teilzunehmen („ob“);
  2. die Funktionsweise des Marktes verbessern, etwa Transaktionsaktionskosten reduzieren („wie“);
  3. Akteure vor Schäden schützen;
  4. Verteilungs- und Fairness-Ziele.

Zwingende staatliche Maßnahmen lassen sich aus ökonomischer Perspektive am einfachsten mit dem ersten Ziel rechtfertigen, persistentes Marktversagen zu verhindern. Die Funktionsfähigkeit von Märkten kann – bis hin zu vollständigem Marktversagen – klassischer­weise aufgrund von Marktmacht, Externalitäten, Informationsasymmetrien oder Koordinations­versagen beeinträchtigt sein.4 Von diesen Marktversagensformen bekämpft die Wettbewerbspolitik lediglich die Herbeiführung von Marktmacht (durch Kartellverbot und Fusionskontrolle) und deren Ausübung (durch die Missbrauchskontrolle). Hier ist der Verbraucher betroffen, weil er überhöhte Preise zahlen oder weniger Produktvielfalt, Qualität oder Innovation hinnehmen muss.

Aber auch die anderen Markt­versagensformen können, weil sie zu Ineffizienzen führen, – zumindest auch – den (potenziellen) Endverbraucher treffen. Daher kann die Wettbewerbspolitik auch aus ökonomischer Sicht „nur“ einen notwendigen, nicht aber hinreichenden Verbraucherschutz bieten. So ist etwa die Kontrolle allgemeiner Geschäfts­bedingungen (AGB) keine Antwort auf ein Marktmachtproblem, sondern versucht insbesondere das mögliche Problem zu lösen, dass hohe Transaktionskosten und Informationsasymmetrien Verbraucher bis hin zur adversen Selektion davon abhalten, Vertragsbedingungen individuell auszuhandeln.5

Wettbewerb macht komplementären Verbraucherschutz notwendig

Wettbewerb kann einen komplementären Verbraucherschutz erfordern. Dies zeigt sich besonders augenfällig in den Bereichen, die in den vergangenen Jahren etwa im Zuge des europäischen Binnenmarktprojektes liberalisiert wurden, wie z.B. auf den Telekommunikationsmärkten. Der Wett­bewerb hat hier für drastische Preissenkungen und Innovationen gesorgt und ehemalige Monopol­anbieter (teilweise) entmachtet. Gleichzeitig ist dem Wettbewerb inhärent, dass Anbieter gegen­über Wettbewerbern und Verbrauchern gewinnmaximierende Strategien verfolgen. Dazu können auch irreführende Werbung, bewusste Intransparenz,6 Täuschungen wie etwa sogenannte Kostenfallen im Internet7 und Kundenbindung durch hohe Wechselkosten gehören. Solche Strategien können sich im Wettbewerb insbesondere dann lohnen, wenn der Effekt auf die Reputation des jeweiligen Unternehmens eine geringe Rolle spielt und damit die disziplinierende Funktion des Wettbewerbs gering ist. Gäbe es in einem solchen Fall keine verbraucherschützende Regelung, könnte das Vertrauen in die Seriosität aller Angebote untergraben werden.

Verbraucherschutz kann damit – auch im Interesse seriöser Anbieter – die Funktionsfähigkeit von Märkten und den Leistungswettbewerb sichern und geht insoweit Hand in Hand mit der Wett­bewerbspolitik. Daher würde es zu kurz greifen, bei der Verbraucherpolitik lediglich von einer „Wirtschaftspolitik für die Nachfrageseite“ zu sprechen. Verbraucherschutz ist vielmehr notwendi­ger Teil einer Marktordnung. Neben der Funktionsfähigkeit kann Verbraucherschutz vor allem in kürzlich liberalisierten sowie im Gesundheits- und Sozialbereich (etwa bei Krankenversicherungen und privater Altersvorsorge) die Akzeptanz von Wettbewerbselementen erhöhen.8

Wettbewerbsfördernder Verbraucherschutz im Interesse aller Verbraucher

Wettbewerb kann Verbraucherschutz erfordern; umgekehrt sollte Verbraucherschutz die Strategien von möglichen Anbietern nicht derart einschränken bzw. ihre Kosten derart erhöhen, dass Preis- und Innovationswettbewerb zu Lasten vor allem auch der Verbraucher mit geringerem Budget behindert werden. Klassische Marktzutrittsschranken können insbesondere verbraucherpolitisch motivierte Anforderungen an die Qualifikation des Anbieters und an das Produkt sein. So bergen etwa EU-Pläne, in einigen Pflegeberufen faktisch das Abitur zu verlangen, das Risiko, das verfügbare Angebot an Pflegekräften zu senken. Aber auch andere Beschränkungen bei Werbung, Vertragsschluss, Vertrieb und nachvertraglichen Erfüllungspflichten können dem Interesse des Verbrauchers an niedrigen Preisen und Produktvielfalt zuwiderlaufen. So hätte beispielsweise die im Rahmen der EU-Verbraucherrechterichtlinie diskutierte Regelung, Anbieter bei Fernabsatzverträgen zu einer EU-weiten Lieferung bzw. Erbringung der Dienstleistung zu verpflichten, insbesondere für kleinere Anbieter den Rückzug aus Fernabsatzverträgen bedeuten können.

Die Verbraucher haben ein großes Interesse an angemessenen, kostenschonenden Lösungen, auch deshalb, weil sie von zusätzlichen Kosten betroffen wären. Beispiels­weise haben die restriktiven Vorschriften zu Verpackungsgrößen den Wettbewerb zwischen Anbietern in verschiedenen EU-Staaten und das Anbieten von bestimmten kleineren Größen zu Lasten des Verbrauchers verhindert. Nach der Liberalisierung durch die EU ist der Verbraucher besser gestellt; gleichzeitig sichert die Preisangabenverordnung im Zusammenspiel mit dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, dass für den Verbraucher über die Grundpreisangabe (Preis pro Mengeneinheit) die Vergleichbarkeit gewährleistet ist. Umgekehrt erlaubt die Größe und damit Attraktivität des EU-Binnenmarkts für Hersteller und Anbieter weltweit, dass die EU hohe Sicherheitsstandards für die im Binnenmarkt in Verkehr gebrachten Produkte durchsetzen kann, wie etwa bei der neuen EU-Spielzeugrichtlinie, die die Anforde­rungen an die chemische Sicherheit von Spielzeug erhöht hat.

Eine zu schnelle, zwingende staatliche Regelung kann verhindern, dass sich möglicherweise effiziente private Lösungen am Markt herausbilden. Gerade das Internet erlaubt es Anbietern, Nachfragern und Dritten am Markt, kostengünstig effektive Instrumente zum Abbau etwa von Informationsungleichgewichten zu entwickeln. So können Vorgaben für die Preisgestal­tung zur Erhöhung der Transparenz überflüssig sein, wenn Informationsintermediäre wie Internet­vergleichsportale (z.B. verivox für den Strombereich) die Preiskomplexität reduzieren. In den Bereichen des Verbraucherschutzes, in denen es nicht um die Gesundheit und Sicherheit von Verbrauchern geht, sondern um die Funktionsfähigkeit von Märkten, hat die Ökonomik damit für die Politik vor allem eine Nutzen-Kosten-Heuristik mit folgenden Leitfragen anzubieten:

  • In welchem Maß beeinträchtigt ein Verhalten von Anbietern die Funktionsfähigkeit von Märkten gegen die Interessen von Verbrauchern (potenzieller Nutzen einer Maßnahme)?
  • In welchem Maß würde eine staatliche Maßnahme die Funktionsfähigkeit verbessern (tatsächlich zu erwarten­der Nutzen)?
  • Welche Kosten etwa in Form von weniger Angebotsvielfalt oder höheren Preisen hätte die Maßnahme?

Verhaltensökonomik und Verbraucherleitbild

Die moderne Verhaltensökonomik geht deutlich über die informationsökonomische Einsicht hinaus, dass Informationen und Transaktionen mit Kosten verbunden sind. Aus Sicht der Verhaltensökonomik unterlie­gen Verbraucher internen Handlungsrestriktionen, d.h. vor allem kognitiven Grenzen bei ihren Möglichkeiten, die ihnen im Wettbewerb angebotenen Alternativen („externe Handlungsrestriktio­nen“) erkennen und nutzen zu können. Die Verhaltensökonomik hat eine Fülle von typischen, systematischen Abweichungen („biases“ bzw. Verzerrungen, Anomalien oder Trugschlüsse) gegenüber dem Verhalten eines hypothetisch vollständig rationalen Akteurs identifiziert, so z.B. Überoptimismus („die Risiken durch das Produkt realisieren sich bei mir nicht“, etwa auch beim Umgang mit eigenen Daten), Herdenverhalten (etwa bei Finanzanlagen), Framing (die Art der Präsentation von Information beeinflusst die Entscheidung) und hyperbolisches Diskontieren bzw. Gegenwartspräferenz (etwa Aufnahme eines Kredits, um gegenwärtigen Konsum zu finanzieren, bei Unterschätzung der in Zukunft zu zahlenden Raten).9 Diese internen Handlungsrestriktionen, die auch auf eine komplexe Interaktion von Intuition und logischem Denken zurückgehen,10 können Individuen aus Sicht der Verhaltensökonomik daran hindern, im Eigeninteresse zu handeln.

Viele dieser Erkenntnisse sind nicht neu, jedenfalls nicht außerhalb der traditionellen Wirtschafts­wissenschaften. So berücksichtigt das heutige Verbraucherschutzrecht bereits einige der verhaltensökonomischen Erkenntnisse, etwa bei den Vorschriften zu Preisangaben, die auch einer verfälschenden Präsentation von Preisinformationen vorbeugen. Beispielsweise hilft Verbrauchern, die sich aufgrund von Überoptimismus im Hinblick auf ihre zukünftige Nutzung von Diensten für im Ergebnis teurere Flatrates statt für Einzeltarife entscheiden, die gesetzliche Begrenzung von Vertragslaufzeiten.11 Schon jetzt hat die Verhaltensökonomik wichtige Anstöße gegeben, etwa weil sie der Annahme entgegentritt, dass viel Information auch viel hilft. Verbraucherorganisationen wie die deutsche Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) fordern mittlerweile „gute“12 – d.h. verknappte und wertende – Informationen, etwa in Form von Ampeln für die Hygiene bei Gaststätten oder bei der Lebensmittelnährwertkennzeichnung. Darüber hinaus leistet die Verhaltens­ökonomik einen wichtigen Beitrag dazu, das gängige normative Leitbild vom mündigen und souveränen Verbraucher mindestens auszudifferenzieren.13

Die Meta-Diskussion: Freiheitsschutz, Ergebnissteuerung oder „dritter Weg“?

Ziele des Verbraucherschutzes war vor allem im deutschen Privatrecht lange Zeit der Schutz der Freiheit des Verbrauchers gegenüber den Anbietern („Konsumentensouveränität“) und der Schutz vor Schäden. Die von der Verhaltensökonomik aufgezeigten internen Handlungs­restriktionen ändern die bisherige, informationsökonomische Sicht auf Märkte und Marktteilnehmer insbesondere in zweierlei Hinsicht:

  • Erstens stellt sich bei den Formen von Marktversa­gen, wie sie in der Vergangenheit analysiert wurden, mittlerweile die Frage, wie ein eingeschränkt rationaler Verbraucher reagiert. So liegt etwa die Vermutung nahe, dass er bei Marktmacht oder Informationsasymmetrien „aus­beutbarer“ sein kann als der vollständig rationale homo oeconomicus.
  • Zweitens hat die Verhaltensökonomie die Erkenntnis gewonnen, dass Individuen auch aufgrund eingeschränkter Rationalität nicht immer im Eigeninteresse handeln. Dies ist über die klassischen Marktversagensformen hinaus ein zusätz­licher, eigenständiger potenzieller „Interventionsgrund“ für den Staat. Aus dieser Sicht kann es Ziel sein, den Verbraucher zu Entscheidungen in seinem „wohlverstandenen“ Interesse zu verhelfen.

Für den Verbraucherschutz läge darin ein Paradigmenwechsel – vom Schutz vor anderen und vor Schäden hin zum Schutz vor sich selbst und dazu, bestimmte positive Ergebnisse für den Verbraucher in dessen „wohlverstandenem Interesse“ erzielen zu wollen. Die möglichen Kosten und Risiken eines solchen „Paternalismus“ – insbesondere für die Freiheit des Verbrauchers selbst – sind vielfach beschrieben worden.14 Auf der Meta-Ebene der Ziele weist die Debatte in der Verbraucherpolitik gewisse Parallelen zur Diskussion in der Wettbewerbspolitik auf. Unter dem Stichwort „more economic approach“ hat sich insbesondere die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission dafür eingesetzt, nicht mehr (ausschließlich) den Wettbewerb als Prozess und die Marktstruktur zu schützen, sondern die Konsumentenwohlfahrt und damit Marktergebnisse für den Verbraucher in den Mittelpunkt zu rücken. Ähnlich wie in der Verbraucherpolitik wird hier ein eher ergebnisorientiertes, utilitaristisches Verständnis einem ordo-liberalen Modell gegenübergestellt.15 Und ähnlich wie in der Verbraucherpolitik waren dafür auch neue ökonomische, insbesondere empirische Methoden der Auslöser, die sehr stark die Politikziele beeinflussen.16

Als „dritter Weg“ zwischen den Polen reiner Freiheitsschutz einerseits und Ergebnissteuerung andererseits hat in der Debatte über die richtige Verbraucherpolitik vor allem in den USA und in Großbritannien das Paradigma des „libertären (bzw. liberalen) Paternalismus“17 Einzug gehalten. Dabei geht es im Kern darum, durch „nudging“ („Schubsen“) den Konsumenten zu der „richtigen“ Entscheidung zu bewegen, gleichzeitig aber seine Wahlfreiheit zu erhalten und dementsprechend auf Verbote und andere einschränkende zwingende Regelungen zugunsten von dispositivem Recht zu verzichten. Ein Beispiel dafür sind „default“-Regelungen, etwa bei der Entscheidung über eine zusätzliche Altersvorsorge die Fragestellung so zu formulieren, dass dem Betroffenen nur eine Opt-out-Möglichkeit geboten wird, er sich somit bewusst gegen ein Angebot entscheiden muss. Alternativ soll der Entscheider jedenfalls einem „debiasing“ unterzogen werden, etwa durch psychologisch wirkungsvolle Warnhinweise, die den Überoptimismus und das Verdrängen langfristiger negativer Konsumfolgen konterkarieren.18

Gerechtfertigt werden können entsprechend staatliche Interventio­nen, solange signifikante Vorteile für eingeschränkt rational handelnde Verbraucher entstehen, während vollständig rational handelnde Individuen (inklusive der Anbieter) dadurch keine oder nur geringe Kosten haben (daher auch „asymmetrischer Paternalismus“).19 Als Beispiel werden oft „cooling off“-Zeiträume genannt, also etwa das 14-tägige Widerrufsrecht bei Haustürverträgen. Letztlich geht es dabei darum, Freiheitsschutz und den Blick auf die Marktergebnisse zu verbin­den.

Ökonomische Parameter für die Verbraucherpolitik

Eine effiziente Verbraucherpolitik setzt voraus, dass sich vor allem der Gesetzgeber den lang­fristigen Nutzen und Kosten von (möglichen) Maßnahmen bewusst macht. Aus ökonomischer Sicht wichtige Fragen dabei sind folgende:

  • Mit Blick auf den möglichen Nutzen einer verbraucherschützenden Maßnahme stellt sich zunächst die zentrale Frage, welches Ziel die Maßnahme hat – Beseitigung von Marktversagen („ob“), Verbesserung der Funktionsweise des Marktes („wie“) und/oder Schutz-, Verteilungs- und Fairness-Ziele. Empirische Erhebungen zum Ausmaß eines Regelungsbedürfnisses sollten Standard bei Gesetzgebungsvorhaben werden.
  • Gibt es marktendogene Selbsthilfemechanismen, die das festgestellte Problem angemessen lösen könnten? So können etwa Informationsintermediäre wie Transparenzplattformen die mit staatlichen Regelungen verbundene Bürokratie überflüssig machen. Gleichzeitig können solche Informationsintermediäre eigene Probleme aufwerfen, wenn etwa Interessenkonflikte wie eine Verflechtung mit bestimmten Anbietern nicht offen gelegt werden.20 Hier könnten „Tests der Tests“ (etwa Stiftung Warentest prüft Flugsuchmaschinen) oder Transparenzverpflichtungen Lösungen sein.
  • Wenn ein bestimmter Bereich von Produkten betroffen ist: Um welche Art von Gütern geht es? So zeichnen sich etwa Suchgüter dadurch aus, dass man ihre Leistungseigenschaften relativ kostengünstig vor dem Kauf feststellen kann; bei Erfahrungsgütern ist dies üblicherweise nach dem Kauf (durch die eigene Erfahrung) der Fall. Bei beiden funktionieren grundsätzlich die üblichen Informations- und Selektionsmechanismen am Markt. Verbraucherschutz kann sich hier schwerpunktmäßig auf den Schutz des Verbrauchers vor Schäden (etwa für die Gesund­heit) konzentrieren. Dagegen ist die Qualität von Vertrauensgütern nur sehr schwer oder gar nicht aufgrund eigener Anschauung möglich (etwa bei Medikamenten); dies gilt im Speziellen für Kontraktgüter, bei denen eine erhebliche zeitliche Divergenz zwischen Leistung und Gegenleistung besteht, die Verträge also lediglich ein Leistungsversprechen enthalten (etwa bestimmte Finanzdienstleistungen). Bei Vertrauens- und Kontraktgütern führt Wettbewerb um eine ausreichend große Menge informierter Kunden, die das Preis-Leistungs-Verhältnis kennen, nicht automatisch zum Schutz Uninformierter. Daher sind hier marktordnende Regeln angezeigt.
  • Welche Auswirkung hätte welche Lösung auf die Funktionsfähigkeit der Märkte? Der übliche „Instrumentenkasten“ reicht von Unterstützung der Aufklärungsarbeit von Verbraucher­verbänden, Selbstverpflichtungen, Gütesiegel über Informationspflichten bis hin zu Verboten.21 Wenn Informationspflichten das Mittel der Wahl sind, sollte dabei Einfachheit, Klarheit und Verständlichkeit einschließlich des möglichst weitgehenden Verzichts auf rechtliche Fach­begriffe eines der obersten Gebote sein. Auch eine alternative Folgenabschätzung sollte zum Standard bei verbraucherpolitischen Gesetzgebungsvorhaben gehören.

Effektive Durchsetzung von verbraucherschutzrechtlichen Regelungen

Neben dem Inhalt von (verbraucherschutzrechtlichen) Regelungen ist für ihre Effizienz und Effekti­vität auch entscheidend, wer sie wie durchsetzt. Im Bereich des Kartellrechts hat sich in den letzten Jahren in der EU eine intensive Diskussion entwickelt, ob neben der – insgesamt gut – funktionierenden Durchsetzung des europäischen Wettbewerbsrechts durch die Europäische Kommission und die nationalen Wettbewerbsbehörden die Durchsetzung durch Private erleichtert werden soll. Derzeit stellt sich bei Streu- bzw. Massenschäden oft das Problem, dass einzelne Kläger nicht den Anreiz hätten, die im Vergleich zu möglichen Prozesskosten geringen Schäden einzuklagen. Hinzu kommt ein mögliches Koordinationsversagen (collective action problem), wenn sich Kläger zusammenschließen wollen. Diese Probleme stellen sich in sehr ähnlicher Weise im Verbraucherrecht und werden innerhalb der EU in den nationalen Rechtsordnungen unterschied­lich gelöst. Auf europäischer Ebene besteht Einigkeit, dass – weder im Bereich des Kartell- noch des Verbraucherrechts – Strafschadensersatz und Erfolgshonorare und damit „amerikanische Verhältnisse“ die richtigen Lösungen wären. Ein konkreter Legislativvorschlag der Europäischen Kommission für ein horizontales (d.h. nicht bereichsspezifisches) Instrument für einen kollektiven Rechtsschutz steht allerdings nach wie vor aus.22

Daneben stellt sich die grundsätzliche Frage (etwa im Hinblick auf die Bundesanstalt für Finanz­dienstleistungsaufsicht), ob Beschwerden von Verbrauchern auch bei privatrechtlichen, verbraucherschützenden Normen nicht nur wie bisher als Anlass und Informationsgrundlage für Verfahren zur Klärung möglicher Verstöße (etwa gegen Vorschriften im Finanzdienstleistungs­bereich) im öffentlichen Interesse dienen sollen, sondern Behörden auch im individuellen Interesse tätig werden sollen. Im Wettbewerbsbereich hat sich die Aufgabenteilung – die Behörde ist im öffentlichen Interesse tätig, geschädigte Wettbewerber und Abnehmer müssen vor Gericht klagen – im Grund­satz bewährt, auch weil die Behörden nicht mit Individualbeschwerden überfrachtet werden. Gleichzeitig könnten bestimmte Durchbrechungen dieser Aufgabenteilung – etwa die Tatbestandswirkung von Behördenentscheidungen auch im Gerichtsverfahren oder die Anordnung von Behörden zur Rückerstattung von Vorteilen – den Geschädigten helfen.

Fazit

Aus ökonomischer Sicht ist Verbraucherschutz notwendiger Teil einer Marktordnung. Verbraucherschutz sollte nicht nur den Qualitäts-, sondern auch den Preis- und Innovationswettbewerb fördern und die Interessen der Verbraucher mit geringerem Budget im Blick haben. So richtig es ist, dass die Wirtschaftswissenschaften vom Bild des vollständig rational handelnden Akteurs Abschied nehmen, so falsch wäre es, aus jeder nun erkannten Form von eingeschränkter Ratio­nalität unmittelbar staatlichen Interventionsbedarf abzuleiten oder dem Verbraucher Mündigkeit und damit auch Verantwortung abzusprechen. Die Verhaltensökonomik hilft allerdings, ein realisti­sches Verbraucherleitbild zu entwickeln, indem sie sich auf die Empirie und die zentrale Frage rückbesinnt, wie sich Verbraucher tatsächlich verhalten und was von ihnen in unterschiedlichen Situationen realistischerweise zu erwarten ist.

  • 1 Vgl. zu einer informationsökonomischen Perspektive auf die Verbraucherpolitik etwa H.-W. Sinn: Verbraucherschutz als Staatsaufgabe, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 4. Jg. (2003), S. 281-294.
  • 2 Vgl. etwa C. Sunstein (Hrsg.): Behavioral Law and Economics, Cambridge 2000; P. Diamond, H. Vartiainen: Behavioral Economics and Its Applications, Princeton 2007; R. Korobkin, T. Ulen: Law and Behavioral Science – Removing the Rationality Assumption from Law and Economics, in: California Law Review, 88. Jg. (2000), S. 1051-1144; mit Blick auf die Verbraucherpolitik: M. Salinger: Behavioural Economics, Consumer Protection, and Antitrust, in: Competition Policy International, 6. Jg. (2010), H. 1, S. 65-86; E. Garcés: The Impact of Behavioural Economics on Consumer and Competition Policies, in: Competition Policy International, 6. Jg. (2010), H. 1, S. 145-152; O. Bar-Gill: The Behavioral Economics of Consumer Contracts, in: Minnesota Law Review, 92. Jg. (2008), S. 749-802; kritischer Überblick bei H. Beck: Wirtschaftspolitik und Psychologie: Zum Forschungsprogramm der Behavioral Economics, in: ORDO, 60. Jg. (2009), S. 119-151.
  • 3 Siehe etwa die online verfügbaren Dokumente zu den Konferenzen der FTC (Behavioral Economics and Consumer Policy, 2007) und der GD SANCO (How Can Behavioural Economics Improve Policies Affecting Consumers?, 2008) sowie die Website des „Behavioural Insight Team“ des britischen Cabinet Office (http://www.cabinetoffice.gov.uk/content/applying-behavioural-insights); siehe auch das OECD Consumer Policy Toolkit und den Überblick dazu in M. Lissowska: Overview of Behavioural Economics Elements in the OECD Consumer Policy Toolkit, in: Journal of Consumer Policy, 34. Jg. (2011), S. 393-398.
  • 4 Ähnlich M. Ahlheim, A. Zahn: Versagt die Verbraucherpolitik? Versuch einer Antwort auf wohlfahrtsökonomischer Sicht, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 3, S. 155-159.
  • 5 Vgl. zur „Lemons-Problematik“ bei AGB etwa H.-B. Schäfer, C. Ott: Ökonomische Analyse des Zivilrechts, 4. Aufl., Berlin u.a.O. 2005, S. 462 ff.
  • 6 Vgl. etwa G. Ellison, S. Ellison: Search, Obfuscation, and Price Elasticities on the Internet, in: Econometrica, 77. Jg. (2009), H. 2, S. 427-452; X. Gabaix, D. Laibson: Shrouded Attributes, Consumer Myopia, and Information Suppression in Competitive Markets, in: Quarterly Journal of Economics, 121. Jg. (2006), H. 2, S. 505-540.
  • 7 Mit sogenannten Internet-Kostenfallen verschleiern unseriöse Unternehmen durch die unklare oder irreführende Gestaltung ihrer Internetseiten bewusst, dass ihre Leistung etwas kostet. Eine am 1.8.2012 in Kraft getretene Regelung im BGB sieht vor, dass ein Vertrag mit einem Verbraucher im elektronischen Geschäftsverkehr nur dann zustande kommt, wenn der Verbraucher mit seiner Bestellung durch eine entsprechende Schaltfläche ausdrücklich bestätigt, dass er sich zu einer Zahlung verpflichtet („Button-Lösung“).
  • 8 Darüber hinaus können verbraucher- bzw. patientenschützende Regelungen im Gesundheitsbereich etwa auch das Problem angebots­induzierter Nachfrage mindern.
  • 9 Vgl. etwa die verhaltensökonomische Erklärung von Hypothekenkrediten mit geringer Bonität O. Bar-Gill: The Law, Economics and Psychology of Subprime Mortgage Contracts, in: Cornell Law Review, 94. Jg. (2009), S. 1073-1093.
  • 10 Kahneman spricht von „System 1“ (intuition) und „System 2“ (reasoning); vgl. D. Kahneman: A Perspective on Judgment and Choice – Mapping Bounded Rationality, in: American Psychologist, 58. Jg. (2003), H. 9, S. 697-720; und D. Kahneman: Thinking, Fast and Slow, New York 2011.
  • 11 So etwa für Fitnessstudios S. DellaVigna, U. Malmendier: Paying Not to Go to the Gym, in: American Economic Review, 96. Jg. (2006), H. 3, S. 694-719.
  • 12 Siehe die „Empfehlungen für wirksame Informationen“ des Verbraucherzentrale Bundesverbandes, die auch auf die Studie von A. Oehler, L. Reisch: Behavioral Economics – eine neue Grundlage für Verbraucherpolitik?, 2008, im Auftrag des vzbv zurückgehen.
  • 13 Vgl. zur Leitbilddebatte C. Strünck: Die Verbraucherpolitik braucht Pragmatismus statt wirklichkeitsferner Leitbilder, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 3, S. 165-168.
  • 14 Vgl. etwa E. Glaeser: Paternalism and Psychology, in: University of Chicago Law Review, 73. Jg. (2006), S. 133-156; vgl. zur Frage, inwieweit bei Abweichung von der Rationalitätsannahme Freiheit und damit Verantwortungsfähigkeit möglich ist D. Enste, M. Hüther: Verhaltensökonomik und Ordnungspolitik – Zur Psychologie der Freiheit, IW Position, Nr. 50, 2011, S. 34-36.
  • 15 Vgl. zur Diskussion etwa M. Hellwig: Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik, in: C. Engel, W. Möschel (Hrsg.): Festschrift für Mestmäcker, Baden-Baden 2006, S. 231-268.
  • 16 Vgl. allgemein zur Debatte „Ordnungspolitik versus ‘neue’ Empirie“ die Beiträge von B. Lucke, C. Fuest, N. Goldschmidt, G. Wagner, B. Priddat, in: Wirtschaftsdienst, 86. Jg. (2006), H. 1, S. 7-25.
  • 17 Vgl. C. Sunstein, R. Thaler: Nudge: Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness, New Haven 2008.
  • 18 C. Jolls, C. Sunstein: Debiasing Through Law, in: Journal of Legal Studies, 35. Jg. (2006), S. 199-241.
  • 19 C. Camerer, S. Issacharoff, G. Loewenstein, T. O’Donoghue, M. Rabin: Regulation for Conservatives: Behavioral Economics and the Case for „Asymmetric Paternalism“, in: University of Pennsylvania Law Review, 151. Jg. (2003), H. 3, S. 1211-1254.
  • 20 Vgl. etwa zu Intermediären im Finanzbereich R. Inderst: Consumer Protection and the Role of Advice in the Market for Retail Financial Services, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 167. Jg. (2011), H. 1, S. 4-21.
  • 21 Vgl. zur Instrumentendiskussion G. Billen: Zwischen Eigenverantwortung und Schutz der Verbraucher: Platz für neue Instrumente der Verbraucherpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 91. Jg. (2011), H. 3, S. 159-161.
  • 22 Das Europäische Parlament hat seine Vorstellungen dazu in seiner Entschließung vom 2.2.2012 zum Thema „Kollektiver Rechtsschutz: Hin zu einem kohärenten europäischen Ansatz“ niedergelegt.

Title:Consumer Protection as Part of the Market Order

Abstract:In market orders, consumer protection is a necessary complement to competition policy in order to secure competition on the merits and the functioning of markets. Insights from behavioural economics show that disclosure obligations may not help boundedly rational consumers and that the standard paradigm of the “responsible and sovereign consumer” has to be modified. “Nudging” and “debiasing” may be instrumental in preserving market freedom, while at the same time helping consumers to achieve desired results.

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-013-1475-7