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Echtes Wohlfahrtsmaß

Von Hans Diefenbacher

Der gemeinsame, vom Deutschen Bundestag angenommene Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen hatte es 2010 sehr klar formuliert: "Um eine geeignete Grundlage zur Bewertung politischer Entscheidungen anhand ökonomischer, ökologischer und sozialer Kriterien zu schaffen, ist zu prüfen, wie die Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt angemessen berücksichtigt und zu einem gemeinsamen Indikator zusammengeführt werden können." Das hat die Projektgruppe 2 der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" nicht geschafft, sondern in ihrem gerade veröffentlichten Abschlussbericht ein System von zehn Leitindikatoren plus zehn "Warn-" beziehungsweise "Hinweislampen" vorgelegt. Damit wurde eine große Chance vertan, dem BIP auf Augenhöhe einen alternativen Wohlfahrtsindex an die Seite zu stellen, mit dem ein anderes Konzept einer nachhaltigen und zukunftsfähigen gesellschaftlichen Entwicklung hätte besser vermittelt werden können.

Um einem möglichen Missverständnis von vornherein vorzubeugen: Ein Plädoyer für einen nationalen Wohlfahrtsindex bedeutet nicht, dass Indikatorensysteme abgelehnt würden, im Gegenteil: Als "mittlere Ebene" zwischen den statistischen Rohdaten und Kennziffern darunter und dem Gesamtindex darüber sind sie unverzichtbar, um Informationen über komplexe Entwicklungen in Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft aufzuarbeiten und um das Monitoring einzelner Politikfelder zu ermöglichen. Aber wenn eine Gesellschaft eine weitere Verdichtung dieser Informationen zur Einschätzung der Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrt haben möchte, dann braucht es neben dem BIP einen Wohlfahrtsindex, denn das BIP ist zur Wohlfahrtsmessung nicht geeignet – es war von seinen Erfindern auch nie als Wohlfahrtsmaß gedacht. Die Gründe sind seit Jahrzehnten bekannt: Das BIP berücksichtigt weder die nicht über den Markt vermittelte Wertschöpfung noch die Verteilung der Einkommen in der Gesellschaft, es ist in gewisser Weise sowohl für die ökologischen und sozialen Folgen einer bestimmten Produktionsweise als auch für die Höhe des Verbrauchs nicht erneuerbarer Ressourcen blind. Ein nationaler Wohlfahrtsindex wäre der Versuch, diese Aspekte auf transparente Weise in einem Index zusammenzuführen, um so einen anderen Blick auf Wachstums- und Entwicklungsprozesse zu ermöglichen.

Gegen Versuche dieser Art wird häufig eingewendet, dass bei der Auswahl und der monetären Bewertung all dieser Faktoren Werturteile, die das ganze Unterfangen aus dem Bereich der Wissenschaft oder gar der Statistik herausführen würden, erforderlich seien. Nun ist der Werturteilsstreit in der deutschen Nationalökonomie zwar schon knapp über 100 Jahre alt, aber offenkundig noch nicht beendet: Dem genannten Argument muss entgegengehalten werden, dass auch die Komposition des BIP in zahlreichen Punkten auf normativen Entscheidungen, die durchaus auch hätten anders getroffen werden können, beruht. Aber hier geht es ja um ein Wohlfahrtsmaß und nicht um das BIP – und in diesem Zusammenhang ist die Entscheidung, bestimmte wohlfahrtsrelevante Elemente nicht zu berücksichtigen und dem BIP – mangels Alternativen – das Feld zu überlassen, ebenfalls normativ. Ein nationaler Wohlfahrtsindex ist notwendig, weil das BIP – mit stillschweigender Tolerierung von Wissenschaft und Statistik – in Politik und Öffentlichkeit in den letzten Jahrzehnten zunehmend als Wohlfahrtsmaß verwendet wurde und so ein zu starkes Gewicht als Orientierungspunkt der Politik erhielt. Ein "echtes" Wohlfahrtsmaß soll das BIP nicht ersetzen, es kann das BIP aber auf eine Weise relativieren, wie dies Indikatorensysteme nicht erreichen können, zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten nicht erreicht haben. Deutlich besser als das jetzt vorgelegte Indikatorensystem der Enquete-Kommission ist seit 2002 der Ansatz der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie – und er könnte noch besser werden, wenn er durch einen nationalen Wohlfahrtsindex ergänzt würde.

Pro BIP mit Beilage

Von Karl-Heinz Paqué

Es ist völlig unstrittig: Das Bruttoinlandsprodukt hat als Maß für den Wohlstand eines Landes große Schwächen. Mindestens drei davon stechen hervor. Erstens ist das BIP unvollständig. Es berücksichtigt im Wesentlichen nur die zu Marktpreisen bewertete Produktion; der Wert von Freizeit und Ehrenamt bleibt außen vor. Zweitens lässt das BIP völlig offen, wem die Wertschöpfung zugutekommt. Einkommensverteilung, Lebensqualität und subjektives Glücksempfinden werden nicht quantifiziert. Und drittens misst das BIP nicht die Nebenwirkungen der Produktion auf die Umwelt. Es ist also, wenn man so will, ökologisch blind.

Wegen dieser Schwächen wird derzeit der Ruf laut, das BIP durch einen umfassenden Indikator zu ersetzen. Dieser soll, so die Forderung, dem „wahren“ Zustand der Gesellschaft im Sinne der Gesellschaft näher kommen. Aber wie könnte er aussehen? Soll es wirklich ein einzelner Indikator sein, so müsste er all die genannten unterschiedlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens in irgendeiner Form messen und gewichten, und zwar ohne, dass er sich auf den harten Grund der Bewertung durch den Markt verlassen kann. Es müsste also eine Instanz geben, die – als Ersatz für den Markt – eine Bewertung vornimmt. Wahrlich eine gigantische Aufgabe! Man stelle sich vor: Der Wert von Freizeit und Ehrenamt, von Einkommensverteilung, Lebensqualität und subjektivem Glücksempfinden, von dem ökologischen Zustand der Welt (und zwar heute und im Fall des Klimawandels auch in der Zukunft!), all dies müsste annähernd objektiv festgestellt werden. Das ist schon technisch eine kaum lösbare Aufgabe. Und das Ergebnis wäre natürlich politisch höchst umstritten, egal was dabei herauskäme. Es hätte fast zwingend den Charakter einer zentralistischen Erfassung menschlicher Werte, eine Art totalitäres Maß des Pegelstands der gesellschaftlichen Wohlfahrt. Kein schöner Gedanke in einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft.

Es bleiben deshalb nur viel bescheidenere Lösungen. Dazu hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Wachstum – Wohlstand – Lebensqualität“ gerade mit der Mehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD einen Vorschlag erarbeitet. Er läuft darauf hinaus, eine Reihe von Indikatoren aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu einem Spektrum zusammenzutragen, sie aber nicht zu gewichten. Es entsteht ein sogenanntes Armaturenbrett („dashboard“), das den Piloten der Politik helfen soll, die Gesellschaft angemessen zu steuern. Nicht mehr nur der Blick auf das BIP, sondern die breitere Kenntnisnahme wichtiger gesellschaftlicher Kennzahlen soll helfen, eine gute Grundlage für politische Entscheidungen zu liefern. Mit dieser Philosophie folgt die Enquete-Kommission früheren Anregungen anderer Expertengremien, wie sie in Frankreich durch die sogenannte Stiglitz-Fitoussi-Sen-Kommission sowie in Deutschland durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgelegt wurden.

Dieser Weg ist der einzig realistische. Er eröffnet die Möglichkeit, von der sturen Orientierung am BIP und seiner Wachstumsrate als gesellschaftliches Zwischenziel wegzukommen, ohne die Seriosität der wissenschaftlich fundierten Messung zu gefährden. Und er erlaubt, bei einem allfälligen Wandel der Prioritäten der Gesellschaft auch das Armaturenbrett anzupassen. Allerdings sollte man sich keinen Illusionen hingeben: Auch in der neuen Welt des Armaturenbrettes wird das BIP und seine Veränderung eine zentrale Rolle behalten. Und das ist auch richtig so. Denn nichts spricht dafür, dass in der Zukunft die am Markt gemessene Wertschöpfung an Bedeutung verliert. Sie ist und bleibt ein wesentliches Maß für die Innovationskraft der Wirtschaft, und die ist eben für eine moderne Industrienation wie Deutschland unverändert wichtig.


DOI: 10.1007/s10273-013-1487-3

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