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In der Augustausgabe 2013 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz von Dominik Groll und Stefan Kooths mit dem Titel „Vor der Bundestagswahl: Argumente für Mindestlöhne überzeugen nicht“. Jürgen Kromphardt setzt sich hier kritisch mit ihren Argumenten auseinander. Daraufhin erläutern die Autoren ihren Standpunkt in einer Erwiderung.

Mindestlohn: Warnung vor massiven Arbeitsplatzverlusten wenig fundiert – eine Replik

Von Jürgen Kromphardt

Der in Deutschland von der SPD, der Partei „Die Grünen“ und von den Gewerkschaften angestrebte gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde soll verhindern, dass die schwierige Arbeitsmarktlage in vielen Branchen und Regionen von Arbeitgebern weiterhin ausgenutzt wird, um häufig untertarifliche Stundenlöhne zu zahlen, die so niedrig sind, dass der Monatsverdienst von vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern nur knapp über dem Existenzminimum von Alleinstehenden oder sogar darunter liegt. In diesem Fall können und müssen die betroffenen Arbeitnehmer ihr Erwerbseinkommen vom Jobcenter aufstocken lassen. Dies ist, wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) zutreffend kritisiert, eine „wettbewerbsverzerrende Subvention von Billigheimern zu Lasten der Beschäftigten, der Steuerzahler und der Firmen, die ihre Leute anständig bezahlen.“1

Durch den Mindestlohn soll der Niedriglohnsektor, der in Deutschland größer ist als in den anderen EU-Staaten, eingeschränkt werden. Durch dessen Ausbreitung sowie durch die niedrigen allgemeinen Lohnsteigerungen in den letzten 15 Jahren hat sich Deutschland Lohnkostenvorteile gegenüber den Staaten des Euroraums verschafft, die für deren Leistungsbilanzdefizite und Beschäftigungsprobleme mitverantwortlich sind. Außerdem hat Deutschland sich damit auch selber geschadet.2 Desweiteren soll erreicht werden, dass das Lohngefüge allgemein nicht weiter nach unten gezogen wird. Die Einführung des Mindestlohnes wäre ein deutliches Signal, dass Deutschland sich von der Niedriglohnstrategie verabschiedet.

Gegen diese wirtschaftspolitische Forderung wird in der deutschen Diskussion immer wieder – und so auch in dem Wirtschaftsdienst-Beitrag von Groll/Kooths3 das Argument angeführt, ihre Umsetzung führe zu einer generellen Vernichtung von Arbeitsplätzen. Auch die Mehrheit des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung warnt – ohne nähere Begründung – im Jahresgutachten 2010/2011, vor „zusätzlichen hunderttausenden Arbeitslosen bei einem Mindestlohn von 8 Euro“4 und verweist dort auf sein Jahresgutachten 2006/2007, Kasten 22. Auf diesen Kasten beruft sich die Mehrheit auch im Jahresgutachten 2012/2013.5 Auch im neusten Jahresgutachten 2013/2014 hat sich an der Position der Mehrheit nichts geändert. Diese Argumentation ist jedoch weder theoretisch begründet noch empirisch fundiert.

Theoretische Begründung der Arbeitsplatzvernichtung fragwürdig

Wie viele andere Autoren wählen Groll/Kooths als Ausgangspunkt für ihre theoretische Analyse ein Modell, dessen Voraussetzungen in der Realität nicht gegeben sind, nämlich das Modell vollständiger Konkurrenz auf den Güter- und Faktormärkten, in der (unendlich) viele kleine Anbieter und Nachfrager ohne jede Marktmacht und ohne jede Einschränkung des Wettbewerbs die Preise und Löhne akzeptieren müssen, die sich im Markt ergeben. In einer solchen Welt werden alle Arbeitnehmer mit dem Grenzprodukt des „letzten“ Beschäftigten entlohnt. Es ist logisch zwingend, dass dann – solange sich bei der Güternachfrage nichts ändert – jeder darüber liegende Mindestlohn zur Folge hat, dass einige der am wenigsten produktiven Arbeitnehmer entlassen werden. Andernfalls würde der Unternehmer bei ihrer Weiterbeschäftigung seinen Gewinn schmälern. Mit der Wahl dieses Ausgangspunktes schwimmen Groll/Kooths im breiten Strom des Mainstream.

Dieses Modellergebnis versuchen Groll/Kooths in die Realität hinüberzuretten. Jedoch kann auf dem Arbeitsmarkt von uneingeschränktem Preiswettbewerb, insbesondere in den Bereichen, in denen die Löhne überwiegend von den Tarifparteien ausgehandelt werden, keine Rede sein. Und auf den Gütermärkten können außerhalb der Phantasiewelt der vollständigen Konkurrenz fast alle Anbieter aktiv Preise setzen bzw. vereinbaren. Dabei sehen sich nahezu alle Unternehmer mit einer fallenden Preis-Absatz-Funktion konfrontiert; diese besagt, dass sie eine höhere Menge ihrer Produkte nur bei niedrigeren Preisen werden absetzen können.

Bei der Ermittlung des Grenzerlöses des „letzten“ Beschäftigten muss der einzelne Unternehmer daher berücksichtigen, dass er, um dessen Mehrproduktion verkaufen zu können, den Preis der von ihm angebotenen Produkte senken muss. Der Grenzerlös ist daher niedriger als das physische Grenzprodukt, und der gewinnmaximierende Unternehmer zahlt den Beschäftigten weniger als ihr Grenzprodukt, nämlich nur den Grenzerlös (auch Wertgrenzprodukt genannt). Groll/Kooths erwähnen dies, ziehen daraus aber die falschen Schlüsse: Erstens zahlt der Unternehmer eben weniger als das, was der letzte Arbeitnehmer mehr produziert. Zweitens und vor allem aber ist der erwartete Grenzerlös keine objektiv gegebene Größe. Vielmehr hängt die Lage der Preis-Absatz-Funktion unter anderem davon ab, welche Preise die konkurrierenden Unternehmen von ihren Kunden verlangen und welche Preissetzung der Unternehmer bei seinen Konkurrenten erwartet.

Wird nun ein Mindestlohn eingeführt, der für Niedrigverdiener oberhalb des bisherigen Lohns liegt, so kann der einzelne Unternehmer davon ausgehen, dass viele seiner Konkurrenten ihre Preise heraufsetzen. Damit verschiebt sich seine Preis-Absatz-Funktion nach oben, der Grenz­erlös steigt und der Unternehmer kann die Preise seiner eigenen Produkte heraufsetzen. Nimmt der erwartete Grenzerlös genauso stark zu wie die Entlohnung, gibt es keinen Grund für den Unternehmer, Arbeitskräfte zu entlassen.

Ob der tatsächliche Grenzerlös seinen Erwartungen entspricht, ist allerdings unsicher und hängt von zwei gegenläufigen Faktoren ab. Zum einen sinkt bei steigenden Preisen und gegebenen Einkommen der Nachfrager die nachgefragte Menge, sofern die Nachfrage nicht völlig preisun­elastisch ist. Dagegen wirkt ein Einkommenseffekt, da durch den Mindestlohn die Einkommen der Nachfrager steigen, sodass sie mehr Geld für die teurer gewordenen Güter ausgeben können.

Die beiden Effekte (Preis- und Einkommenseffekt) wirken gegenläufig, können sich ausgleichen, müssen dies aber nicht. Müller/Steiner ermitteln in ihrer Mikrosimulationsstudie für den Fall eines Mindestlohns von 8,50 Euro eine erhebliche Reduktion der Güternachfrage der privaten Haushalte.6 Deren verfügbare Einkommen steigen relativ wenig, da die bessere Entlohnung zu höheren Preisen und zum Teil zu niedrigeren Transfereinkommen führt. Die Autoren verzichten aber darauf, andere Nachfragekomponenten zu berücksichtigen, nämlich die möglichen durch den Mindestlohn angestoßenen Rationalisierungsinvestitionen und die Verwendung der durch die geringeren Transfers erhöhten Einnahmen des Staates für staatliche Nachfrage an anderer Stelle oder für zusätzliche Transferleistungen (z.B. für die in der Diskussion befindliche Mütterrente oder die geforderten erhöhten öffentlichen Investitionen).

Die von Müller/Steiner aufgrund der rückläufigen Güternachfrage errechneten Beschäftigungseinbußen von ca. 500 000 Personen bei einem Mindestlohn von 8,50 Euro sind mithin viel zu hoch gegriffen, wenn sie überhaupt eintreten. Von einem „unzweideutigen Rückgang der Arbeitsnachfrage“7 kann jedenfalls keine Rede sein.

Differenzierte Betrachtung des Arbeitsmarktes erforderlich

Auch auf dem Arbeitsmarkt sind die tatsächlichen Marktgegebenheiten zu beachten. Zwei Situationen müssen dabei unterschieden werden:

  1. Der Unternehmer beeinflusst durch seine Nachfrage nach Arbeitskräften den zu zahlenden Lohn.
  2. Der Lohnsatz ist durch Tarifvereinbarungen oder staatliche Regelungen gegeben.

Groll/Kooths erwähnen selbst, dass im ersten Fall der gewinnmaximierende Unternehmer bei der Einstellung eines zusätzlichen Arbeitnehmers Folgendes berücksichtigen muss: Sofern er keine individuell differenzierten Löhne vereinbaren kann oder will, muss er, da er einen zusätzlichen Arbeitnehmer nur gegen einen höheren Lohn einstellen kann, alle schon bei ihm arbeitenden Arbeitnehmer besser bezahlen. Dies hat zur Folge, dass die Grenzausgaben der Neueinstellung höher liegen als der Lohnsatz. Da sein Gewinn maximal ist, wenn Grenzerlös und Grenz­ausgaben übereinstimmen, wird die Differenz zwischen Lohn und physischem Grenzprodukt noch größer und damit die Beschäftigung noch niedriger. In diesem Fall (des Monopsons) wird die Einführung eines Mindestlohns die Beschäftigung sogar erhöhen, wie Groll/Kooths unter Berufung auf das Standard-Lehrbuch von Varian zu Recht feststellen.8

Groll/Kooths spielen dieses Ergebnis herunter, indem sie darauf verweisen, dass in dem ersten Fall die Akteure über Marktmacht verfügen und hohe Markteintrittsbarrieren auf den Gütermärkten und Mobilitätshemmnisse für die Arbeitskräfte bestehen müssen. Genau das aber ist die Realität! Man denke nur an das VW-Werk als Arbeitgeber in Wolfsburg, an den einzigen Produktionsbetrieb oder an einen einzigen Konditor in einer kleinen Gemeinde. Wie Groll/Kooths diese Marktmacht ordnungspolitisch abbauen wollen (von der politischen Durchsetzbarkeit ganz zu schweigen), bleibt ein Rätsel. Marktmacht liegt also in hinreichendem Maße vor, um den ersten Fall vielfach für relevant ansehen zu können. Es ist jedoch einschränkend darauf hinzuweisen, dass bei hoher Arbeitslosigkeit häufig der einzelne Unternehmer bei Bedarf genügend Arbeitskräfte findet, die bereit sind, zum herrschenden Lohnsatz zu arbeiten. Dann ist das Arbeitsangebot völlig elastisch und die Lohnhöhe ist unabhängig von der Nachfrage des Monopsonisten.

Während also im ersten Fall sogar Beschäftigungsgewinne auftreten können, besteht die Möglichkeit im zweiten Fall nicht. Sofern der Lohnsatz tariflich vereinbart ist und die Arbeitgeber sich daran halten, entfällt die Differenz zwischen Grenzausgaben und Lohnsatz.

Die Beschäftigungswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns hängen also von vielen Parametern ab, die nach Branche, Region und der Qualifikation der bislang unter diesem Lohn Beschäftigten unterschiedlich sind. Positive Effekte können umso eher auftreten, je mehr die Löhne individuell ausgehandelt werden und nicht durch Tarifverträge vorgegeben sind und je weniger oder je knapper die betroffenen Arbeitskräfte sind, sodass die Unternehmer zusätzliche Arbeitskräfte nur durch höhere Löhne herbeilocken können. Negative Beschäftigungseffekte sind wahrscheinlich, je mehr Produzenten betroffen sind, die die höheren Lohnkosten nur teilweise oder gar nicht in ihren Preisen weiterwälzen können, weil sie in Konkurrenz zu Unternehmen stehen, die nicht vom Mindestlohn betroffen sind. Dies gilt z.B. für Unternehmen in den Exportbranchen sowie bei Dienstleistungsunternehmen, die in Konkurrenz zu Anbietern aus nahe gelegenen Grenzgebieten zu Niedrig-Lohn-Ländern liegen, wie z.B. Friseure, Tankstellen und Einzelhandelsgeschäfte in den östlichen Grenzgebieten von Brandenburg oder Sachsen.

Wie relevant sind diese Einschränkungen der Überwälzungsmöglichkeiten? Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) arbeiteten 2011 von allen Arbeitnehmern (ohne Auszubildende und Personen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen), die Bruttostundenlöhne bis zu 8,50 Euro erhielten, etwas mehr als die Hälfte im Wirtschaftszweig „konsumnahe Dienstleistungen“ und ein Viertel im Produzierenden Gewerbe.9 Rund ein Achtel erbrachten unternehmensnahe Dienstleistungen. In den beiden Dienstleistungsbereichen stellten die Geringverdiener 22% bzw. 20% aller dortigen Arbeitnehmer. Im Produzierenden Gewerbe sind nur ca. 12% bis 13% der Arbeitnehmer Geringverdiener. Wichtig ist auch: 69% der Geringverdiener arbeiten in Kleinbetrieben mit bis zu zehn Beschäftigten, aber auch in Großbetrieben mit 2000 und mehr Beschäftigten machten sie noch 8% aus. In den Dienstleistungsbereichen ist der Anteil des regionalen Absatzes relativ hoch. Die durch den Mindestlohn besser gestellten Arbeitnehmer werden daher auch mehr Nachfrage nach solchen Dienstleistungen entfalten bzw. bereit sein höhere Preise für sie bezahlen.

Die regionale Verteilung der Geringverdiener auf die Bundesländer weist eine Studie der Prognos AG für die Friedrich-Ebert-Stiftung für 2009 aus.10 Danach liegt der Anteil der Geringverdiener am höchsten in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen, gefolgt von Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Zu der Spitzenstellung dieser fünf ostdeutschen Bundesländer tragen mehrere Faktoren in unterschiedlichem Ausmaß bei: Generell niedrigeres Lohnniveau; niedriger Anteil des Produzierenden Gewerbes; Grenzlage zu Polen bzw. Tschechien; größerer Anteil von Kleinbetrieben. In die entgegengesetzte Richtung könnte die geringere Tarifbindung wirken, allerdings nur soweit die Unternehmen (besonders die Kleinbetriebe) die raffinierten, für die Gewinnmaximierung erforderlichen Grenzerlös- und Grenzausgaben-Kalküle vornehmen und die Arbeitslosigkeit in dem jeweiligen Beruf nicht so hoch ist, dass die Unternehmen zum herrschenden Lohn jede gewünschte Menge an Arbeitskräften einstellen können, sodass die Grenzausgaben mit dem Lohnsatz übereinstimmen.

Die empirischen Belege sind widersprüchlich

Es besteht inzwischen Einigkeit in der empirischen Literatur, dass die immer wieder behaupteten negativen Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen nicht generell nachgewiesen werden können. Dementsprechend konstatieren Groll/Kooths: „Ein Konsens in der empirischen Literatur hinsichtlich der Beschäftigungswirkung von Mindestlöhnen scheint demnach wieder in weite Ferne gerückt zu sein.“11 Nach Ansicht von Brenke/Müller vom DIW ist die „empirische Literatur zu den Beschäftigungseffekten … nahezu unüberschaubar geworden“ und „die Ergebnisse sind uneinheitlich. Das ist … theoretisch plausibel, da sowohl die Eingriffsintensität des Mindestlohns als auch der jeweilige Arbeitsmarktkontext erheblich variieren“12. Betrachtet man die kurze Darstellung der empirischen Literatur in den beiden eben zitierten Texten, so wird deutlich, dass sich die Schätzmethoden weiter entwickelt und verfeinert haben. Auch dadurch sind früher scheinbar eindeutige Ergebnisse fragwürdig geworden. Zu dieser Entwicklung passen die Ergebnisse von zwei auf Branchen in Deutschland bezogene Studien. In der ersten Studie für das Bundesarbeitsministerium kommen die damit beauftragten Institute zu folgendem Ergebnis: „Im Bauhauptgewerbe hat der Mindestlohn keine Arbeitsplätze vernichtet, sondern (wie beabsichtigt – JK) heimische Arbeitnehmer vor der ausländischen Konkurrenz bewahrt.“13 Dabei liegt der Mindestlohn dort über 8,50 Euro und beträgt aktuell 10 Euro für die neuen und 11,05 Euro für die alten Bundesländer. Müller kommt zu ähnlichen Ergebnissen.14

Kritische Problembereiche

Das Argument, ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro werde zur Arbeitsplatzvernichtung in nennenswertem Umfang führen, ist also weder theoretisch noch empirisch gesichert. Bestimmte Problembereiche lassen sich jedoch identifizieren und verdienen bei der Einführung des Mindestlohnes besondere Aufmerksamkeit:

  • Welche Arbeitnehmer sollen erfasst werden? Ist es sinnvoll, wie z.B. in Großbritannien für Jugendliche einen niedrigen Stundenlohn vorzusehen? Auszubildende sollten jedenfalls nicht in die Mindestlohnregelung einbezogen werden.
  • Ein für Ost- und Westdeutschland gleich hoher Mindestlohn wird in Ostdeutschland und dort insbesondere für kleinere Unternehmen vielfach erhebliche Probleme aufwerfen. Auch wird er dort vermutlich zu Preissteigerungen vor allem für konsumnahe Dienste führen. Wenn die Befürworter des einheitlichen Mindestlohns, darunter ostdeutsche Politiker, dennoch eine Differenzierung zwischen Ost und West ablehnen, dann akzeptieren sie implizit, dass zu einer Angleichung bei den Einkommen als Kehrseite der Medaille auch eine Angleichung bei den Preisen gehört. Andererseits führt die bessere Bezahlung auch zu höherer Nachfrage, von der insbesondere die Anbieter der konsumnahen Dienstleistungen profitieren werden. Dieser Aspekt wird in der jüngsten Gemeinschaftsdiagnose der vier beauftragten Forschungsinstitute und ihrer vier Kooperationspartner vom Oktober 2013 offenbar völlig vernachlässigt, wenn sie vermuten, in Ostdeutschland könnte es – nur weil dort rund ein Viertel der Arbeitnehmer weniger als 8,50 Euro verdienen – bei einem einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro „zu einem beträchtlichen Stellenabbau kommen“15. Sie prognostizieren dies, obwohl sie berichten, dass sich bei den Mindestlohnregelungen für einzelne Branchen in Deutschland keine gravierenden negativen Folgen für die Beschäftigung ergeben haben.16
  • Mit dem Mindestlohn wird die Hoffnung verbunden, dass das Phänomen der Aufstocker verschwindet. Wenn sich Erwerbstätige ihr niedriges Erwerbseinkommen durch die Jobcenter auf das Niveau von Hartz IV aufstocken lassen müssen, um das Existenzminimum zu erreichen, stellt dies eine Lohnsubvention zugunsten der Arbeitgeber dar. Es erscheint vielen außerdem besonders verwerflich, wenn Vollzeiterwerbstätige so schlecht bezahlt werden, dass sie von ihrer Erwerbsarbeit nicht leben können. Bei unveränderten Hartz-IV-Regelungen wird die Zahl der Aufstocker sich allerdings nur um rund ein Fünftel reduzieren; denn vier Fünftel der Aufstocker sind nur teilzeit oder geringfügig beschäftigt und bleiben trotz Mindestlohn unter dem Existenzminimum.
  • Der Mindestlohn wird auch Personen betreffen, die in den bei der Lohnsteuer und bei den Sozialabgaben privilegierten Minijobs (400-Euro-Jobs) arbeiten. Wenn dort die Stundenlöhne heraufgesetzt werden, werden diese Arbeitsplätze noch attraktiver für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Daher besteht die Gefahr, dass sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in Minijobs umgewandelt werden, was Probleme beim Aufkommen von Steuern und Sozialabgaben sowie bezüglich der künftigen Altersrenten aufwürfe.17

Gesetzlicher Mindestlohn und Tarifautonomie

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns stellt zweifellos einen Eingriff in die Tarifautonomie und die dort möglichen differenzierten Lösungen dar, weshalb sich manche Gewerkschaften früher dagegen ausgesprochen haben. Inzwischen ist aber deutlich geworden, dass immer weniger Arbeitgeber und Beschäftigte der Tarifbindung unterliegen, unter anderem aufgrund der neuen Regelung, dass ein Arbeitgeber dem Arbeitgeberverband angehören kann, ohne dem Tarifvertrag beizutreten. Aufgrund dieser und anderer Regelungen sind bei der hohen Arbeitslosigkeit in vielen Regionen und aufgrund des geringen Organisationsgrads der Arbeitnehmer die Gewerkschaften so schwach, dass sie zum Teil sehr niedrige Löhne akzeptieren müssen.

Deshalb reicht es für die Verkleinerung des Niedriglohnsektors nicht aus, zwecks größeren Einflusses der Tarifparteien Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Vielmehr müssen Regelungen beschlossen werden, mit denen vorgeschrieben wird, in welchem Tempo die Differenz zwischen den jetzt bestehenden tariflich vereinbarten Löhnen und dem Mindestlohn abgebaut werden muss. Zum Beispiel könnte gesetzlich vorgeschrieben werden, dass die Differenz jedes Jahr um die Hälfte verringert werden muss. Andernfalls gilt sofort der Mindestlohn. Auf diese Weise haben die Tarifparteien mehr Zeit für die Anpassung, die sie aber auf Dauer nicht vermeiden können.

Wer den hohen Wert der Tarifautonomie als Argument gegen den gesetzlichen Mindestlohn ins Feld führt, ist allerdings unglaubwürdig, wenn er vorher für Regelungen eingetreten ist, die die Position der Tarifparteien geschwächt haben, und sogar weitere „Lockerungen“ fordert, wie z.B. eine Neudefinition des Günstigkeitsprinzips, noch mehr Öffnungsklauseln und weitergehende Rechte der betrieblichen Ebene, die den Einfluss der Tarifverträge verringern.18 Stattdessen hätte man sich dafür einsetzen müssen, generell Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären, für Bereiche ohne Tarifverträge nach Ersatzlösungen zu suchen sowie Umgehungsstrategien zu erschweren oder zu verbieten. Außerdem wäre die skandalöse Regelung in den Hartz-IV-Gesetzen aufzuheben, dass Arbeitslosen auch um bis zu 30% unter dem Tariflohn entlohnte Arbeitsplätze zumutbar sind. Unabhängig davon muss der gesetzliche Mindestlohn in allen Bereichen gelten, in denen kein tarifvertraglich festgelegter Mindestlohn existiert.19

  • 1 Klartext Nr. 38/ 2013 der DGB vom 25.10.2013.
  • 2 Vgl. A. Herzog-Stein, F. Lindner, R. Zwiener: Nur das Angebot zählt? Wie eine einseitige deutsche Wirtschaftspolitik Chancen vergeben hat und Europa schadet, IMK-Report, Nr. 87, Düsseldorf, November 2013; sowie U. Stein, S. Stephan, R. Zwiener: Zu schwache deutsche Arbeitskostenentwicklung belastet Europäische Währungsunion und soziale Sicherung, IMK-Report, Nr. 77, Düsseldorf, November 2012.
  • 3 D. Groll, S. Kooths: Vor der Bundestagswahl: Argumente für Mindestlöhne überzeugen nicht, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 8, S. 545-551.
  • 4 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachte 2010/2011, Wiesbaden 2010, Textziffer 496.
  • 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland, Jahresgutachten 2012/2013, Wiesbaden 2012, Textziffer 544.
  • 6 K.-U. Müller, V. Steiner: Distributional effects of a minimum wage in a welfare state – The case of Germany, FU-Diskussionspapier, 30.10.2013.
  • 7 D. Groll, S. Kooths, a.a.O., S. 548.
  • 8 Diesen Zusammenhang betont immer wieder Alan Manning, zuletzt in A. Manning: Minimum Wages: A View from the UK, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 14. Jg. (2013), S. 57-66. Manning ist Mitglied der „Low Pay Commission“, die in Großbritannien die Mindestlöhne festsetzt.
  • 9 K. Brenke, K.-U. Müller: Gesetzlicher Mindestlohn – Kein verteilungspolitisches Allheilmittel, in: DIW-Wochenbericht, 80. Jg. (2013), Nr. 39, S. 3-17.
  • 10 O. Ehrentraut et al.: Fiskalische Effekte eines gesetzlichen Mindestlohns. Expertise im Auftrag der Abteilung: Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung, WISO-Diskurs, Bonn, Mai 2011.
  • 11 D. Groll, S. Kooths, a.a.O., S. 48.
  • 12 K. Brenke, K.-U. Müller, a.a.O., S. 11.
  • 13 Institut der deutschen Wirtschaft: IW-Dienst, Nr. 20/2013 vom 17.5.2013, S. 6. Im IW-Dienst, Nr. 42 vom 17.10.2013, S. 6, wird von einer Studie für zehn der zwölf Branchen, in denen es inzwischen einen Mindestlohn gibt, berichtet. Die Beschäftigungseffekte fallen dort unterschiedlich aus: In der Gebäudereinigerbranche ist die Wahrscheinlichkeit, neue Mitarbeiter einzustellen, sogar erhöht worden, in zwei Branchen ist sie minimal, in einer (Wäschereidienstleistungen) deutlich (-5,4%) gesunken; in fünf Branchen ist nur die Wahrscheinlichkeit gesunken, weitere Mitarbeiter einzustellen.
  • 14 K.-U. Müller: Mindestlohn im Bauhauptgewerbe: Beschäftigungseffekte nicht nachweisbar, in: DIW-Wochenbericht, 79. Jg. (2012), Nr. 47 vom 21.11.2012, S. 16-21.
  • 15 Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (Hrsg.): Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2013, Berlin (DIW), Oktober 2013, S. 56.
  • 16 Ebenda.
  • 17 Hierauf weisen K. Brenke, K.-U. Müller, a.a.O., nachdrücklich hin.
  • 18 Ganz prononciert und immer wieder von der Mehrheit des Sachverständigenrates vertreten (vgl. z.B. Jahresgutachten 2011/12, Textziffer 467, Jahresgutachten 2012/13, Textziffer 545).
  • 19 Für diese Bereiche hat sogar der CDU-Bundesparteitag vom 14./15.11.2011 (vgl. Jahresgutachten 2012/13, Textziffer 544) die gesetzliche Festlegung von Lohnuntergrenzen gefordert.

Mindestlohn: Marktmacht, Preisüberwälzung und Aufstocken – eine Erwiderung

Von Dominik Groll, Stefan Kooths

In seiner Replik führt Kromphardt im Wesentlichen zwei Argumente ins Feld,1 die die theoretische Begründung von Arbeitsplatzverlusten aufgrund eines Mindestlohns in Frage stellen sollen. Zum einen verfügten Unternehmen über Marktmacht auf dem Arbeitsmarkt, mit der Folge dass die Einführung eines Mindestlohns sogar zu höherer Beschäftigung führe. Zum anderen bestünde für die Unternehmen ein gewisser Preissetzungsspielraum (Marktmacht auf dem Gütermarkt), so dass sie nach Einführung eines Mindestlohns ihre Preise anheben könnten und somit keine Arbeitskräfte entlassen müssten. Beide Argumente, auf die wir bereits in unserem ursprünglichen Beitrag eingegangen waren, werden im Folgenden erneut diskutiert. Abschließend wird abermals auf die Aufstockerproblematik eingegangen.

Selbst bei Marktmacht Beschäftigungsverluste wahrscheinlich

Es ist unstrittig, dass die „Phantasiewelt der vollständigen Konkurrenz“2, in der auf dem Arbeitsmarkt unendlich viele kleine Anbieter (Arbeitnehmer) und Nachfrager (Arbeitgeber) ohne jede Marktmacht aufeinander treffen, in der Realität nicht vorkommt. Aus diesem Grund haben wir bewusst den Begriff der vollständigen Konkurrenz vermieden und stattdessen eine praxeologisch fundierte Argumentation herangezogen, die auf die Logik wirtschaftlichen Handelns abstellt (siehe unseren Hinweis auf Rothbard3) und somit das Wettbewerbsgeschehen weiter fasst, als es das bloße Abzählen der Anbieter und Nachfrager in einer statischen Modellwelt erlaubt.

Jedes Unternehmen kann zu einem gewissen Grad die Lohnhöhe variieren (Lohnsetzungsspielraum), ohne dass gleich die gesamte Belegschaft zu anderen Arbeitgebern wechselt (hierin besteht ja gerade der Unterschied zwischen Marginal- und Infinitesimalbetrachtung). Für die Beschäftigungswirkung eines Mindestlohns ist es allerdings entscheidend, wie ausgeprägt diese Marktmacht ist und welche Anpassungsreaktionen eine bestehende Marktmacht auf beiden Marktseiten auslösen kann. Für die Einschätzung dieser Reaktionsmuster ist eine Sichtweise erforderlich, die über rein statisches Modelldenken hinausreicht und die die Anpassungsanreize im Zeitablauf explizit berücksichtigt. Böhm-Bawerk hat bereits vor 100 Jahren die wesentlichen Mechanismen aufgezeigt.4 Kromphardts Replik bleibt hingegen in einer Modellwelt verhaftet, in der Menschen über die initiativlose Rolle eines Statisten nicht hinauskommen.

Selbst in dem Extremfall, in dem es nur einen einzigen Arbeitgeber gibt (Monopson), führt die Einführung eines Mindestlohns nur dann zu keinen Beschäftigungsverlusten (bzw. sogar zu Beschäftigungsgewinnen), wenn der Mindestlohn eine gewisse Obergrenze nicht überschreitet (diese liegt dort, wo die Grenzlohnkosten dem Wertgrenzprodukt entsprechen). Ein darüber liegender Mindestlohn führt auch in dieser Marktkonstellation unweigerlich zu Beschäftigungseinbußen.

Der Monopsonfall dürfte in der Realität allerdings kaum relevant sein. In der Regel sehen sich die Arbeitnehmer weit mehr als nur einem Arbeitgeber gegenüber. Je mehr Arbeitgeber um die gleichen Arbeitskräfte konkurrieren, desto geringer fällt die Marktmacht jedes einzelnen Arbeitgebers aus. Mit abnehmender Marktmacht verringert sich aber auch die Lohnspanne, innerhalb derer ein Mindestlohn nicht zu Beschäftigungsverlusten führt.

Um die theoretischen Argumente für Beschäftigungsverluste für „fragwürdig“ oder „wenig fundiert“ zu erklären,5 reicht es also nicht aus, auf die Abwesenheit von vollständiger Konkurrenz und somit auf das Vorhandensein von Marktmacht auf Seiten der Arbeitgeber zu verweisen. Der geplante Mindestlohn muss darüber hinaus innerhalb der (unbekannten) Lohnspanne liegen, in der es zu keinen Arbeitsplatzverlusten kommt. Dies dürfte angesichts eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, der definitionsgemäß nicht nach unternehmensspezifischen Gegebenheiten differenziert, nicht nur reiner Zufall, sondern auch höchst unwahrscheinlich sein. Zudem sind die Informationsanforderungen zur Schätzung der relevanten Lohnspannen exorbitant – sofern solche Schätzungen überhaupt machbar sind und belastbare Ergebnisse liefern können. Dass Kromphardt einerseits eine „differenzierte Betrachtung des Arbeitsmarktes [für] erforderlich“ hält,6 gleichzeitig aber mit einem völlig undifferenzierten Mindestlohn kein Problem zu haben scheint, überrascht uns.

Neben der Ausgestaltung (flächendeckend versus differenziert) ist die Höhe des Mindestlohns entscheidend. Mit 8,50 Euro je Stunde ist der von der Großen Koalition geplante Mindestlohn relativ hoch. Auch wenn die Einführung dieses Mindestlohns zum 1.1.2015 zunächst noch von Ausnahmen begleitet werden soll, werden wohl mehrere Millionen Arbeitnehmer von einer Lohnanhebung betroffen sein, die im Durchschnitt in einer Größenordnung von 25% liegen dürfte.7 Damit eine 25%ige Lohnerhöhung nicht zu Beschäftigungsverlusten führt, erfordert es weit mehr als nur ein wenig Marktmacht bei den Arbeitgebern. Gerade in typischen Niedriglohnbranchen, wie z.B. im Friseurhandwerk und in der Gastronomie, in denen zahlreiche Arbeitgeber um Arbeitskräfte konkurrieren, dürfte das erforderliche Ausmaß an Marktmacht wohl kaum gegeben sein.

Zudem bietet sich gerade bei einfachen Qualifikationen (geringe Qualifikation geht typischerweise mit geringer Spezialisierung einher) ein besonders breites Betätigungsfeld, das oftmals nicht an Branchen gebunden ist. Dies erhöht den Wettbewerb um Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor und wirkt einer Vermachtung entgegen. Käme es dennoch in einer Region zu nennenswerten Diskrepanzen zwischen dem Wertgrenzprodukt und der Lohnhöhe, so ginge hiervon ein Anreiz für neue Unternehmen aus, Produktion in diese Region zu verlagern. Geschieht dies auch über längere Zeiträume nicht, so können die durch vermeintliche Lohndrückerei erzielten Überrenditen nicht besonders groß sein. Vielmehr spiegeln dann die niedrigen Löhne von vorneherein die in dieser Region bestehenden Produktivitätsverhältnisse realistisch wider. Zugleich bestünde ein Anreiz der ortsansässigen Arbeitnehmer, sich andernorts um eine höher bezahlte Tätigkeit zu bemühen. Selbst wenn für bestimmte Gruppen am Arbeitsmarkt die Mobilitätskosten zu hoch wären, so kann doch für die jeweils nachwachsenden Jahrgänge eine sehr hohe Mobilität unterstellt werden. Durch entsprechende Abwanderungen würde damit die Marktmacht der Arbeitgeber kontinuierlich geschwächt.

Oftmals wird die Marktmacht der Nachfrager auf dem Arbeitsmarkt mit einem Lohnsenkungsdruck verwechselt und dieser als Beleg für Marktmacht herangezogen. Steigt das Angebot an einfacher Arbeit relativ zur Nachfrage, können Unternehmen geringere Löhne durchsetzen. Dies hat für sich genommen nichts mit Marktmacht zu tun, sondern ist Ausdruck eines gewöhnlichen Preisbildungsprozesses, der sogar bei „vollständiger Konkurrenz“ zu beobachten wäre.

Nicht zuletzt kann dieser Lohndruck über den internationalen Handel verstärkt werden (Stolper-Samuelson-Theorem) und zwar unabhängig davon, ob sämtliche Produkte, für die einfache Tätigkeiten herangezogen werden, handelbar sind oder nicht. Je mehr Produkte mit einfachen Tätigkeiten im Ausland produziert und von dort bezogen werden, desto mehr Arbeitskräfte werden im Inland freigesetzt, die dann in die verbliebenen Segmente drängen, die ebenfalls nur geringe Qualifikationen voraussetzen, so dass dort der Lohnsenkungsdruck steigt. Die wohlwollende Beurteilung, zu der Kromphardt für protektionistische Instrumente wie dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz („Schutz heimischer Arbeitnehmer vor ausländischer Konkurrenz“) kommt, wirft allerdings die Frage auf, wie Mindestlohnbefürworter zum Prinzip des Freihandels stehen.

Tatsächliche Marktmacht der Arbeitgeber besteht erst dann, wenn Unternehmen mit ihrem Einstellungsverhalten Einfluss auf den Marktlohn ausüben. Dies dürfte in den allermeisten Fällen, die die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne rechtfertigen sollen, nicht der Fall sein. Ob ein Konditormeister eine zusätzliche Hilfskraft einstellt oder nicht, dürfte den regionalen Markt für Hilfstätigkeiten nicht nennenswert beeinflussen.

Die von Kromphardt angeführten empirischen Beispiele überzeugen uns nicht. Weder ist bekannt, dass Regionen mit starker Automobilindustrie in besonderem Maße von „Lohndrückerei“ betroffen sind (so etwa im Beispiel von Volkswagen und Wolfsburg), noch ist nachvollziehbar, wie die von ihm für die ostdeutschen Problemregionen angeführten Charakteristika überhaupt Marktmacht begründen sollen. Alle von ihm genannten Gründe (z.B. generell niedrigeres Lohnniveau, Grenzlage zu Polen bzw. Tschechien, größerer Anteil von Kleinbetrieben) sprechen für das exakte Gegenteil. Völlig absurd ist der Hinweis, die Kleinbetriebe könnten nicht „die raffinierten, für die Gewinnmaximierung erforderlichen Grenzerlös- und Grenzausgaben-Kalküle vornehmen“.8 Wer so argumentiert, zeigt, dass er sich nicht von einer verengten mathematisierten Modellwelt zu lösen vermag.

Höhere Preise ebenfalls kein Mittel gegen Beschäftigungsverluste

Die Voraussetzungen für vollständige Konkurrenz sind nicht nur auf den Arbeitsmärkten, sondern auch auf den Gütermärkten nicht gegeben. Die Unternehmen verfügen also über einen gewissen Preissetzungsspielraum. In diesem Falle könnten sie in Reaktion auf eine Mindestlohneinführung ihre Preise anheben, um dem mindestlohnbedingten Anstieg der Grenzkosten mit einer Erhöhung der Grenzerlöse zu begegnen. Kromphardt stellt vor diesem Hintergrund fest: „Nimmt der (…) Grenzerlös genauso stark zu wie die Entlohnung, gibt es keinen Grund für den Unternehmer, Arbeitskräfte zu entlassen.“9 Dieser Fall ist zwar theoretisch richtig, dürfte aber sehr unwahrscheinlich sein. Und selbst wenn er eintritt, sind Arbeitsplatz- bzw. Einkommensverluste in anderen Teilen der Volkswirtschaft die Folge.

Kromphardt weist selbst darauf hin, dass bei steigenden Preisen die nachgefragte Menge sinkt, sofern die Nachfrage nicht völlig preisunelastisch ist.10 Letzteres dürfte extrem unwahrscheinlich sein, denkt man an Branchen wie das Friseurhandwerk und die Gastronomie, deren Dienstleistungen substituierbar sind (Friseurbesuche werden zeitlich gestreckt, es wird häufiger zuhause gegessen). Ein Rückgang der Nachfrage nach den von den betroffenen Arbeitnehmern produzierten Gütern und somit ein Rückgang der Beschäftigung dürften somit der Normalfall sein.

Selbst im unwahrscheinlichen Extremfall, in dem die Nachfrage völlig preisunelastisch ist, kommt es zu Arbeitsplatz- bzw. Einkommensverlusten, nur eben an anderer Stelle der Volkswirtschaft. Zwar behielten in diesem Fall die vom Mindestlohn betroffenen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz, und ihr Einkommen würde trotz Preiserhöhungen real steigen. Der weitaus größere Teil der Bevölkerung (Arbeitnehmer, deren Löhne über dem Mindestlohn liegen, Rentner, Selbständige, Arbeitslose etc.), die kein höheres Einkommen zur Verfügung hätten, müssten aufgrund der Preiserhöhungen jedoch ihre Ausgaben für andere Güter reduzieren. In diesen Bereichen käme es notwendigerweise zu einem Rückgang der Nachfrage und somit zu Beschäftigungsverlusten bzw. zu Lohneinbußen. Im Ergebnis wäre die Einführung des Mindestlohnes dann eine Lohnumverteilung zwischen verschiedenen Arbeitnehmergruppen. Dies wirft jedoch die Frage auf, wie die Lohnstruktur vor Einführung des Mindestlohns überhaupt zustande gekommen ist. In dem Maße, wie hierfür Produktivitätsunterschiede ausschlaggebend waren, werden diese die hier als Extremfall unterstellten Überwälzungspotenziale nicht dauerhaft zulassen, sondern letztlich die angestoßene Lohnumverteilung rückgängig machen.

Sofern die Mindestlohnbezieher ihr höheres Einkommen für Güter von anderen Niedriglohnsektoren ausgeben und so die Nachfrage dort erhöhen, was von Kromphardt mit dem Hinweis auf einen hohen Anteil des regionalen Absatzes in den Dienstleistungsbereichen besonders hervorgehoben wird,11 würde sich zudem an der wirtschaftlichen Situation der vom Mindestlohn betroffenen Arbeitnehmer nichts ändern, da der Lohnanstieg durch einen gleich hohen Preisanstieg kompensiert würde. Zwar behielten die betroffenen Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz, sie erführen aber keine Reallohnerhöhung.

Die Kombination aus Mindestlohnargumentation, Überwälzungstheorien und Nachfrageeffekten dreht sich im Kreis und hängt damit völlig in der Luft. Die Lohnhöhe wird bei dieser Sichtweise letztlich als „Machtproblem“ gedeutet. Dass es auch auf dem Arbeitsmarkt um relative Preise geht, in denen sich die unterschiedlich ausgeprägte Knappheit von Qualifikationen widerspiegelt, erwähnt Kromphardt an keiner Stelle. Bevor man Mindestlöhne fordert und den Unternehmen anschließend anheim stellt, die Preise reallohnneutral anzuheben, sollte man der Frage nachgehen, was die geringe reale Entlohnung einiger Tätigkeiten tatsächlich bestimmt. Darauf haben wir in unserem Beitrag hingewiesen, bei Kromphardt findet sich dazu nichts.

Die am Markt gefundenen Reallöhne müssen nicht zwingend dem entsprechen, was man aus anderen als Produktivitätserwägungen für wünschenswert hält (sozio-kulturelles Existenzminimum). Dem muss man dann mit adäquaten sozialpolitischen Instrumenten begegnen (wie einem anreizkompatiblen Steuer-Transfer-System, s.u.), um den Betroffenen kurzfristig zu helfen. Für eine langfristige Lösung sind demgegenüber Maßnahmen erforderlich, die das Problem an der Wurzel packen und die Produktivität der Arbeitnehmer durch Verbesserung ihrer Qualifikation erhöhen. Nochmals: Die marktwirtschaftliche Bewertung von Arbeitsleistungen leitet sich von der Wertschätzung der mit ihnen produzierten Güter ab. Und diese Wertschätzung kann man nicht per Gesetz beschließen.

Auch kann von einer „Niedriglohnstrategie“ in Deutschland, wie Kromphardt es nennt,12 überhaupt keine Rede sein. Die Hartz-Reformen, die eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen umfassten, wurden im Wesentlichen vor dem Hintergrund der untragbar hohen Arbeitslosigkeit beschlossen. Die durch die Reformen angestoßene Ausweitung des Arbeitsangebots in den unteren Lohnbereichen hat sicherlich zu einem Druck auf die dortigen Löhne geführt. Diese Angebotsausweitung hat zum einen jedoch nichts mit Marktmacht in dem Sinne zu tun, dass ein Mindestlohn zu keinen Beschäftigungsverlusten führen würde. Zum anderen korrigierten die Reformen Fehlanreize, die von dem damaligen System der Arbeitslosenhilfe ausgegangen waren.

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass wir uns zum Einfluss von gesetzlichen Mindestlöhnen auf die Tarifautonomie in unserem Beitrag überhaupt nicht geäußert haben. Wir geben an dieser Stelle zu bedenken, dass zur Tarifautonomie auch die negative Koalitionsfreiheit gehört. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer miteinander unmittelbar Verträge schließen wollen, die beide für sich jeweils als vorteilhaft beurteilen, muss das möglich sein. Auch das gehört zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Diese Debatte kann an dieser Stelle nicht vertieft werden.13

Aufstocken durch ALG II keine Lohnsubvention

Die Hinzuverdienstregeln beim Arbeitslosengeld II (ALG II) werden oft als Lohnsubvention fehlinterpretiert. So auch von Kromphardt: „Wenn sich Erwerbstätige ihr niedriges Erwerbseinkommen durch die Jobcenter auf das Niveau von Hartz IV aufstocken lassen müssen, um das Existenzminimum zu erreichen, stellt dies eine Lohnsubvention zugunsten der Arbeitgeber dar.“14 Diese Aussage entspricht – wenn überhaupt – nur selten der Realität.

Richtig ist, dass ein Arbeitnehmer, dessen Nettolohneinkommen (nach Abzug der Freibeträge) unterhalb seines ALG-II-Anspruchs liegt, zusätzlich ALG II erhält, sofern die Voraussetzungen für Bedürftigkeit erfüllt sind. Dieser staatliche Transfer ist allerdings derart ausgestaltet, dass die Summe aus Nettolohneinkommen und ALG II stets größer ist als das ALG II. Dies verhindert, dass die finanziellen Arbeitsanreize für ALG-II-Bezieher erstickt werden. Von jedem verdienten Euro darf ein ALG-II-Bezieher daher in der Regel einen bestimmten Teil behalten; das Lohneinkommen wird nicht vollständig auf das ALG II angerechnet. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss, dass sich ein Arbeitnehmer eine Lohnsenkung nicht vollständig vom Staat zurückholen kann, sondern nur teilweise. Das Gesamteinkommen eines Aufstockers sinkt daher bei einer Lohnsenkung. Er hat keinen Anreiz, sich darauf einzulassen. Lediglich in einem eng begrenzten Einkommensbereich kann eine Lohnsenkung vollständig durch zusätzliches ALG II kompensiert werden. Diese Fehlkonstruktion im Steuer-Transfer-System sollte schnellstmöglich durch eine entsprechende Anpassung der Anrechnungsformeln behoben werden.15 Die Einführung von Mindestlöhnen lässt sich hierüber nicht rechtfertigen, weil das Problem nicht auf dem Arbeitsmarkt, sondern im Steuer-Transfer-System zu verorten ist.

Ob ein Arbeitnehmer Anspruch auf ALG II hat, hängt nicht von seinem Stundenlohn ab, sondern von seinem Gesamteinkommen einschließlich aller Einkommensarten, von seinen Vermögensverhältnissen und insbesondere von seinem Haushaltskontext. So kann es sein, dass von zwei Personen, die beim selben Unternehmen den gleichen Stundenlohn erhalten, nur eine Person Anspruch auf ALG II hat. Die andere Person hat beispielsweise deswegen keinen Anspruch, weil sie in einem Haushalt lebt, in dem eine weitere Person Einkommen bezieht. Der Unternehmer kann allein aufgrund des Stundenlohns, den er bezahlt, nicht wissen, wie viele seiner Arbeitnehmer – wenn überhaupt – aufstocken. Auch dies spricht gegen die Interpretation als Lohnsubvention.

Der Zusammenhang zwischen dem Aufstocken und einem niedrigen Stundenlohn ist indes weit weniger stark als oft behauptet. Lediglich ein geringer Teil derjenigen Arbeitnehmer, die weniger als 8,50 Euro verdienen, stockt auf. Über 6 Mio. Arbeitnehmern mit einem Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro stehen 1,3 Mio. Aufstocker gegenüber.16 Ein wichtiger Grund für die Diskrepanz ist, dass Niedriglohnbezieher oft in Haushalten leben, in denen eine andere Personen mehr verdient.17 Ein Mindestlohn kann solche Umstände nicht berücksichtigen.

Eine Alternative zum „Aufstockermodell“ bestünde darin, jegliches Arbeitseinkommen vollständig auf das ALG II anzurechnen. Dies käme der ökonomischen Wirkung eines gesetzlichen Mindestlohns gleich („impliziter Mindestlohn“). Denn keine Person hätte mehr einen finanziellen Anreiz, zu einem niedrigeren Stundenlohn zu arbeiten (zumindest nicht auf dem legalen Arbeitsmarkt). Freiwillige Arbeitslosigkeit wäre die Folge. Das „Phänomen der Aufstocker“ wäre dann zwar verschwunden. Die wirtschaftliche Situation der betroffenen Personen würde sich jedoch verschlechtern. Könnte die Person durch ALG II aufstocken, wäre ihr Gesamteinkommen höher. Zudem wäre sie in den ersten Arbeitsmarkt integriert und hätte so die Möglichkeit, im weiteren Verlauf ihres Erwerbslebens ihr Lohneinkommen durch zunehmende Erfahrung, „on-the-job training“, das Ansammeln von betriebsspezifischem Humankapital und aufgrund vieler weiterer Faktoren zu steigern und so nicht mehr auf ALG II angewiesen sein zu müssen. Diese Möglichkeit bliebe ihr bei Verharren in Arbeitslosigkeit verwehrt.

  • 1 J. Kromphardt: Mindestlohn: Warnung vor massiven Arbeitsplatzverlusten wenig fundiert – eine Replik, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 1, S. 41-45.
  • 2 J. Kromphardt, a.a.O., S. 42.
  • 3 M. Rothbard: Man, Economy, and State with Power and Market, Auburn (Alabama) 2009.
  • 4 E. v. Böhm-Bawerk: Macht oder ökonomisches Gesetz?; in: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd. XXIII (1914), S. 205-271.
  • 5 J. Kromphardt, a.a.O., S. 41.
  • 6 Ebenda, S. 42.
  • 7 Die Herleitung dieser Zahl ist beschrieben in J. Boysen-Hogrefe, D. Groll, S. Kooths, B. van Roye, J. Scheide: Deutschland: Konjunktur kommt allmählich in Schwung, Deutsche Konjunktur im Winter 2013, Kieler Diskussionsbeiträge 530/531, Kasten 2.
  • 8 J. Kromphardt, a.a.O., S. 43.
  • 9 Ebenda, S. 42.
  • 10 Ebenda.
  • 11 J. Kromphardt, a.a.O., S. 43.
  • 12 Ebenda, S. 41.
  • 13 Ein Hinweis auf Parteitagsbeschlüsse („Für diese Bereiche hat sogar der CDU-Bundesparteitag (…) die gesetzliche Festlegung von Lohnuntergrenzen gefordert.“ – Ebenda, S. 45.) kann eine ökonomische Argumentation jedenfalls nicht ersetzen.
  • 14 J. Kromphardt, a.a.O., S. 44.
  • 15 Vgl. hierzu den Vorschlag von A. Boss: Verhindert ein Mindestlohn eine Ausbeutung des Staates?, Kiel Working Paper, Nr. 1884 (2013).
  • 16 Die Gruppe der Aufstocker ist keine reine Teilmenge der Niedriglohnbezieher. Unter den Aufstockern sind auch Selbständige und Arbeitnehmer mit Stundenlöhnen von über 8,50 Euro zu finden.
  • 17 Vgl. M. Heumer, H. Lesch, C. Schröder: Mindestlohn, Einkommensverteilung und Armutsrisiko, in: IW-Trends, 1/2013; sowie K.-U. Müller, V. Steiner: Behavioral Effects of a Federal Minimum Wage and Income Inequality in Germany, Beiträge zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik 2013: Wettbewerbspolitik und Regulierung in einer globalen Wirtschaftsordnung – Session: SOEP Analysis, Nr. E11-V1.

Title:Critical Remarks on Groll und Kooths’ “Arguments in Favour of Minimum Wages Not Convincing” and Their Response

Abstract:This article by Jürgen Kromphardt argues against the view that the introduction of a legal minimum wage of €8.50 per hour for all jobs will result in a massive reduction of jobs. He finds the theoretical foundation of this forecast very shaky, because the assumptions of this model are not fulfilled in the real world. It is thus unsurprising that empirical analyses do not corroborate it. Groll and Kooths respond that neither demand-side market power in the labour market nor supply-side price-setting capacity in the goods market are sufficient reasons to justify the introduction of minimum wages. They reiterate the major arguments both in the narrow environment of a static market model and in a more enriched framework that puts human action in the centre of economic analysis. They also show that topping up low incomes within the German ALG II transfer system can hardly be considered a wage subsidy.


DOI: 10.1007/s10273-014-1623-8