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In den vergangenen Jahren passte die Entwicklung von Bruttoinlandsprodukt und Beschäftigung nicht zu der Vorstellung, dass die Arbeitsnachfrage wesentlich von der Konjunktur beeinflusst wird. Dieser Beitrag konkretisiert, inwiefern und warum sich der Arbeitsmarkt von der Konjunktur abgekoppelt hat und welche Determinanten stattdessen an Bedeutung gewonnen haben.1

An konjunkturelle Schwankungen der Güternachfrage passen die Unternehmen den Beschäftigtenstand oder/und die Arbeitszeit, die Arbeitsintensität und den Kapitalstock an. Durch die drei letztgenannten variiert auch die Produktivität eines Beschäftigten. Je stabiler aber die Produktivität ist, desto mehr überträgt sich die Konjunktur des Gütermarktes auf den Arbeitsmarkt. So führte 1977/1978 ein kräftiges Wirtschaftswachstum um 6,6% zu einem Anstieg der Beschäftigung um 2,2%. Und als in der Rezession 2002/2003 das reale BIP um 0,4% schrumpfte, sank auch die Zahl der Arbeitnehmer um 1,9%. Diese Beispiele verdeutlichen das übliche Muster in der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte: Die Beschäftigung wuchs schwächer bzw. schrumpfte stärker als das BIP. Damit ging ein steter Anstieg der Produktivität einher, zum Teil infolge des technischen Fortschritts, zum Teil weil sich die Betriebe in wirtschaftlichen Schwächephasen eher für Entlassungen als für die – oft teurere – Anpassung ihres Kapitalstocks entschieden.

Die prominenteste Ausnahme von dieser Regel ist die Große Rezession. 2009 schrumpfte das reale BIP um 5,6%; die Zahl der Arbeitnehmer blieb aber praktisch unverändert. Die Rezession wurde durch Einbußen bei der Produktivität pro Arbeitnehmer (und darin etwa zur Hälfte durch die Arbeitszeit) absorbiert. In abgeschwächtem Maße hatte es ein solches „Labour Hoarding“ auch früher schon gegeben, z.B. zu Beginn der 1980er Jahre.

Allerdings markiert die Große Rezession nicht nur eine außergewöhnliche, aber vorübergehende Abweichung vom produktivitätsgetriebenen Wachstum. Sie markiert auch den Beginn einer grundsätzlich schwächeren Produktivitätsentwicklung, wenn man Erholungseffekte von 2010 einmal außer Acht lässt. Anders ausgedrückt: Gemessen an der seither durchwachsenen wirtschaftlichen Entwicklung war der Anstieg der Beschäftigung relativ stark. So nahm die Zahl der Arbeitnehmer in den Jahren 2012/2013 – fast wie im Beispiel 1977/1978 – um 2,1% zu. Diesmal hatte es jedoch nur einen Konjunkturimpuls von mageren 1,4% Wirtschaftswachstum gegeben. Heißt das nun, das Wirtschaftswachstum ist beschäftigungsintensiver geworden? Oder heißt das, die Konjunktur schlägt nicht mehr so stark wie einst auf den Arbeitsmarkt durch, sondern wird durch andere Faktoren ersetzt oder doch mindestens substanziell ergänzt?

Geringere Konjunktureffekte auf die Beschäftigung

Um diese zwei Möglichkeiten zu unterscheiden, haben wir das Beschäftigungswachstum zum Wirtschaftswachstum in Beziehung gesetzt und zusätzlich eine vom BIP unabhängige Komponente modelliert. Der Einfluss des BIP auf die Beschäftigung – die Verdoorn-Relation2 – wird durch einen Koeffizienten ausgedrückt, der über die Zeit variiert. Je kleiner dieser Verdoorn-Koeffizient ist, desto schwächer übersetzt sich die Konjunktur in die Beschäftigung: Bei einem Anstieg des BIP entstehen nur wenige neue Arbeitsplätze, bei einer Schrumpfung verlieren wenige Personen ihre Arbeit. Dieser zeitvariable Koeffizient gibt Aufschluss darüber, welche der oben formulierten Hypothesen zutrifft. Bei einer höheren Beschäftigungsintensität des Wirtschaftswachstums wäre der Koeffizient in den vergangenen Jahren gestiegen, bei einer Entkopplung von Beschäftigungs- und Wirtschaftswachstum gesunken.

Das Steigen und Fallen des Koeffizienten lässt sich auf unterschiedliche Gründe zurückführen. Diese können struktureller Natur sein, also dauerhafte Effekte erzeugen. Sie können aber auch zyklischer Natur sein und lediglich vorübergehende Veränderungen bewirken. Deshalb besteht der zeitvariable Koeffizient aus einer strukturellen und einer zyklischen Komponente (vgl. Abbildung 1). Nach einem kräftigen Anstieg zu Beginn der 1970er Jahre bewegte sich die strukturelle Komponente bis zur Mitte der 1990er Jahre um einen Wert von 0,4 – ein zusätzlicher Prozentpunkt BIP-Wachstum (Schrumpfung) erhöhte (senkte) das Beschäftigungswachstum um 0,4 Prozentpunkte. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre setzte eine leichte Abwärtstendenz ein, die sich zur Zeit der Großen Rezession 2008/2009 abrupt verstärkte. Dies ist ein Grund für das deutsche „Beschäftigungswunder“: Der kräftige Einbruch des BIP wurde wesentlich schwächer an den Arbeitsmarkt weitergegeben als zuvor üblich. Dieser mildernde Effekt wurde von der negativen zyklischen Komponente noch verstärkt, und der gesamte Koeffizient erreichte während der Großen Rezession den bis dahin tiefsten Wert. Interessanterweise stieg der Einfluss des BIP auf die Beschäftigung nicht auf den früheren Wert zurück, als sich die deutsche Wirtschaft längst erholte. Die Große Rezession hat einen permanenten Effekt auf den Zusammenhang zwischen BIP und Beschäftigung hinterlassen, sie hat diesen Zusammenhang dauerhaft gelockert.3 Im Vergleich zur Situation vor 20 oder 40 Jahren hat sich die Stärke, mit der das BIP-Wachstum auf das Beschäftigungswachstum durchschlägt, halbiert.

Abbildung 1
Zeitvariabler Parameter für den Einfluss des BIP auf die Beschäftigung und seine Komponenten
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Quelle: eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamts.

Die zyklische Komponente schwankt zwischen -0,2 und 0,1. Das heißt: Der Effekt, den ein zusätzlicher Prozentpunkt BIP-Wachstum auf die Beschäftigung hat, kann infolge vorübergehender Einflüsse um bis zu 0,2 Prozentpunkte abgesenkt oder 0,1 Prozentpunkte erhöht werden. In der Regel wird die Wirkung unmittelbar vor einer Rezession verstärkt (vgl. den Anstieg der hellblauen Linie jeweils am Beginn der grau schattierten Balken). Demnach wurde die Beschäftigung zyklisch bedingt etwas stärker an Rezessionen angepasst als an Aufschwünge. Auch dies hat sich seit der Großen Rezession deutlich abgeschwächt.

Warum sich die Beschäftigungsintensität des BIP ändert

Für die strukturelle Komponente der Beschäftigungsintensität des BIP spielt der sektorale Wandel eine herausragende Rolle. Weil Firmen unterschiedlich auf die Konjunktur reagieren, beeinflusst die Heterogenität zwischen Firmen, Sektoren usw. die gesamtwirtschaftliche Konjunkturwirkung. So hat der Dienstleistungssektor eine geringere Produktivität und eine geringere Volatilität über den Konjunkturzyklus als die Industrie. Je bedeutsamer Dienstleistungen im Lauf der Jahrzehnte geworden sind, desto schwächer wurde der aggregierte Konjunktureffekt. Des Weiteren hat die Große Rezession einen dauerhaften Abdruck in der Wirtschaftsstruktur hinterlassen: Der Sektor Handel/Gastgewerbe/Verkehr hat die seinerzeit eingebüßten Wertschöpfungsanteile nicht wieder aufgeholt; auch dies senkt den Verdoorn-Koeffizienten. Ferner führen weniger pessimistische Konjunkturerwartungen in einem Abschwung zu weniger Entlassungen. Die Betriebe halten ihre Mitarbeiter und begrenzen so die Wirkung einer Rezession, wenn sie eine relativ kurze oder milde Wirtschaftsschwäche erwarten.

Auch die zyklische Komponente des BIP-Einflusses auf die Beschäftigung hängt von der sektoralen Wirtschaftsstruktur ab, die sich entlang von Produktionsketten auch kurzfristig über den Konjunkturzyklus ändert. Darüber hinaus dämpft die Arbeitsmarktanspannung (Zahl der offenen Stellen je Arbeitslosem) die Beschäftigungswirkung in Rezessionen. Das Horten von Arbeitskräften kommt hier als kurzfristige Strategie zum Einsatz, um bei einem angespannten Arbeitsmarkt den Personaleinsatz zu glätten und später lange und teure Rekrutierungsprozesse zu vermeiden. Zudem schwankt die Beschäftigung zyklisch bedingt stärker mit dem BIP, wenn das Erwerbspersonenpotenzial schneller wächst, sodass Unternehmen aus einem umfangreicheren Angebot von Arbeitskräften auswählen können. Ein wachsendes Arbeitsangebot ist in diesem Sinne als Gegengewicht zu einem angespannten Arbeitsmarkt zu sehen: Es erlaubt den Unternehmen mehr Spielraum bei der Anpassung des Personalbestands. Der Wachstumsbeitrag von Investitionen oder die Zahl von Patentanmeldungen als Proxy für technischen Fortschritt waren in den Regressionsanalysen nicht signifikant.

BIP-abhängiges und BIP-unabhängiges Beschäftigungswachstum

Im Durchschnitt beträgt das BIP-abhängige Beschäftigungswachstum pro Quartal 0,2%. Dieser Wert verschiebt sich nach oben oder unten, wenn entweder der Koeffizient (Verdoorn-Effekt) oder das BIP-Wachstum (BIP-Effekt) jeweils von seinem Durchschnitt abweicht. Darüber hinaus variiert das Beschäftigungswachstum unabhängig vom BIP (autonomer Effekt). Die drei Effekte sind in Abbildung 2 dargestellt. Die Beschäftigungswirkung der Großen Rezession blieb begrenzt, weil der stark negative BIP-Effekt durch einen außergewöhnlich großen positiven Verdoorn-Effekt und ein ebenfalls kräftiges autonomes Beschäftigungswachstum aufgewogen wurde. Die anschließende Erholung war aufgrund des kleinen Verdoorn-Koeffizienten dann vergleichsweise beschäftigungsarm. Der autonome Effekt hingegen stützt die Beschäftigung seit 2007 beinahe durchgängig. Er belegt, dass die gute Arbeitsmarktentwicklung nach den Hartz-Reformen kein rein konjunkturelles Phänomen war. Im Gegenteil, in den beiden jüngsten Rezessionen wirkten die deutlichen BIP-unabhängigen Beschäftigungszuwächse dem BIP-Effekt entgegen. Üblicherweise verstärkten BIP-unabhängige Einflüsse die Konjunkturwirkung auf die Beschäftigung. Nun aber waren sie in der Lage, die ungünstige Konjunktur zu kompensieren.

Abbildung 2
Zerlegung in BIP-abhängiges und BIP-unabhängiges Beschäftigungswachstum
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Quelle: eigene Berechnungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamts.

Was erklärt die Beschäftigung, wenn nicht die Konjunktur?

Auch der konjunkturunabhängige Teil des Beschäftigungswachstums wird durch sektorale Verschiebungen getrieben, besonders durch die Bauwirtschaft und den Dienstleistungssektor. Darüber hinaus zeigt sich, dass Arbeitszeit ein Substitut für Beschäftigung ist – wenn pro Arbeitnehmer länger gearbeitet wird, wächst die Beschäftigung schwächer. Als Preis der Arbeit dämpft auch ein steigender Lohn die Beschäftigungsentwicklung.

Dagegen veranlasst ein angespannter Arbeitsmarkt die Unternehmen, unabhängig von der Konjunktur einzustellen. Diese Arbeitskräfte mögen zunächst wenig produktiv sein – am nächsten Aufschwung jedoch hat das Unternehmen unmittelbar teil, da dann das Personal bereits eingestellt und eingearbeitet ist. Die Arbeitsmarktanspannung war im Aufschwung nach den Hartz-Reformen deutlich gestiegen und hatte um den Jahreswechsel 2011/2012 – mitten in der europäischen Rezession – einen neuen Rekordwert erreicht. Sie erklärt wesentlich die zuletzt große Bedeutung der autonomen Komponente. Das Erwerbs­personenpotenzial wurde mit etwas Verzögerung als beschäftigungstreibender Faktor identifiziert. Ohne die zunehmende Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren und ohne die zuletzt außerordentlich hohe Zuwanderung vor allem aus Ost- und Südeuropa könnte die Beschäftigung aktuell nicht so stark wachsen, zumal vielen Zuwanderern die direkte Beschäftigungsaufnahme gelingt.

Schlussfolgerungen für die Politik

Trends wie der sektorale Wandel verändern nicht nur die Struktur, sondern auch die Zusammenhänge von Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Nach unseren Ergebnissen ist eine gewinnbringende Arbeitsmarktentwicklung nicht mehr nur abhängig von einer erfolgreichen Wachstums­politik, sie ist eigenständiger Teil derselben. Nachfrageseitige Impulse können rezessionsmildernd wirken, aber nicht mehr in dem Maße wie in früheren Jahrzehnten. Weiterführende Faktoren müssen in den Fokus genommen werden. Wichtig ist z.B. die Unterstützung flexibler Bildungswege über das ganze Berufsleben, um Arbeitnehmer davor zu bewahren, dass ihr Wissen im Laufe des Strukturwandels veraltet. Auch zeigte sich, dass angespannte Arbeitsmärkte Unternehmen zum Beschäftigungsaufbau bzw. Arbeitnehmerhorten veranlassen. Mittelfristig liegt darin auch eine Gefahr: Der Arbeitsmarkt könnte zu wenig Dynamik entwickeln, um das notwendige Entstehen und Verschwinden von Jobs zu gewährleisten, mit dem Deutschland ein hochproduktiver und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsstandort bleibt. Die Unternehmen werden weitere Strategien benötigen, um potenziellen Fachkräfteengpässen entgegenzuwirken. Handlungsfelder für die Politik sind in diesem Zusammenhang wieder Bildung und Weiterbildung, aber auch Migration und Stärkung der Innovationsfähigkeit.

  • 1 Für ausführliche Erläuterungen, technische Details und Literaturverweise vgl. S. Klinger, E. Weber: On GDP-employment decoupling in Germany, IAB Discussion Paper, Nr. 21/2014, Nürnberg.
  • 2 Benannt nach dem Ökonomen P. J. Verdoorn, der 1949 den Zusammenhang zwischen BIP- und Produktivitätswachstum erstmals bezifferte.
  • 3 Das heißt nicht, dass der Koeffizient in künftigen Jahren nicht erneut steigen könnte, aber dafür bedürfte es eines neuen Impulses.

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DOI: 10.1007/s10273-014-1744-0