Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Beim vierten Verbraucherforschungsforum an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen entwickelten Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen gemeinsam eine Agenda für die Verbraucherforschung in der digitalen Welt. Im Zeitgespräch dokumentieren wir die Impulsreferate zu wesentlichen politischen, wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Aspekten.

Verbraucherforschung in der digitalen Welt: eine Agenda

Im Oktober 2015 kamen knapp 60 Verbraucherforscher aus ganz Deutschland an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen zum nunmehr vierten Verbraucherforschungsforum zusammen. Ziel dieses Forums war es, gemeinsam eine Agenda für die Verbraucherforschung in der digitalen Welt zu entwickeln. Hierzu wurden zunächst in verschiedenen Impulsreferaten wesentliche politische, rechtliche, wirtschaftliche, technische und schließlich gesellschaftliche Aspekte vermittelt und diskutiert. Die damit angesprochene Strukturierung führte zu der folgenden Agenda, die keinesfalls erschöpfend ist, gleichwohl aber wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Verbraucherpolitikforschung und der Verbraucherwissenschaften insgesamt bilden kann.

Sechs wichtige Forschungsfelder

  • Als ein erstes Forschungsgebiet wurde der Bereich „Governance“ identifiziert. In den entsprechenden Forschungsarbeiten wären unter anderem Fragen danach zu beantworten, welche Rolle und Bedeutung die verschiedenen verbraucherpolitischen und -wissenschaftlichen Institutionen im digitalen Kontext sowie bei der Gestaltung entsprechender Transformationsprozesse spielen sollten. Von besonderer Bedeutung wäre dabei die Frage nach der Organisation etwaiger Monitoring-Aufgaben, wie sie sich z.B. im Konzept der digitalen Marktwächter bereits andeutet. In diesem Kontext wäre zu beachten, dass durch die Organisation dieser Aufgaben latente Konfliktpotenziale entstehen können (z.B. durch eine unklare Aufgabenverteilung oder Legitimationsdefizite). Zudem wären hierbei auch Fragen nach der (effizienten) Einbindung und Koordination zivilgesellschaftlicher Gruppen (z.B. dem Chaos Computer Club) in den Governance-Prozess zu adressieren. Beispielsweise könnte die einschlägige Community nach Meinung der Internetbotschafterin der Bundesregierung, Gesche Joost, systematisch Aufklärung leisten und Feedback zu verbraucherrelevanten Entwicklungen und Ereignissen geben. Damit verbunden könnten sich für die Verbraucherforschung neue methodische Fragestellungen ergeben, die wiederum neue Institutionen, wie sie sich z.B. im Konzept der Reallabore bzw. Citizen Labs als Instrument der transformativen Begleitforschung bereits manifestieren, erfordern.
  • Ein zweites wichtiges Forschungsfeld bildet der Bereich der „Verbraucherbildung“. In diesem Bereich käme es einerseits darauf an, die Teilhabe im Sinne einer „digital literacy“ in der formalen, schulischen Bildung mit der Entwicklung innovativer Konzepte mit entsprechender (fachdidaktischer) Begleitforschung sicherzustellen und andererseits Fragen nach der Vermittlung und Nutzung von individuellen Meta-Kompetenzen zu eruieren. Ebenfalls könnten mit Blick auf die begrenzten kognitiven Fähigkeiten der Verbraucher Fragen danach gestellt werden, inwiefern Ansätze einer eher systemisch-kollektiven Bildung entwickelt werden könnten bzw. von Bedeutung sind. Letztlich könnte es dann ausreichend sein, dass einige Verbraucher in bestimmten Situationen über ein ausreichendes Wissen verfügen und damit für einen ausreichenden kollektiven und individuellen Schutz sorgen. Wichtig ist eine grundlegende Reflektion der Möglichkeiten, die die digitale Welt bietet; „nicht alles, was getan werden kann, sollte getan werden“ (Dirk Heckmann, Universität Passau). Gefragt ist hier die Fähigkeit der Datensensibilität oder „digitalen Empathie“.
  • Das dritte identifizierte Forschungsfeld bildet der Bereich „Recht“. Hier steht naheliegenderweise zunächst einmal die Frage im Raum, welcher rechtliche Rahmen aus zu explizierenden Gründen angestrebt werden sollte. Da diese Frage nur auf einem entsprechenden ethischen und politischen Fundament beantwortet werden kann, stellt sich die Folgefrage nach einer Netz­ethik und den daraus ableitbaren Prinzipien (z.B. dem Vorsorgeprinzip). Zudem hält Dirk Heckmann die Entwicklung und Erforschung innovativer Rechtsinstrumente für eine wichtige Aufgabe der Verbraucherforschung. Schließlich wäre übergreifend zu diskutieren, ob und wenn ja welche Rechte von Konsumenten in der digitalen Gesellschaft neu definiert werden müssen, um „die digitale Souveränität wirksam zu schützen“ (Gesche Joost). Wertecodices für Big Data und Widerrufsrechte sind entsprechende Beispiele.
  • Im vierten Forschungsfeld „Technik“ ergibt sich auf deskriptiver Ebene die Frage danach, welche „digitalen Ökosysteme“ (Frank Theisen, IBM Stuttgart) unterschieden werden können und wie deren jeweilige Prävalenz ist. Die Technik ist gestaltbar, und das Netz ist gestaltbar – die Frage ist nur, von wem und in welche Richtung? Darauf aufbauend könnte ein besonderer Schwerpunkt der Verbraucherforschung im digitalen Kontext im Forschungsfeld der „Privacy“ liegen („Privatheit by Default“, Gesche Joost). Zudem stellt sich die Frage, wie mit dem Themengebiet der betrieblichen Nutzung von Big Data umgegangen werden sollte. Hier wäre es zunächst einmal wichtig, aktuelle betriebliche Entwicklungen zu erfassen, zu beschreiben und zu bewerten. Darauf aufbauend könnten gegebenenfalls differenzierte Erklärungsansätze entwickelt werden, die die Basis zur Ableitung verbraucherpolitischer bzw. rechtlicher Maßnahmen bilden könnten. Deren Wirkung wäre wiederum ex ante, ex interim und ex post zu erforschen.
  • Von ebenfalls hoher Bedeutung wäre das fünfte Forschungsfeld, die „Ökonomik“. Hier stellt sich zunächst einmal die grundsätzliche Frage danach, ob die bestehenden wirtschaftswissenschaftlichen Theorien ausreichend sind, um die derzeit ablaufenden ökonomischen Prozesse hinreichend beschreiben und erklären zu können. Besondere Beachtung sollte dabei auch der Aspekt der im Kontext der Digitalisierung oft nachhaltig veränderten Transaktions- und Grenzkosten finden, die einen Einfluss auf die Produktion und Distribution der entsprechende Leistungen haben können. Die Diskussion dieser Aspekte ist deswegen zentral, weil zahlreiche maßgebliche Akteure der digitalen Welt primär ökonomisch motiviert sind. Ein besseres Verständnis der damit verbundenen Mechanismen, beispielsweise im Hinblick auf die jeweiligen Geschäftsmodelle, würde somit einen guten Ansatzpunkt für etwaige verbraucherpolitische Interventionen darstellen und einen wichtigen Hinweis auf die richtige Eingriffstiefe bilden.

Dabei wäre es auch wichtig zu erkennen, dass die Digitalwirtschaft primär durch Optimierungsprobleme gekennzeichnet ist, die es zu explizieren und zu vermitteln gilt (Peter Buxmann, Technische Universität Darmstadt). Zudem sollte beachtet werden, dass sich die Rolle des Verbrauchers in der digitalen Welt gravierend verändert hat. So ist nicht zuletzt aufgrund gesunkener Transaktionskosten eine zunehmende Integration des Verbrauchers in die Leistungserstellung zu beobachten, die in einer Maker-Society (Gesche Joost) münden kann, in der die Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten kaum noch erkennbar und variabel sind und die zudem einen erheblichen Einfluss auf den Wissens-transfer zwischen den Marktakteuren haben kann. In diesem Zusammenhang sollte auch das Phänomen der indirekten Netzeffekte sowie deren Reversibilität durch die Verbraucherforschung durchdrungen werden. Zudem stellt sich die Frage, ob ein Forschungsfeld „Konsumeffizienz“ wertvolle Impulse für bereits ablaufende Prozesse im Bereich der „Sharing Economy“ liefern könnte.

  • Das sechste und letzte im Rahmen des Verbraucherforschungsforums identifizierte Forschungsfeld bildet schließlich die „Sozialpsychologie“. Dieses Forschungsfeld könnte eng mit einschlägigen Entwicklungen in der Soziologie verbunden werden. Dort stellt sich z.B. die Frage nach den Mechanismen zur Bewältigung von Konflikten im Kontext der Notwendigkeit der „analogen Kontrolle digitaler Prozesse“ (Dirk Baecker, Universität Witten/Herdecke). Wie verhalten sich beispielsweise die Verbraucher, wenn digitale Ressourcen der „Produktion von Konsum“ die analogen substituieren? Zudem wäre zu klären, welche Interaktionen zwischen Kollektiv und Individuen im digitalen Kontext ablaufen und was diese Interaktionen kurz-, mittel- und langfristig sozial und (neuro-)psychologisch bewirken. Ein Beispiel hierfür wäre das Wechselspiel zwischen dem individuellen Selbstkonzept und der zunehmenden Zuschreibung von Identität in jeweils zugänglichen Netzwerken. Daraus resultierende Konflikte und Spannungen – z.B. auch durch eine datenbasierte Diskriminierung der Verbraucher – würden einen wichtigen Forschungsgegenstand in diesem Forschungsfeld darstellen.

Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass der digitale Wandel die Verbraucherforschung auf nahezu allen wissenschaftlichen Feldern vor große Herausforderungen stellt. Dabei sei an dieser Stelle aber betont, dass eine disziplinär isolierte Forschung regelmäßig nicht erfolgreich sein kann. Vielmehr wird es auch im digitalen Zeitalter darauf ankommen, den Verbraucher aus einer interdisziplinären Perspektive besser zur verstehen und darauf aufbauend theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte Empfehlungen für eine realitätsnahe verbraucherorientierte Datenpolitik zu geben.

Der Beitrag ist das Ergebnis der Diskussion der Autoren mit verschiedenen verbraucherpolitisch aktiven Wissenschaftlern, denen wir zu Dank verpflichtet sind. Er gilt zunächst einmal den Teilnehmern des vierten Verbraucherforschungsforums am 1. und 2. Oktober 2015 an der Zeppelin Universität. Ferner danken die Autoren Silke Bartsch (Pädagogische Hochschule Karlsruhe), Stefan Selke (Hochschule Furtwangen) und Dirk Baecker (Universität Witten/Herdecke) für wertvolle Hinweise im Zuge der Manuskriptentwicklung.

Der Wert von Daten und Privatsphäre – empirische Ergebnisse aus Anwender- und Anbietersicht

Durch die voranschreitende Digitalisierung von Unternehmen und ihren Wertschöpfungsketten, die Verfügbarkeit von Sensoren oder neuen Technologien, wie etwa „iBeacon“, stehen immer größere Datenmengen zur Verfügung. Diese Daten bieten sowohl vielfältige Chancen als auch Risiken. Die Anwendungspotenziale sind ebenfalls vielfältig: Anbieter können die erhobenen Daten beispielsweise dazu nutzen, personalisierte Dienste zu entwickeln bzw. mit individuell angepasster Werbung Geld zu verdienen. Die zunehmende Relevanz von Daten zeigt sich aber nicht nur an Unternehmen, deren Geschäftsmodelle ausschließlich datenbasiert sind – wie beispielsweise Facebook oder Google – , sondern auch an klassischen Unternehmen, die auf Daten basierende Services zusätzlich anbieten möchten. Darüber hinaus werden in verschiedenen Branchen basierend auf Daten Anwendungen etwa in den Bereichen Predictive Analytics oder Predictive Maintenance entwickelt.

Nutzer äußern jedoch die Sorge, dass ihre Daten missbraucht werden könnten. Dabei ist insbesondere in Deutschland eine heftige Debatte über mögliche Verletzungen der Privatsphäre entbrannt. Die Unternehmen sollten daher sorgfältig abwägen, wie sie datenbasierte Geschäftsmodelle gestalten: Einerseits sind Unternehmen bestrebt, möglichst viel über ihre Nutzer zu erfahren, um ihre Produkte und Services noch besser auf die Anforderungen der Kunden ausrichten zu können. Andererseits besteht die Gefahr, dass Eingriffe in die Privatsphäre von Nutzern als zu einschneidend wahrgenommen werden und sie die Dienste infolgedessen nicht mehr nutzen oder zu privacy-freundlichen Services wechseln.1

Vor dem beschriebenen Hintergrund werden in diesem Beitrag datenbasierte Geschäftsmodelle sowohl aus der Perspektive der Nutzer als auch aus Sicht der Anbieter untersucht. Auf Anbieterseite können dabei zwei Arten von Unternehmen unterschieden werden: Einerseits lassen sich Unternehmen betrachten, bei denen Daten die zentrale Grundlage ihrer Erlöse darstellen, wie beispielsweise Google oder Facebook. Auf der anderen Seite befinden sich Unternehmen, die über eine Vielzahl von Daten verfügen, diese bislang aber nicht oder nur wenig nutzen. Hierzu gehören Unternehmen aus unterschiedlichsten Branchen, wie etwa Industrie, Logistik oder Finanzdienstleistungen, die auf der Suche nach neuen Geschäftsmodellen und einer Antwort auf die Frage „Was sind unsere Daten wert?“ sind. Die Grundlage dieser Betrachtung bilden drei empirische Untersuchungen. Zum einen werden zwei Studien, die in den Jahren 2012 und 2014 unter dem Titel „Der Preis des Kostenlosen“ durchgeführt wurden, herangezogen. Die Basis für diese praxisorientierte Umsetzung der Untersuchungen bildete eine Kooperation mit HR-Info, dem Informationsradio des Hessischen Rundfunks. Im Rahmen der Untersuchungen wurden insgesamt etwa 3000 Teilnehmer befragt. Eine zentrale Frage der beiden Studien war, inwiefern verschiedene Nutzer damit einverstanden sind, dass Unternehmen mit Hilfe ihrer Daten Geld verdienen. Zum anderen wird eine dritte empirische Untersuchung herangezogen, die im Rahmen einer Lünendonk-Studie 2015 durchgeführt wurde. Hierbei wurden Unternehmensvertreter zur Verbreitung, Akzeptanz und zu den Herausforderungen von datenbasierten Geschäftsmodellen befragt.

Der Preis des Kostenlosen – die Anwenderperspektive

Zunächst wird am Beispiel sozialer Netzwerke untersucht, wie potenzielle Nutzer die Existenz von augenscheinlich kostenlosen Geschäftsmodellen bewerten. Wie in Abbildung 1 zu erkennen ist, setzt sich ein Großteil der Studienteilnehmer mit der Frage der Bewertung von datenbasierten Geschäftsmodellen auseinander. Ihre Akzeptanz war jedoch zu beiden Untersuchungszeitpunkten sehr gering, wobei 2012 gut 62% und 2014 knapp 75% der Nutzer die kommerzielle Verwendung von Nutzerdaten ablehnten. Der Anteil an Nutzern, die solche Geschäftsmodelle kritisch bewerten, hat folglich innerhalb von zwei Jahren deutlich zugenommen. Trotz dieser weitreichenden Ablehnung der Geschäftsmodelle ist festzustellen, dass die Mehrzahl der Befragten die Services dennoch nutzt. Nur ca. 14% der Teilnehmer – insbesondere jene über 50 – gaben an, auf eine Nutzung der Services zu verzichten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 1
Anwenderperspektive – monetäre Nutzung von Daten: 2012 und 2014
Antworten auf die Frage „Finden Sie es in Ordnung, dass Anbieter wie z.B. Facebook oder Google Geld mit Nutzerdaten verdienen?“, in %
Anwenderperspektive - monetäre Nutzung von Daten: 2012 und 2014

Quelle: P. Buxmann: Big Data: Neue Geschäftmodelle für die Future Internet Economy, in: T. Becker, C. Knop: Digitales Neuland, Wiesbaden 2015, S. 139-153.

Abbildung 2
Anwenderperspektive – monetäre Nutzung von Daten: Aufteilung nach Altersgruppen
Antworten auf die Frage „Finden Sie es in Ordnung, dass Anbieter wie z.B. Facebook oder Google Geld mit Nutzerdaten verdienen?“, in %
Anwenderperspektive - monetäre Nutzung von Daten: Aufteilung nach Altersgruppen

Quelle: Eigene Berechnung.

Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass ein großer Anteil der Befragten mit der monetären Nutzung ihrer Daten nicht einverstanden ist. Die Sorgen rund um die Privatsphäre der Nutzer haben im Rahmen des NSA-Überwachungsskandals sogar noch zugenommen. Doch obwohl die Enthüllungen des ehemaligen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden weitreichende Eingriffe in die Privatsphäre der Nutzer beschreiben, werden Dienste wie Facebook oder Google auch weiterhin stark genutzt. Alleine Facebook zählt durchschnittlich über 1 Mrd. Nutzer, die täglich auf der Plattform aktiv sind.2 Die Nutzer bezahlen also weiterhin den Preis des Kostenlosen – obwohl die Mehrheit das eigentlich ablehnt. Es stellt sich daher die Frage, wie eine zukünftige Lösung dieses Konflikts aussehen kann. Einen ersten Schritt auf diesem Weg stellt die Analyse der Zahlungsbereitschaften der Nutzer dar.

Verschiedene wissenschaftliche Studien haben sich bereits mit der Frage beschäftigt, welchen Wert die Privatsphäre aus Nutzersicht wirklich darstellt.3 Je nachdem, welche Daten im Rahmen einer Studie untersucht werden, können unterschiedliche Zahlungsbereitschaften der Nutzer festgestellt werden, die zudem von nutzerspezifischen Eigenschaften abhängen. Abgesehen von den konkreten Faktoren kann dabei grundsätzlich gezeigt werden, dass Nutzer bereit sind, für ihre Privatsphäre und somit auch für sichere Dienste zu bezahlen.

Häufig verwenden diese Studien jedoch eine Methodik, die auf hypothetischen Fragen basiert, z.B. „Welchen Betrag würden Sie für ein fiktives soziales Netzwerk bezahlen, das Ihnen eine vorbildliche Privatsphäre garantiert?“. Der Nachteil solcher Fragen besteht darin, dass die Teilnehmer der Studie mit einem beliebig hohen Betrag antworten können, ohne ihn jemals tatsächlich bezahlen zu müssen. Dies führt in vielen Fällen zu einer Überschätzung der Zahlungsbereitschaft. Dementsprechend ist die Anwendbarkeit dieser Studien in der Praxis begrenzt. Ein anderer Ansatz wurde dagegen von einer Forschergruppe der Carnegie Mellon University rund um Professor Alessandro Acquisti verfolgt: Mit Hilfe eines praxisnahen Experiments konnte – vereinfacht ausgedrückt – gezeigt werden, dass ein Großteil der Teilnehmer nicht bereit war, zwei Euro für ihre Privatsphäre zu zahlen.4 In einem realen Setting ist die Zahlungsbereitschaft der Nutzer für privatsphärenfreundliche Services demnach niedriger, sodass Daten als Zahlungsmittel aller Wahrscheinlichkeit nach auch in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden.

Dennoch bleibt die Frage zu beantworten, warum zahlreiche Studien eine zunehmende Relevanz der Privatsphäre auf Nutzerseite bestätigen, während im Rahmen praktischer Experimente keine ausreichende Zahlungsbereitschaft nachzuweisen ist. Weshalb geben Nutzer ihr Bedürfnis nach einer verantwortungsvollen Gestaltung ihrer Privatsphäre so schnell auf? Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert das sogenannte Privacy-Paradoxon.5 Es besagt, dass die Mehrzahl der Nutzer zwar behauptet, dass ihnen ihre Privatsphäre sehr wichtig ist, während sie in der Realität andere Werte höher gewichtet. In der Praxis zeigt sich das Privacy-Paradoxon insbesondere daran, dass trotz aller Empörung im Kontext des NSA-Überwachungsskandals viele Anwender weiterhin bekannte Dienste nutzen und nur wenige zu sicheren E-Mail- oder Messenger-Diensten wechseln.6 Diese Verhaltensweise lässt sich unter anderem mit mangelnder Kompetenz oder fehlender Motivation begründen. Weiterhin stellen häufige Änderungen der Nutzungsbedingungen die Anwender vor das Problem, die Risiken der Servicenutzung nicht mehr überblicken zu können, sodass die Unsicherheit weiter ansteigt.

Für die Anbieter datenbasierter Geschäftsmodelle gilt es also zukünftig, nicht nur die Sorgen der Nutzer in Bezug auf ihre Privatsphäre stärker zu berücksichtigen, sondern auch ihre Nutzungsbedingungen transparent und nachvollziehbar zu gestalten, um Nutzungshemmnisse von Anfang an zu verhindern. Die Perspektive der Anbieter – insbesondere die der klassischen Unternehmen – wird nachfolgend eingehend betrachtet.

Datenbasierte Geschäftsmodelle – die Anbieterperspektive

Anbieter datenbasierter Geschäftsmodelle sind nicht nur Google, Facebook & Co., die mit Hilfe von Nutzerdaten personalisierte Werbung generieren und auf diese Weise den Großteil ihres Umsatzes erwirtschaften. Der Anteil personalisierter Werbung am Umsatz von Google betrug beispielsweise im Jahr 2014 rund 89%, bei Facebook sogar etwa 92%.7 Auch Unternehmen, die bislang keine datenbasierten Geschäftsmodelle einsetzen, sehen jedoch zunehmend die damit verbundenen Chancen. So eröffnet beispielweise die Technologie „iBeacon“ spannende Möglichkeiten. Dank einer exakten Standortbestimmung des Kunden, etwa in einem Shop, kann dieser beispielweise gezielt zu aktuellen Angeboten geführt werden bzw. auf weiterführende Produktinformationen zugreifen. So wird unter anderem ein interaktives Einkaufserlebnis ermöglicht. Aber nicht nur im stationären Einzelhandel zeigt sich das Potenzial großer und wertvoller Datenmengen, sondern in fast allen Bereichen der Wirtschaft. Diese Daten können im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung einen Mehrwert für Unternehmen generieren, egal ob deren Endkunden ihre Daten bewusst – eventuell sogar gegen Bezahlung – oder unbewusst preisgeben. Jedoch stellt sich für viele Unternehmen die Frage, wie sie aus einem bestehenden Datenbestand neuartige Geschäftsmodelle entwickeln können. Wie Unternehmen die zukünftige Entwicklung einschätzen, zeigen die Ergebnisse einer aktuellen Lünendonk-Studie. 40% der im Rahmen dieser Studie befragten Unternehmen (n = 33) werden zukünftig wahrscheinlich auf datenbasierte Geschäftsmodelle setzen (vgl. Abbildung 3). Weiterhin zeigt sich in dieser Studie, dass fast die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen davon ausgeht, dass die Akzeptanz datenbasierter Geschäftsmodelle in Zukunft entscheidend zunehmen wird (vgl. Abbildung 4).8 Trotz der angenommenen Zunahme der Verbreitung und Akzeptanz datenbasierter Geschäftsmodelle sind jedoch zwei zentrale Herausforderungen der Unternehmen hervorzuheben: Einerseits stufen die Unternehmen die rechtlichen Einschränkungen und anderseits die Privacy-Bedenken der Kunden als mögliche Hemmnisse ein, um mit potenziellen Geschäftsmodellen an den Markt zu gehen (vgl. Abbildung 5). Es ist daher sinnvoll, die Nutzerakzeptanz in der Geschäftsmodellentwicklung zu berücksichtigen bzw. zu antizipieren.

Abbildung 3
Anbieterperspektive – zukünftige Entwicklung datenbasierter Geschäftsmodelle
Antworten auf die Frage „Wie schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass in Zukunft solche Geschäftsmodelle verstärkt eingesetzt werden?“
(N = 33), in %
Anbieterperspektive - zukünftige Entwicklung datenbasierter Geschäftsmodelle

Quelle: P. Buxmann, A. Engelbrecht: Daten als Basis neuer Geschäftsmodelle, in: Lündendonk-Studie: Der Markt für IT-Beratung und IT-Service in Deutschland, 2015.

Abbildung 4
Anbieterperspektive – zukünftige Akzeptanz datenbasierter Geschäftsmodelle
„Wie wird sich diese Akzeptanz Ihrer Einschätzung nach in den nächsten Jahren verändern?“ (N = 33), in %
Anbieterperspektive - zukünftige Akzeptanz datenbasierter Geschäftsmodelle

Quelle: P. Buxmann, A. Engelbrecht: Daten als Basis neuer Geschäftsmodelle, in: Lündendonk-Studie: Der Markt für IT-Beratung und IT-Service in Deutschland, 2015.

Abbildung 5
Anbieterperspektive – Hemmnisse beim Einsatz datenbasierter Geschäftsmodelle
Antworten auf die Frage „In welchem Umfang erschweren folgende Faktoren aus Unternehmenssicht eine Nutzung der gesammelten Daten?“ (N = 32), in %
Anbieterperspektive - Hemmnisse beim Einsatz datenbasierter Geschäftsmodelle

Quelle: P. Buxmann, A. Engelbrecht: Daten als Basis neuer Geschäftsmodelle, in: Lündendonk-Studie: Der Markt für IT-Beratung und IT-Service in Deutschland, 2015.

Pricing by Privacy

Vor diesem Hintergrund stellt sich den Anbietern von Services insbesondere die Frage, welche Daten und Datenmengen sie von den Nutzern abfragen sollten. Es ist demnach zu beachten, dass sich die Nutzer vielfältige Sorgen um ihre Privatsphäre machen – auch wenn diese aufgrund des Privacy-Paradoxons etwas „abdiskontiert“ werden können. Die Anbieter stehen also vor folgendem Trade-off: Zum einen haben Daten einen ökonomischen Wert, sodass die Unternehmen grundsätzlich ein Interesse daran haben, möglichst viele Daten zu sammeln und zu verwerten.9 Zum anderen besteht die Gefahr, dass zu offensive Praktiken von den Nutzern negativ wahrgenommen werden und die Nutzer daher zur Konkurrenz abwandern. Die Unternehmen werden infolgedessen mit der Herausforderung konfrontiert, den optimalen Umgang zwischen einer systematischen Erfassung und Verarbeitung der Daten auf der einen und den Anforderungen der Kunden auf der anderen Seite zu finden.

Vor diesem Hintergrund können wir – in Analogie zu der aus dem Marketing und der Mikroökonomie bekannten Preis-Absatz- und Preis-Umsatzfunktion – eine Privacy-Absatz- sowie Privacy-Umsatzfunktion ableiten: Die Privacy-Umsatzfunktion in Abbildung 6 veranschaulicht den oben genannten Trade-off. Davon ausgehend, dass die Höhe des Privacy-Eingriffs von der Menge der abgefragten Informationen abhängt, so drückt die Funktion aus, dass es auch aus Anbietersicht nicht optimal ist, die maximale Datenmenge abzufragen. Diese Erkenntnis kann eine Grundlage dafür sein, dass es zu einer besseren Verständigung darüber kommt, ob Daten als Ersatzwährung zwischen Anbietern und Nutzern dienen sollten. Dies ist bislang jedoch nicht der Fall, wie eine erste Auswertung von Daten im Rahmen einer Multiple-Case-Study zeigt.

Abbildung 6
Privacy-Absatz- und Privacy-Umsatzfunktion
Privacy-Absatz- und Privacy-Umsatzfunktion

Quelle: P. Buxmann: Big Data: Neue Geschäftmodelle für die Future Internet Economy, in: T. Becker, C. Knop: Digitales Neuland, Wiesbaden 2015, S. 139-153.

Fazit und Ausblick

Nicht nur Google, Facebook & Co., sondern auch klassische Unternehmen sind bestrebt, möglichst viel über ihre Nutzer in Erfahrung zu bringen, um beispielsweise ihr Kundenverhältnis neu zu definieren und ihre Produkte sowie Services in Zukunft individueller auf den Kunden zuschneiden zu können. Daher stellen datenbasierte Geschäftsmodelle im Zuge der voranschreitenden Digitalisierung eine Chance dar. Jedoch stehen Unternehmen bei der Entwicklung solcher Geschäftsmodelle vor großen Herausforderungen: Zum einen sind vor allem die zahlreichen und zum Teil undurchsichtigen rechtlichen Einschränkungen hinderlich, zum anderen können Eingriffe in die Privatsphäre von Nutzern als zu stark wahrgenommen werden.

Den hier dargestellten empirischen Überlegungen zufolge werden datenbasierte Geschäftsmodelle von Anbietern in der Zukunft verstärkt eingesetzt. Die Entwicklung solcher Modelle ist sowohl eine organisatorische als auch eine technische Herausforderung. Nicht zu vernachlässigen ist allerdings auch die kreative Komponente. In diesem Kontext können etwa etablierte Vorgehensweisen der klassischen Geschäftsmodellforschung zur systematischen Entwicklung von datenbasierten Geschäftsmodellen genutzt werden. Da diese Vorgehensmodelle allgemein gehalten sind, lassen sie sich erfahrungsgemäß relativ gut für die Entwicklung digitaler Innovationen anpassen. Eine weitere interessante Möglichkeit besteht in der Kooperation mit Start-ups – sowie auch mit Studierenden –, um neue Ideen zu entwickeln und digitale Innovationen zu erschaffen.

Dieser Beitrag basiert zum Teil auf P. Buxmann: Big Data: Neue Geschäftsmodelle für die Future Internet Economy, in: T. Becker,
C. Knop: Digitales Neuland, Wiesbaden 2015, S. 139-153.

  • 1 Vgl. T. Dinev, A. R. McConnell, H. J. Smith: Informing Privacy Research through Information Systems, Psychology, and Behavioral Economics: Thinking Outside the „APCO“ Box, in: Information Systems Research, 2015.
  • 2 Vgl. Facebook Company Info, 2015, http://newsroom.fb.com/company-info (10.12.2015).
  • 3 Vgl. z.B. C. Bauer, J. Korunovska, S. Spiekermann: On the Value of Information – What Facebook Users are willing to Pay, in: European Conference on Information Systems (ECIS), Barcelona 2012; D. Cvrcek, M. Kumpost, V. Matyas, G. Danezis: A study on the value of location privacy, in: Proceedings of the 5th ACM workshop on Privacy in electronic society, Alexandria, USA, S. 109-118; G. Danezis, S. Lewis, R. J. Anderson: How much is location privacy worth?, in: Fourth Workshop on the Economics of Information Security, Harvard 2005; B. A. Huberman, E. Adar, L. R. Fine: Valuating privacy, in: Security & Privacy, IEEE, 3. Jg. (2005), Nr. 5, S. 22-25.
  • 4 Vgl. A. Acquisti, L. K. John, G. Loewenstein: What is privacy worth?, in: The Journal of Legal Studies, 42. Jg. (2013), Nr. 2, S. 249-274.
  • 5 Vgl. A. Acquisti, J. Grossklags: Privacy and rationality in individual decision making, in: IEEE Security & Privacy, Nr. 2, 2005, S. 24-30; P. A. Norberg, D. R. Horne, D. A. Horne: The privacy paradox: Personal information disclosure intentions versus behaviors, in: Journal of Consumer Affairs, 41. Jg. (2007), Nr. 1, S. 100-126.
  • 6 Vgl. G. Wittmann, E. Stahl, R. Torunsky, S. Weinfurther: Digitalisierung der Gesellschafft, Ibi Research, Universität Regensburg 2014.
  • 7 Vgl. Facebook Company Info, 2015, http://investor.fb.com/releasedetail.cfm?ReleaseID=893395 (10.12.2015); Google Company Info, 2015, https://investor.google.com/earnings/2014/Q4_google_earnings.html (10.12.2015).
  • 8 Vgl. P. Buxmann, A. Engelbrecht: Daten als Basis neuer Geschäftsmodelle, in: Lündendonk-Studie: Der Markt für IT-Beratung und IT-Service in Deutschland, 2015.
  • 9 Vgl. P. Buxmann: Big Data: Neue Geschäftmodelle für die Future Internet Economy, in: T. Becker, C. Knop: Digitales Neuland, Wiesbaden 2015, S. 139-153.
 

Der digitale Kunde will begeistert werden

Am 15. März 1909 hat der US-Amerikaner Gordon Selfridge in der Londoner Oxford Street das erste Kaufhaus in Europa eröffnet. Damit veränderte er für alle Zeiten unser Einkaufserlebnis. Denn von nun an war es nicht mehr nötig, sich im Geschäft auf Nachfrage einzelne Dinge aus der Schublade oder dem Lager zeigen zu lassen. Damals war das eine kleine Revolution: Auf einmal konnten die Kaufhausbesucher durch die Regalreihen mit den offen präsentierten Produkten schlendern, sie anfassen und eine Auswahl unterschiedlicher Artikel sehen, die sie noch gar nicht kannten. Selfridge hatte damit eine neue Interaktionsform mit seinen Kunden gefunden, die sich bis heute unangefochten behaupten kann.

Doch das traditionelle Kaufhaus gerät immer stärker unter Druck. Überall wird an neuen Konzepten gearbeitet. Der Einzelhandel befindet sich zweifellos in einer Umbruchphase. Online-Shopping, Lieferservices oder digitale Einkaufsberater gehören für den modernen Konsumenten bereits zum Alltag – zudem wird er immer wählerischer, anspruchsvoller und kritischer.

Gleichzeitig rückt das Erleben stetig mehr in den Fokus. Unter dem Schlagwort „engaging all the senses“ wird aktuell ein Trend beschrieben, bei dem es um ganzheitliche Sinneswahrnehmungen geht. Nicht ohne Grund werden immersive Spiele, Filme oder Erlebnisse immer beliebter. Da ist es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis aus der bisherigen Vernetzung von Geräten und Anwendungen eine Verknüpfung mit dem eigenen Körper und allen Sinnen wird.

Eine weitere Veränderung liegt darin, dass Konsumenten verstärkt online gehen, um Preise oder die Qualität von Produkten zu vergleichen oder um Bewertungen zu lesen. Hier wird die sogenannte Peer-Bewertung zum neuen Maß der Dinge. Auch darauf muss der Handel eine Antwort finden.

Der Weg in die Hyper-Personalisierung

Woher aber kommen diese neuen Schlagworte, Trends und Veränderungen? Sie resultieren aus einem fundamentalen Wandel im Umgang mit Information, Dienstleistungen, im Konsumverhalten und der Kommunikation: Weltweit nutzen bereits 2,4 Mrd. Menschen das Internet, 1,4 Mrd. besitzen ein Smartphone. Digital Natives, die permanent online, erreichbar und vernetzt sind, stellen auch neue Ansprüche und Erwartungen daran, wie sie als Kunde behandelt werden wollen. Sie haben ein neues Selbstverständnis, sind gut informiert und zunehmend werteorientiert, stets auf der Suche nach dem Besonderem, dem Exklusiven, nach dem, was am besten zu ihnen passt.

Damit zeichnet sich gleichzeitig eine neue Ära ab: Wir treten ein in das Zeitalter der Hyper-Personalisierung von Services und Angeboten für den Konsumenten. Das wird, das belegt auch eine ganze Reihe von Untersuchungen und Befragungen, von den Verbrauchern nicht nur erwartet, sondern geradezu eingefordert – trotz des nachvollziehbaren Rufs nach noch mehr Datenschutz. Der Kunde möchte sehr viel gezielter individuell angesprochen werden, will diesen Kontakt mit dem Unternehmen aber auch selbst sehr viel stärker steuern. Das wird möglich etwa durch die Nutzung sogenannter Opt-in-Daten. Hier entscheidet der Kunde selbst, welche Daten er angibt, erwartet dann aber auch, dass diese Daten für die Personalisierung genutzt werden.

Auch werden sogenannte kognitive, lernende Systeme wie Watson von IBM immer stärker für die Interaktion mit Konsumenten eingesetzt werden. In den USA arbeitet Watson z.B. schon in der Reisebranche. Der Verbraucher sucht dabei nicht mehr aktiv online oder im Reisebüro nach den für ihn passenden Zielen, Hotels oder Flügen, sondern spricht einfach mit dem lernenden Computer-System Watson. Es entsteht ein Dialog, bei dem sich das kognitive System ein Bild darüber verschafft, was man gerne machen möchte, und ganz gezielt Empfehlungen ausspricht. Das Gleiche ist für viele andere Bereiche vorstellbar: So könnte etwa beim Online-Fashion-Shopping ein Dialog zum präferierten Stil, Farben oder Designer zwischen Mensch und Maschine stattfinden und das lernende System würde Vorschläge für das passende Outfit machen.

Diese neue Ära der digitalen Konsumentenorientierung lässt sich auch unter dem Begriff „Human-Centric Digital Era“ zusammenfassen. Gemeint ist damit die individualisierte Wahrnehmung des (potenziellen) Kunden sowie dessen Ansprache über unterschiedliche, hoch personalisierte Kanäle. Auch IBM beschäftigt sich intensiv mit Konzepten und Lösungen für dieses neue Zeitalter, wobei neue Fragestellungen in den Mittelpunkt rücken: Wie nähern sich potenzielle oder bereits existierende Kunden einem Produkt, wie nehmen sie es wahr und wie müssen die Kontaktpunkte zu diesen Kunden beschaffen sein?

Design Thinking: die User-Experience im Mittelpunkt

Ein relativ neues, aber äußerst wichtiges Thema ist in diesem Kontext die Gestaltung der unterschiedlichen User-Interfaces und Applikationen. Das Stichwort hierfür lautet „Design Thinking“. Die Idee dahinter: nicht einfach nur ein Produkt, ein Interface oder eine Applikation möglichst gut aussehen zu lassen, sondern sie von der Nutzerseite her zu denken und zu gestalten, also die User-Experience in den Mittelpunkt des Designs zu rücken. Diese Vorgehensweise erfordert einen vollkommen neuen, holistischen Management-Ansatz. Er reicht vom Aufbau neuer Teamstrukturen, Herangehensweisen und Fähigkeiten bis hin zur Arbeitsplatzgestaltung. IBM investiert massiv in die Umsetzung dieses Themas und wird weltweit zehn neue Design-Studios gründen. Eines davon ist Anfang Dezember in Hamburg an den Start gegangen.

Erste Projekte wurden unter dem Aspekt Design Thinking bereits erfolgreich auf den Weg gebracht: So haben wir die 13 Jahre alte Website der Eremitage in Sankt Petersburg – einem der bedeutenden Kunstmuseen der Welt – nach den Grundsätzen des Design Thinkings neu konzipiert und gestaltet und damit über 3 Mio. Kunstwerken ein neues digitales Zuhause gegeben. Auch hier stand die User-Experience im Mittelpunkt. Und die entstand nicht einfach so im Kopf eines Web-Designers, sondern wurde gemeinsam mit Usern und weiteren Stakeholdern in mehreren Iterationsrunden entwickelt.

Das Erfolgsgeheimnis kognitiver Systeme

Die Grundlage für diese neuen Entwicklungen und Ansätze sind natürlich Daten. IBM schätzt, dass täglich weltweit rund 2,5 Quintillionen Bytes – das ist eine 1 mit 27 Nullen – generiert werden. Andere Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Datenvolumen alle zwei Jahre verdoppelt. Man kann also mit Fug und Recht von einer Datenexplosion sprechen. Hinzu kommt, dass immer mehr Daten tatsächlich auch ausgewertet werden können. Diese Entwicklung ist neu. Denn bisher sind rund 80% aller Daten für Computer nicht verwertbar, weil sie nicht verarbeitet werden können, weil es sich um unstrukturierte Daten wie z.B. Sprache handelt. Kognitive Systeme wie Watson schaffen auch hier einen Paradigmenwechsel. Denn sie können Daten unterschiedlichster Quellen verarbeiten, Muster und Verbindungen erkennen und selbstständig zu neuen Erkenntnissen gelangen.

Das heißt mit anderen Worten: Kognitive Systeme können mehr als einfach nur genau das rechnen, was ihnen anprogrammiert wurde. Sie können lernen und versuchen, den Menschen mit seinen Intentionen und Wünschen zu verstehen. Sie registrieren Nuancen in der menschlichen Semantik und sie interagieren mit Personen. Sie erkennen das Gesagte und verarbeiten es im Kontext. Damit schaffen sie erst die Voraussetzungen, um hyper-personalisierte Angebote zu entwickeln und an die richtigen Adressaten zu leiten. Dabei helfen ihnen die Sammlung und Auswertung klassischer Markt-, Produkt-, und Servicedaten in Verbindung mit individuellen, öffentlich zugänglichen oder in den eigenen Kundendatenbanken verfügbaren Informationen zum Konsumenten und seinen Lebensumständen.

Das Überleben sichern

Doch Technologie allein reicht nicht aus. Die neuen digitalen Möglichkeiten zwingen Unternehmen dazu, sich zu verändern. In Anlehnung an die Entstehung der Arten macht der Begriff vom „digitalen Darwinismus“ die Runde. Das bedeutet: Unternehmen sind gefordert, sich mit neuen Geschäftsmodellen möglichst schnell und effektiv an die neuen Rahmenbedingungen und Spielregeln der Märkte anzupassen. Ihre Lernfähigkeit ist gefordert. Ihr Ziel muss es sein, relevant für ihre Kunden zu bleiben. Dann werden sie die im Darwin‘schen Sinne verstandene Selektion erfolgreich „überleben“.

Es gibt bereits Beispiele von Unternehmen, die diesem neuen „digitalen Darwinismus“ zum Opfer fielen, die Firma Kodak ist nur eine davon: Früher ein führendes, innovatives Unternehmen mit vielen Patenten für die klassische analoge Fotografie, hat Kodak die Digitalisierung der Filmindustrie falsch eingeschätzt und dramatische Umsatzverluste hinnehmen müssen. Heute ist das Unternehmen ein Nischenanbieter für spezielle Druckmaschinen und spielt in der digitalen Fotografie kaum noch eine Rolle.

Relevanz erzeugen

Aber nicht nur das Produktportfolio muss permanent auf Relevanz hin überprüft werden, sondern eben auch die Interaktion mit dem Kunden. Vor allem die sozialen Netzwerke rücken hier immer stärker in den Mittelpunkt. Das wird in den Unternehmen auch zunehmend erkannt: Während Social Media 2010 nur für ein Viertel der Unternehmen relevant war, werden die sozialen Netzwerke bis 2020 für nahezu alle eine bedeutende Rolle spielen. Damit gewinnen sie auch eine immer stärkere Relevanz in den persönlichen Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden. Genau hier liegt ein weiterer Schlüssel für eine gezielte Anpassung von Kundenservices und Kundenansprache.

Zum Beispiel für einen Hausgerätehersteller: Eine neue Waschmaschine wird im Schnitt alle elf Jahre gekauft. Das heißt zehn Jahre und neun Monate ist das Thema für den Kunden überhaupt nicht interessant. Wie aber schafft es nun ein Hersteller, zum richtigen Zeitpunkt mit dem richtigen Angebot den passenden Kontaktpunkt zu finden, d.h. exakt dann auf der Matte zu stehen, wenn das Thema „neue Waschmaschine“ plötzlich wieder interessant wird? Wie gelingt es ihm, genau in diesem Moment Interesse für die eigene Marke zu wecken?

Das ist nicht trivial, und in vielen Fällen auch nicht mehr ohne neue Partnerschaften zu bewerkstelligen. Womit wir bei einem weiteren zentralen Aspekt der digitalen Transformation wären: Immer mehr Unternehmen öffnen sich und bauen neue Ökosysteme gemeinsam mit neuen Partnern. IBM z.B. mit Apple oder Twitter: Ein traditioneller B2B-Anbieter verbündet sich mit populären B2C-Partnern. Mit solchen Partnerschaften entstehen auch neue Dynamiken.

Hinzu kommt: Es entfallen die bisher oft hemmenden Infrastrukturunterschiede zwischen großen und kleinen Partnern. Denn egal, wie groß und mächtig oder klein und agil ein Unternehmen heute unterwegs ist – dank Cloud-Technologien und billigem Speicherplatz ist die IT-Infrastruktur kein Hemmschuh mehr für neue Ideen, die auf mächtige, flexible Computing-Power angewiesen sind.

Fazit

Der digitale Wandel stellt die Weichen neu sowohl im Hinblick auf die Erwartungen potenzieller und bestehender Kunden als auch im Hinblick auf Geschäftsmodelle und neue Partnerschaften: Der Kunde will mit personalisierten Angeboten und Dienstleistungen in seiner Komfort-Zone abgeholt und begeistert werden; Daten, Analytics und kognitive Systeme liefern dafür die notwendige Grundlage. Die gute Botschaft darüber hinaus ist die Tatsache, dass die Infrastruktur-bedingten Eintrittshürden sowohl zur Verarbeitung und Analyse großer Datenmengen wie auch für die Bereitstellung personalisierter Angebote und Services durch den Einsatz von Cloud-Techniken nahezu entfallen sind.

Alles digital? Innovative Geschäftsmodelle in Zahlungsverkehr und Verbraucherpolitik

Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche in den letzten 20 Jahren stellt viele Bürger vor immer neue Herausforderungen, auch und besonders angesichts der technisch bedingt immer größeren Beschleunigung der Entwicklung einerseits und der Erfassung immer weiterer Lebensbereiche andererseits. Teilhabe und Zugang müssen technisch und inhaltlich ebenso sichergestellt werden wie Schutz und Transparenz. Die digitale Welt erfordert Verbraucher, die sich nicht als Opfer der Veränderung begreifen, sondern sich bietende Chancen nutzen, die sich verändernde Welt mitgestalten und gleichzeitig mit angemessenem Risikoverständnis die veränderte Rendite-Risiko-Teilung einschätzen können. Die analoge Welt bleibt parallel und teilweise verschränkt mit der digitalen Welt erhalten. Der Wechselwirkung von analoger und digitaler Welt kommt dabei besondere Bedeutung zu, wenn z.B. Heuristiken der analogen Welt ungeprüft in der digitalen Welt genutzt werden und vice versa. Ein analoger „Anker“ wird stets verbleiben, wir handeln als (analoge) Menschen.1

Eine zentrale Rolle in unserem Wirtschaftsgeschehen spielt der Zahlungsverkehr im Sinne einer Überführung des Geldes von der Verfügungsgewalt eines Wirtschaftssubjekts in diejenige eines anderen. Er genießt höchste Dominanz für alle Geschäftsmodelle der Anbieter ebenso wie für die meisten Bürger im täglichen Leben. Der Zahlungsverkehr bildet gewissermaßen das Rückgrat unserer vernetzten, arbeitsteiligen und grenzüberschreitenden Wirtschaft und Gesellschaft. Es überrascht daher nicht, dass im Zuge der Diskussion unter dem Label „digitale Welt & Finanzen“ immer häufiger, intensiver und kontroverser die Entwicklung des digitalen Zahlungsverkehrs erörtert wird, auch wenn die Digitalisierung in diesem Bereich der Finanzwirtschaft in vielen westlichen Industrienationen schon deutlich in die 1980er Jahre zurückreicht und in den 1990er Jahren z.B. via Automated Teller Machines (ATM), Direct-Banking oder Fonds-Absatz einen regelrechten Industrialisierungsschub erfahren hat.2

Erscheinungsformen des Zahlungsverkehrs

Es lassen sich grundlegend drei Erscheinungsformen des Zahlungsverkehrs unterscheiden, die für die Digitalisierung thematisiert werden:3

  • Stationär: als direkte Debit-/Credit-Systeme (Überweisung, Dauerauftrag, Lastschrift, auch via ATM) oder – insbesondere im Handel – als Kartenzahlungssysteme (Kreditkarten, Debitkarten, Zahlungskarten); hier ist auch Barzahlung grundsätzlich möglich.
  • Im Internet: als direkte Debit-/Credit-Systeme (Überweisung, Dauerauftrag, Lastschrift) oder als Kartenzahlungssysteme (Kreditkarten, Debitkarten, Zahlungskarten); bekannt unter dem Namen Online-Banking, auch via E-Commerce. Hierzu gehört auch die Nutzung mobiler Endgeräte wie Smartphones zur Initiierung oder Autorisierung der Überweisung (Credit Transfer) oder Lastschrift (Direct Debit). Ein besonderer Fokus liegt hier im E-Commerce-typischen Distanzgeschäft, also der grundlegenden bonitätsgetriebenen Problematik des Austauschs Zug um Zug des Geldes einerseits und der Sachgüter oder Dienstleistungen andererseits.
  • Mobil: nicht stationärer Kanal (Mobile Access Channel), der meist mit Smartphones oder Tablets erreichbar ist. Zu den dann auf diesem Wege durchgeführten mobilen Zahlungen zählen lediglich solche, die von Personen unter Verwendung eines mobilen Endgerätes initiiert und die mittels eines mobilen Kommunikationsnetzwerks zum Zahlungsdiensteanbieter verbunden werden. Nicht dazu gehören Zahlungen wie Überweisungen oder Lastschriften, die im Internet stattfinden und lediglich durch ein Smartphone angestoßen oder authorisiert werden (z.B. Banking App, TAN), hier handelt es sich um Internet-Zahlungen. Ebenso nicht dazu rechnen Zahlungen am Point of Sale, die einen Chip im Smartphone oder einen NFC-Sticker (NFC: Near Field Communication) am Smartphone verwenden, aber auf einer Kartenanwendung im Smartphone basieren (stationäre Zahlungen).

Die fortschreitende Digitalisierung und deren Verschränkung mit analogen Prozessen erlaubt auch Nicht-Banken ihre Kerngeschäftsfelder (Handel, Information, Kommunikation) mit dem traditionellen Geschäftsfeld des (Banken-)Zahlungsverkehrs zu verbinden.4 Bieten Nicht-Banken solche Zahlungsdienste an, so werden diese inzwischen gerne als FinTechs (Financial Services & Technology) bezeichnet.5 Hierbei handelt es sich nicht nur um Start-ups, sondern ebenso um international tätige Informations- und Handels- sowie Telekom-Unternehmen wie z.B. Amazon oder Google sowie Apple oder Samsung, die ihre Kerngeschäftsfelder der Information, der Kommunikation oder des Handels um ein neues strategisches Geschäftsfeld ergänzen (wollen). Verschiedene Gründe sind maßgeblich dafür, das Feld Zahlungsverkehr, gegebenenfalls auch kostenlos, zu bedienen.6

Hierzu gehören insbesondere die forcierte Kundenbindung und die Gewinnung von zusätzlichen Daten, die mit den bereits verfügbaren Daten fusioniert sowie tiefergehend analysiert und anschließend selbst für die weitere fortgeschrittene Akquise oder zum Verkauf an Dritte genutzt werden können (Profiling, E-Targeting, Big Data). Solange diese Gründe für den Eintritt in das neue Geschäftsfeld Zahlungsdienste und in die Wert- und Prozesskette Zahlungsverkehr im Vordergrund stehen und genügend Chancen zur Umsatz- und Ertragssteigerung bieten, dürfte der durch immer neue Wettbewerber entstehende Preisdruck irrelevant sein und gegebenenfalls zu scheinbar kostenlosen Produkten führen (scheinbar, da ja ökonomisch die Datennutzung, also die Datenabgabe oder „Datenspende“ der Bürger mit zu betrachten ist).7

Die – wenn auch zögerliche – Umorientierung traditioneller Banken und Sparkassen, auch wenn diese Online-Banking anbieten, und selbst mancher Direktbanken könnte hiermit in direktem Zusammenhang stehen: Zwar ist die relativ einfache Möglichkeit, das Zahlungsverkehrsverhalten der eigenen Kunden systematisch für die Erhaltung und die Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells zu nutzen, grundsätzlich schon sehr lange bekannt, jedoch scheint die strategisch gute Position, dass fast jeder Bürger ein Bank- oder Sparkassenkonto hat (Girokonto) bislang wenig dafür genutzt worden zu sein, eigene innovative Zahlungsdienste anzubieten.8

Innovative Geschäftsmodelle

Im Folgenden wird auf wesentliche neuere Geschäftsmodelle in den drei Systemen des Zahlungsverkehrs näher eingegangen.9 Die Deutsche Bundesbank unterscheidet in ihrer jüngsten Studie zum Zahlungsverhalten unter innovativen Bezahlverfahren am Point-of-Sale und im Internet vier Kategorien: „Kontaktloses Bezahlen mit der Karte“, „Bezahlen mit dem Mobiltelefon im Geschäft“, „Bezahlen mit dem Mobiltelefon außerhalb des Geschäfts“ und „Internetbezahlverfahren“. Sie kommt allerdings zu dem Schluss, dass mit Ausnahme von Internetbezahlverfahren innovative Bezahlverfahren am Markt noch eine untergeordnete Rolle spielen.10 Steria weist aber darauf hin, dass sich die Internetnutzung immer mehr in den mobilen Bereich verlagert, insbesondere via Apps.11

  • Stationäre Zahlungssysteme: Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Innovationen: das kontaktlose Bezahlen mit der Karte als Teil des Zahlungskartengeschäfts mit und ohne Kreditgewährung und das Bezahlen mit dem Mobiltelefon im Geschäft, also einer Form der Mobile Payments, weshalb dieses im Rahmen der innovativen Geschäftsmodelle des dritten Typs von Zahlungssystemen erörtert wird. Nach Einschätzung der Bundesbank ist NFC beim Kontaktloszahlen am weitesten verbreitet, es diene der deutlichen Beschleunigung des Zahlvorgangs. Angeboten wird diese Form des Bezahlens zurzeit vor allem von Visa (PayWave) und Mastercard (PayPass) sowie vom deutschen Kreditgewerbe unter dem Namen „girogo“ (basierend auf der GeldKarte). Die Kontaktlos-Technologie kann auch direkt im Smartphone integriert oder angefügt sein, meist unter Nutzung der Kartenzahlung und in Verbindung mit der SIM-Karte (z.B. Apple Pay) oder Lastschrift.12 Diese Formen können auch in sogenannten Mobile Wallets oder digitalen Geldbörsen integriert werden, letztlich handelt es sich dabei oft um eine digitalisierte Kreditkarte, die mehrere Zahlungsfunktionen und Dienste verschiedener Anbieter, z.B. der Telekom oder von Kundenbindungssystemen des Handels (Rewards- oder Gutscheinsysteme), zusammenführen soll.13
  • Internet-Zahlungssysteme: Grundsätzlich können zwei Innovationen unterschieden werden.14 Das sind zum einen Online-Banking-Lösungen, bei denen ein Zahler von der Web-Seite des Händlers (E-Commerce) und Zahlungsempfängers zur Web-Seite der Online-Banking-Anwendung des Zahlers weitergeleitet wird (Forward-Variante; z.B. Giropay). Die neue Variante der deutschen Banken und Sparkassen Paydirekt schaltet ein (vorhandenes) Girokonto für die Online-Zahlung frei, es wird also – im Unterschied zu PayPal – kein neues Konto notwendig. Zum zweiten sind es Treuhand-Lösungen, bei denen ein Dritter zwischen den Zahler und den Zahlungsempfänger geschaltet ist, der sowohl die Zahlung als auch die Lieferung der Sachgüter oder Dienstleistungen (E-Commerce) leistet (z.B. PayPal).
  • Mobile Zahlungssysteme: Zu den innovativen Entwicklungen in diesem dritten Typ eines Zahlungssystems gehört zum einen das Bezahlen mit dem Mobiltelefon im Geschäft (Proximity Payment), soweit es nicht nur eine kartengestützte Lösung darstellt, zum anderen vor allem das Bezahlen mit dem Mobiltelefon außerhalb des Geschäfts, also Mobile Payment als Remote Payment. Als Beispiel kann das Mobile Parking gelten, bei dem ein Parkticket unabhängig vom Standort des Zahlers z.B. via Eingabe des Kfz-Kennzeichens gelöst oder auch verlängert werden kann.

Zur Akzeptanz im digitalen Zahlungsverkehr

Für die weitere Analyse15 können verschiedene Studien der Bundesbank, von Beratungsunternehmen und von Interessenverbänden der Finanzwirtschaft ausgewertet werden. Ein Fokus liegt auf der Studie der Bundesbank zum Zahlungsverhalten in Deutschland, dies nicht nur, weil sie umfassend aufgebaut ist und methodisch nicht nur eine einfache Befragung wie z.B. die Standard-Befragungen inklusive Panels wie SOEP oder Consumer Market Scoreboard/Consumer Conditions Scoreboard verwendet, sondern auch, weil hier eine spezifische, rein anbieter- oder verbraucherbezogene Interessenlage kaum angenommen werden kann. Die Abbildung 1 zeigt die Einschätzung der Befragten unter anderem zum kontaktlosen Zahlen mit der Karte. Es wird eine Steigerung gegenüber 2011 konstatiert und angegeben, dass die Altersgruppe der bis 34-Jährigen überdurchschnittlich häufig mit kontaktlosen Kartenzahlverfahren vertraut ist.

Abbildung 1
Bekanntheit und Nutzung innovativer Bezahlverfahren 2014
in %
Bekanntheit und Nutzung innovativer Bezahlverfahren 2014

Quelle: Deutsche Bundesbank: Zahlungsverhalten in Deutschland 2014, Frankfurt 2015, S. 54.

Bezogen auf die Alternative Bargeld als traditionelles Zahlungsinstrument im stationären Einsatz kommt die Studie der Bundesbank zu dem Ergebnis, dass etwa die Hälfte der potenziellen Zahler situativ, also erst an der Kasse selbst, eine Entscheidung über bar oder unbar trifft.16 Fast drei Viertel der Befragten entscheiden nach dem verfügbaren Bargeldbestand im Portemonnaie. Die Höhe des Zahlungsbetrags ist für 60% relevant. Weitere Aspekte wie z.B. die Art des Geschäfts, die Kosten der Zahlung, das Angebot an Zahlungsinstrumenten, mögliche Vergünstigungen oder eine möglichst späte Kontobelastung spielen eine untergeordnete Rolle.

Gleichzeitig lässt sich eine klare Einkommensabhängigkeit beim Anteil der Barzahlung feststellen. Zahler mit einem Haushaltsnettoeinkommen unter 1500 Euro zahlen zu etwa drei Viertel bar, solche mit 3000 Euro und mehr nur zu etwa 44%.17 Als Grund für eine ausschließliche Barzahlung wird von zwei Drittel der Barzahler angegeben, dann eher eine Ausgabenkontrolle wahrzunehmen (ein bekanntes Argument, wenn man insbesondere an viele Kleinstzahlungen denkt und eine eigentlich notwendige Kontrolle der sich dann stapelnden Kontoauszüge).18 Weitere Gründe sind, bar lasse sich einfacher (43%), sicherer (33%) und schneller (29%) als mit der Karte zahlen.19 Personen, die dagegen überwiegend unbar zahlen, geben als Grund dafür insbesondere die Einfachheit an (71%); ferner, dass die Bargeldbeschaffung umständlich (44%) oder die unbare Zahlung schneller (27%) und sicherer (26%) ist.20 Mit Bezug zu einer Studie der Australischen Zentralbank kommt Blond21 zu weiteren Ergebnissen. So wird die Entscheidung zur Barzahlung als bevorzugtem Zahlungsinstrument maßgeblich von der Anonymität (74%) und in hohem Maße auch von Schnelligkeit (70%) und Verfügbarkeit (67%) sowie Ausgabenkontrolle (66%) bestimmt. Den Unterschied zum Mobile Payment bestimmen Anonymität und Verfügbarkeit.

Die Problematik der Ausgabenkontrolle – möglicherweise auch differenziert für verschiedene Verbrauchergruppen – sowie insbesondere die Illusion der Ausgabenkontrolle wird insgesamt wenig thematisiert. Dies überrascht insofern, als das psychologische Konstrukt der subjektiven Kontrollüberzeugung und der Kontroll-illusion aus dem Finanzbereich gut bekannt ist22 und mit Bezug zum kartengesteuerten Zahlungsverkehr explizit bearbeitet wurde. So kommen Raab et al. zu dem Ergebnis, „... dass viele Konsumenten von einer relativ hohen Fähigkeit zur Einschätzung getätigter Konsumausgaben ausgehen, die nicht der Realität entspricht (Illusion der Ausgabenkontrolle).“23 Er schlussfolgert unter anderem, dass Kartenzahlungssysteme die Illusion der Ausgabenkontrolle erhöhen dürften.24

Aufgrund unter anderem der allgemeinen Nutzung von Smartphones im Online-Handel beziffert eine Studie von PricewaterhouseCoopers 2014 die Kundenbasis für mobile Bezahlsysteme auf gerade einmal 176 000, erwartet allerdings bis 2020 eine Vervielfachung auf 11 Mio.25 Die mangelnde Kundenakzeptanz führt die Studie unter anderem auf eine grundlegende Skepsis hinsichtlich der Sicherheit zurück: „Sie [die Kunden] vertrauen den Anwendungen nicht. Zudem fehlen einheitliche Standards und Regeln für die mobile Bezahlung. Anbieter sollten die Themen Sicherheit und Datenschutz deshalb mit höchster Priorität behandeln, um das Vertrauen der Kunden zu gewinnen.“26

Aus Sicht potenzieller Zahler spielen neben der einfachen Handhabbarkeit vor allem die wahrgenommene Sicherheit eine entscheidende Rolle bei der Wahl des Bezahlverfahrens im Internet. „Am liebsten würde die Zahlerseite vollständig darauf verzichten, sensible finanzbezogene Daten wie Kontoverbindung oder Kreditkartennummer anzugeben. Für Kunden sind daher Bezahlverfahren besonders interessant, bei denen sie nur einmal bei einem einzigen vertrauenswürdigen Anbieter ihre Zahlungsdetails hinterlegen und beim Bezahlvorgang im Onlinehandel entweder zu diesem Anbieter oder zum Onlinebanking-Portal ihrer Hausbank weitergeleitet werden, um sich dort einzuloggen und den Bezahlvorgang auszulösen.“27

In den Einschätzungen zur Akzeptanz wird die Bedeutung von Sicherheit und Datenschutz gut sichtbar. „Sicherheit bleibt ein höchst kritisches Thema. Geld ist leichter umleitbar als jedes physische Gut. Jede Lösung trägt ihre Umgehungsversuche bereits in sich, der Kampf der Guten gegen die Bösen bleibt eine Daueraufgabe.“28 Ähnliches gilt wohl auch für die persönlichen Daten. Auf die Frage „Wie hoch schätzen Sie Ihr persönliches Risiko ein, Opfer der folgenden Gefahren zu werden?“, nennen als erste und häufigste Gefahr fast zwei Drittel die Gefahr des Weiterverkaufs ihrer Daten, auch eine deutliche Mehrheit der 14- bis 29-Jährigen (57%).29

Schlussfolgerungen

Eine notwendige Bedingung dafür, dass Bürger überhaupt und annähernd „mündig“ handeln können, bildet die volle Transparenz. Noch wichtiger ist aber die hinreichende Bedingung, dass die Informationen eine hohe Qualität besitzen und nicht irgendwo und irgendwie transparent gemacht werden.30 Entscheidend scheint hier aus der Perspektive der Bürger zu sein, wie einfach, verständlich und klar erkennbar ist, dass die genutzten Angebote aus den persönlichen Daten bezahlt werden (auch durch die Weitergabe an Dritte) und ob es im Ablehnungsfall außer der Nicht-Nutzung des Dienstes Möglichkeiten der Vermeidung sowie Lösungsalternativen gibt. Hierzu gehört auch die einfache, klare und verständliche Kennzeichnung, inwiefern persönliche Daten zur direkten oder indirekten persönlichen, geografischen und technikabhängigen (z.B. abhängig vom genutzten Gerät) Preisdifferenzierung verwendet werden (sollen). Gleichermaßen betrifft dies die Kennzeichnung hinsichtlich der (IT-)Sicherheit einschließlich der Deklaration der erwarteten und verpflichtenden Mitwirkung des Zahlers.

Dies erscheint schon deshalb wichtig und immer bedeutender werdend, weil der Barzahlungsverkehr kaum mehr eine große Rolle spielt. Gemessen am Wert der Transaktionen in Höhe von insgesamt mehr als 71 Billionen Euro 2013 ist der Baranteil von nicht einmal 1% verschwindend gering. Bezogen auf die Zahl der Transaktionen in Höhe von mehr als 22 Mrd. Stück 2013 beträgt der Baranteil gerade einmal reichlich 10%.31

Bis zu einer wünschenswerten regulativen Lösung der Verbraucherpolitik ist grundsätzlich eine Übergangslösung denkbar. Einer zumindest anfänglich vorhandenen Zahlungsbereitschaft für hohe Standards bei Sicherheit und Datenschutz könnte durch eine besondere Prämierung Rechnung getragen werden. Erwägenswert wäre hier ein Gütesiegel, das einfach und verständlich dokumentiert, dass ein Zahlungsdiensteanbieter hinsichtlich Sicherheit und Zuverlässigkeit sowie bezogen auf den Schutz der persönlichen Daten mehr als die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt. Alternativ wäre aber auch denkbar, gegen Bezahlung die Garantie zu erhalten, dass alle Daten nach einer Nutzungseinheit (Session) komplett gelöscht werden.

  • 1 A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. (Nicht) Beraten und verkauft? Chancen und Risiken der Online-Beratung und -Information am Beispiel Verbraucherfinanzen, Bamberg 2015.
  • 2 Vgl. ders.: Die Akzeptanz der technikgestützten Selbstbedienung im Privatkundengeschäft der Universalbanken, Betriebswirtschaftliche Abhandlungen, Neue Folge, Bd. 80, Stuttgart 1990.
  • 3 Ders.: Digitale Welt und Finanzen. No Cash? Chancen und Risiken im Zahlungsverkehr unter einer digitalen Agenda, Bamberg 2015.
  • 4 A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O.
  • 5 Der Begriff FinTech umfasst aber auch noch weitere Geschäftsmodelle, z.B. im Bereich digitale Anlage/Beratung/Vermittlung/Verwaltung oder zu Big Data und Finanzdienstleistungen.
  • 6 A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O.
  • 7 Ebenda.
  • 8 Vgl. z.B. Deutsche Bundesbank: Der digitale Strukturwandel im Zahlungsverkehr, Geschäftsbericht 2014, S. 43-61, 48.
  • 9 A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O.
  • 10 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zahlungsverhalten in Deutschland 2014, Frankfurt 2015, S. 21.
  • 11 Vgl. Steria: Potenzialanalyse Mobility, Hamburg 2014, S. 6.
  • 12 Vgl. ibi research: Zukunft des Bezahlens – Einschätzungen und Trends aus Händlersicht, Regensburg 2014, S. 17.
  • 13 Vgl. Deutsche Bundesbank: Der digitale Strukturwandel ..., a.a.O., S. 52.
  • 14 Vgl. Bank for International Settlement (BIS): Innovations in retail payments, Committee on Payment and Settlement Systems, Basel 2012, S. 13.
  • 15 Zu den weiteren Ausführungen und zu weiterführenden Analysen vgl. A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O.
  • 16 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zahlungsverhalten in Deutschland ...., a.a.O., S. 54; Mehrfachnennungen möglich (maximal 3).
  • 17 Vgl. Ebenda, S. 35.
  • 18 Vgl. auch A. Oehler: Die Akzeptanz der technikgestützten Selbstbedienung ..., a.a.O.
  • 19 Vgl. Deutsche Bundesbank: Zahlungsverhalten in Deutschland ..., a.a.O., S. 41.
  • 20 Vgl. Ebenda, S. 43.
  • 21 K. P. Blond: Mobile Payments – security, confidence, future market developments and the challenges for cash, Talk, ESTA, Berlin, 1. Juni 2015, S. 1, 7-8.
  • 22 Vgl. A. Oehler: Die Erklärung des Verhaltens privater Anleger – Theoretischer Ansatz und empirische Analysen, Betriebswirtschaftliche Abhandlungen, Neue Folge, Bd. 100, Stuttgart 1995, S. 96-98.
  • 23 G. Raab: Kartengestützte Zahlungssysteme und Konsumentenverhalten, in: Beiträge zur Verbraucherforschung, H. 34, Berlin 1998, S. 164.
  • 24 G. Raab, L. A. Reisch: Kaufverhalten und Zahlungssysteme; in: M. A. Wirtz (Hrsg.): Dorsch Lexikon der Psychologie, 17. Aufl., Bern 2014, S. 857.
  • 25 Vgl. PricewaterhouseCoopers: Mobile Payment in Deutschland 2020, München 2014, S. 6 und 18.
  • 26 Ebenda, S. 34.
  • 27 Deutsche Bundesbank: Der digitale Strukturwandel ..., a.a.O., S. 49.
  • 28 H.-G. Penzel: Kolumne, FinTechs: Fluch und Segen für die Banken; in: BIT Banking and Information Technology, 16. Jg. (2015), Nr. 9-12, S. 9. Vgl. zu den wesentlichen Sicherheitsaspekten auch Bank for International Settlement (BIS), a.a.O., S. 46-48.
  • 29 Vgl. Initiative D 21: D21 – digital – Index 2014. Die Entwicklung der digitalen Gesellschaft in Deutschland, Berlin 2014, S. 41; erst danach wird mit deutlichem Abstand (53%) Schadware genannt.
  • 30 Hierzu und im Weiteren: A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O., vgl. auch die dort zitierte Literatur.
  • 31 A. Oehler: Digitale Welt und Finanzen. No Cash?..., a.a.O., vgl. auch die dort durchgeführte Analyse mit Daten aus der Zahlungsverkehrsstatistik.
 

Konsum 4.0: eine Skizze

Im Jahr 1965 publizierte Gary S. Becker ein Modell der Produktionsfunktion des Konsums,1 das auf seine Forschung zur Abhängigkeit des Humankapitals von Bildung2 und zur Abhängigkeit individuellen Verhaltens nicht von rationalen Entscheidungen, sondern von Gelegenheiten und Restriktionen zurückgreift3 und gleich zwei entscheidende Erkenntnisse vertritt: Erstens ist Konsum das Ergebnis aktiver Entscheidungen und nicht passiver Hinnahme, sei es der eigenen Bedürfnisse, sei es der Angebote auf dem Markt; und zweitens besteht der zu optimierende bzw. zu erfüllende Nutzen des Konsums nicht nur im Gebrauchs- und Distinktionswert der konsumierten Güter und Dienstleistungen, sondern darüber hinaus in der Zeit, die für den Konsum aufgewendet oder für anderes eingespart wird, im Maß an Bildung, Erfahrung und Umweltzugriffen, die der Konsum erfordert und ermöglicht, und im sozialen Umfeld, in dem der Konsum möglich ist bzw. zu dem der Konsum Zugang verschafft.

Die erste Erkenntnis ist die Voraussetzung dafür, Produktionsfunktionen nicht nur des Konsums, sondern auch der Produktion entwerfen zu können, d.h. mit derselben Analysetechnik nicht nur das Verhalten von Individuen und Haushalten, sondern auch von Firmen, Behörden und anderen Organisationen untersuchen zu können. Auf dieser Grundlage kann eine einheitliche Theorie wirtschaftlichen Verhaltens entwickelt werden, die von Akteuren ausgeht, die ihre Verhältnisse wenn nicht schaffen, so zumindest aktiv reproduzieren, und nicht von Akteuren, die Signale und Anreize hinnehmen und passiv auf sie reagieren. Und die zweite Erkenntnis formuliert ein ökonomisches Modell der Produktion von Konsumentscheidungen, das tendenziell Anforderungen an die Berücksichtigung der Faktoren Zeit, Sozialisation und Gesellschaft genügt, die von soziologischer Seite an ein ökonomisches Modell herangetragen werden können.

Beckers Modell stieß weder bei Ökonomen noch bei Soziologen auf großes Interesse. Zu ungewöhnlich war ein Ansatz, der eine streng funktionale mathematische Gleichung präsentierte, die gleichwohl die Beschränkung ökonomischer Gleichungen auf numerische Werte sprengte und somit eine ökonometrische Bearbeitung erschwerte, wenn nicht unmöglich machte.4 Die Rezeption wurde auch dadurch nicht erleichtert, dass Becker wenig später auch den Faktor der sozialen Interaktion, d.h. der Produktion individueller Entscheidungen durch Rollenverteilungen in Haushalten und Firmen, in den Blick nahm.5 Zunächst mit George Stigler und dann mit Kevin Murphy zog er die Konsequenz aus seinem Modell, die Produktion von Konsumentscheidungen nicht nur für Güter und Dienstleistungen, Bildung und Erziehung, Gattenwahl und Freizeitverhalten, Todeszeitpunkt (durch Investitionen in Lebenswandel, Versicherung und medizinische Vorsorge) und Kriminalitätsbereitschaft,6 sondern auch für Suchtverhalten als rational zu beschreiben.7 Man stieß sich an der mathematischen Formulierung des Modells8 und erkannte nicht, dass die Mathematik hier nichts anderes leistet als die doppelte Klärung zu beachtender Faktoren und funktionaler Zusammenhänge.

Plädoyer für eine Medienarchäologie

Ich interpretiere Beckers Produktionsfunktion des Konsums als eine Heuristik der Beschreibung von funktionalen Abhängigkeiten einzelner Konsumentscheidungen von Faktoren wie Zeit, Sozialisation, Interaktion und Gesellschaft. Und ich schlage vor, diese Heuristik medienarchäologisch zu verwenden, d.h. die Funktionsgleichung um den Faktor Netzwerk in Abhängigkeit von der medienhistorischen Formation der betrachteten Gesellschaft zu ergänzen. Zielsetzung dieser Ergänzung ist die Formulierung eines theoriegeleiteten Programms der Erforschung des Konsumverhaltens in der „nächsten Gesellschaft“9 oder im „neuen digitalen Zeitalter“,10 die jedoch voraussetzt, dass man sich Rechenschaft darüber gibt, welche nachwirkenden Formen das Konsumverhalten in früheren Medienepochen angenommen hatte.

Wir bekommen es medienarchäologisch mit der Frage zu tun, wie die nächste Gesellschaft (Gesellschaft 4.0), einen Konsum verändert, der historisch durch die moderne Buchdruckgesellschaft (Gesellschaft 3.0) ebenso geprägt ist wie durch die antike Schriftgesellschaft (Gesellschaft 2.0) und die tribale Gesellschaft der Mündlichkeit (Gesellschaft 1.0). Individuelle Konsumentscheidungen sind so arbiträr oder träge, wie man mag, doch die soziale Formation dieser Entscheidung ist in keiner Gesellschaft dem Zufall überlassen. Individuelle Entscheidungen müssen sich an der sozialen Situation, in der sich das Individuum befindet, orientieren, wenn das Individuum sicherstellen will, auch weiterhin partizipieren zu können. Das schließt Komplexität und Ambivalenz, wie die Soziologie zeigen konnte, nicht aus, sondern ein.11

Ich folge dem Theorem, dass jede Medienepoche durch einen neuen Sinnüberschuss, von Alvin Toffler auch „information overload“ genannt,12 gekennzeichnet ist, der durch eine neue Differenzierungsstruktur der Gesellschaft verteilt und durch eine neue Kulturform der Gesellschaft sinnhaft verdichtet, d.h. selektiv ablehnbar und annehmbar gemacht werden muss.13 Die Errungenschaften dieser Differenzierungsstrukturen und Kulturformen werden mit jeder neuen Medienepoche nicht überflüssig, sondern bleiben notwendig, solange der entsprechende Sinnüberschuss (durch die Sprache, die Schrift und den Buchdruck) nach wie vor eine Rolle spielt und solange man von der Ungleichzeitigkeit gleichzeitiger Entwicklungen ausgehen muss, d.h. in manchen Regionen der Weltgesellschaft noch die Medienepochen der Sprache, der Schrift oder des Buchdrucks dominieren.

Beckers Ausgangsannahme lautet:

Ui = Ui (Z1, …, Zm).

Der Gesamtnutzen U, den ein Individuum i durch seine Entscheidungen produziert, setzt sich aus der Summe oder dem Verhältnis (Kommata sind in funktionalen Gleichungen dieser Art schwer zu interpretieren) der Bedürfnisbündel Z1 bis Zm zusammen.

Jedes einzelne dieser Bedürfnisbündel, Zj, (bestehend aus Bedürfnis, Gütern, Leistungen, Situationen) ist in seiner Nutzeneinschätzung eine Funktion f der konsumierten Menge x, der aufzuwendenden bzw. eingesparten Zeit t, der investierten bzw. gewonnenen Erziehung, Erfahrung und weiterer Umweltfaktoren (environment) E, der Charakteristik der Personen R1 bis R r, mit denen das seinen Konsum produzierende Individuum in Berührung kommt bzw. denen es dank seines Konsums aus dem Weg gehen kann, und eines Netzwerkfaktors N, in dem die Struktur und Kultur der jeweiligen Gesellschaftsformation S (society) abgebildet wird. Faktor N ist meine Ergänzung der von Becker formulierten Produktionsfunktion des Konsums:

Zj = f ij (xj , tj , Ei , R 1 j , …, R rj , NS).

Ein mögliches Programm zur Erforschung digitalisierter Usancen des Konsums besteht aus zwei Teilen. Erstens kann die Form des Konsums für jede bisherige Medien­epoche des Netzwerks NS, also für die tribale Gesellschaft Ntribal, die antike Gesellschaft Nantik und die moderne Gesellschaft Nmodern, bestimmt werden. Und zweitens kann man sich anschauen, wie x, t, E und R variiert werden, wenn die nächste Gesellschaft, Nnext, sich ausdifferenziert und Konsummuster deutlich werden, die sich von denen der früheren Gesellschaft, sie aufnehmend und überlagernd, unterscheiden.

Es liegt auf der Hand, dass wir dieses Forschungsprogramm nur um den Preis der historischen Vergröberung ins Auge fassen und auf dem begrenzten Raum des vorliegenden Aufsatzes nur andeuten können. Ich beschränke mich darauf, kurz zu skizzieren, was es heißt, Konsum­entscheidungen im Kontext unterschiedlicher Gesellschaftsformationen zu verorten, um mit einer Bemerkung zur Form des Konsums im digitalen Zeitalter zu schließen.

Plastizität im Netzwerk

Konsumentscheidungen sind individuell und erratisch. Ihre Festlegung ergibt sich aus Gelegenheiten, Restriktionen und den Launen des Individuums. Wissenschaftliche Modelle des Konsums versuchen daher nicht, einzelne Entscheidungen zu erklären, sondern zielen auf die Frage, ob die Reproduktion dieser Entscheidungen bestimmte Muster aufweist und bestimmten Konditionen gehorcht. Selbst impulsive Entscheidungen können als impulsiv nur erklärt werden, wenn sie impulsiv wiederholt werden können. Die einzelne, noch nicht wiederholte Entscheidung kann hingegen nur als komplex beschrieben werden, weil in ihr körperliche, psychische, mentale und soziale Determinanten unauflösbar zusammentreffen.

Dreht man die Blickrichtung um, sieht man, dass die Komplexität individueller Konsumentscheidungen das „mikrodiverse“ Material ist,14 in dem die Gesellschaft mit sozialen Determinanten des Konsums experimentieren kann. Die Plastizität des Konsums ergibt sich aus der losen Kopplung zwischen individuellen Entscheidungen und sozialen, psychischen und organischen Konditionen, denen ihre Wiederholung unterliegt.

Fragen wir in diesem Sinne nach Differenz und Wiederholung, können wir für die Stammesgesellschaft (Ntribal) die Form der Reziprozität, für die antike Gesellschaft ­(Nantik) die Tugend, für die moderne Gesellschaft (Nmodern) die Konformität und für die nächste Gesellschaft (Nnext) den Stil als Form der Wiederholung von Konsumentscheidungen identifizieren. Auf eine Begründung dieser Setzungen muss ich hier aus Platzgründen verzichten. Die Skizze eines denkbaren Forschungsprogramms muss genügen.

Reziprozität heißt, dass mit jeder Konsumentscheidung eine unbestimmte, aber bestimmbare Verpflichtung eingegangen wird, ähnliche Entscheidungen auch von anderen zu erwarten bzw. anderen einzuräumen:15 Konsumiert werden darf nur, wenn und was im vergleichbaren sozialen Kreis auch andere konsumieren. Tugend heißt, dass nur solche Entscheidungen wiederholt werden dürfen, die als Ansprüche an die eigene Lebensführung vor der aktuellen Gegenwart, einer erinnerten Vergangenheit und einer absehbaren Zukunft Bestand haben:16 Man konsumiert, was man schenken und geschenkt bekommen kann (mit einer großen Brandbreite zwischen Raub, List, Strafe und Fürsorge), nicht das, was man erhandelt.17 Konformität heißt nicht, dass alle Konsumentscheidungen als konform ausgeflaggt werden, sondern dass sie einem subtilen Spiel der Distinktion, Authentizität, Irrationalität (Verschwendung) und Postrationalisierung in der Auseinandersetzung mit einem zugleich anerkannten und unterlaufenen Massenproduktionsmarkt unterworfen werden:18 Das Prinzip der rivalisierenden Imitation,19 das für alle Medienepochen des Konsums gilt, wird hier zu einer doppelten Auseinandersetzung mit Konformität und Devianz.

Konsum in der nächsten Gesellschaft

Für Nnext wird es interessant, nach der Einbettung von Konsumentscheidungen in eine gesellschaftliche Kommunikation zu fragen, die mit elektronischen Medien, mit unsichtbaren, aber mitkommunizierenden Maschinen, mit Datenspeichern, Real-Time-Algorithmen und umfassenden Protokollen aller aufgezeichneten Entscheidungen aufwartet.20 Unter diesen Bedingungen scheint mir die Erwartung gerechtfertigt, dass

  • die Menge des Konsums, x, unter Anforderungen der Nachhaltigkeit gestellt wird, der die Lust an nachlässiger Verschwendung als Form einer Art trotzigen Souveränität nach wie vor widersprechen wird,
  • der Faktor Zeit, t, unter dem doppelten Gesichtspunkt digitaler, rechenhafter Schnelligkeit und analoger, menschlicher Widersprüchlichkeit gewichtet wird,
  • Erziehung, Erfahrung und Umwelt, E, gleichermaßen Raum für Intellektualisierung (Wissen) und Emotionalisierung (Intuition) bieten müssen,
  • die Personen, R, mit denen jede Konsumentscheidung interaktiv rechnet, online und offline auf ihre Fähigkeit hin beobachtet werden, sowohl Gruppennähe als auch Kontakte ins Netz vermitteln zu können, und
  • die Funktion, f, die diese Faktoren zum individuellen Nutzen des Güter-, Dienstleistungs- und Bedürfnisbündels, Z, zusammenrechnet, unter wachsende Ansprüche ihrer Endogenisierung, sprich des Ausstiegs aus einer unkontrollierbaren Wachstumsökonomie auf Basis der Ausbeutung fossiler Energien in eine ökologisch balancierte oder zumindest reflektierte Postwachstumsökonomie, geraten wird.

Die Form des Konsums in der nächsten Gesellschaft ist vermutlich der Stil,21 der die wiederholbare Konsumentscheidung eines Individuums in Relation zu ihrer digitalen Berechenbarkeit und analogen Unberechenbarkeit, zu einer Konformität, die ihre Protokolle ausreizt, und zu einer Devianz, die fragile Idiosynkrasien testet, setzt. Wir bekommen es mit einer Form von Komplexität zu tun, die auch im Konsum auf dieselbe Verschaltung und Vernetzung organischer, psychischer, sozialer, kultureller und technischer Prozesse setzt, die zugleich in ihrer unberechenbaren Eigenständigkeit gepflegt und gefeiert werden.

  • 1 G. S. Becker: A Theory of the Allocation of Time, in: Economic Journal, 75. Jg. (1965), S. 493-517.
  • 2 G. S. Becker: Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis with Special Reference to Education, Chicago, IL 1964.
  • 3 G. S. Becker: Irrational Behavior and Economic Theory, in: Journal of Political Economy 70. Jg. (1962), Nr. 1, S. 1-13.
  • 4 Siehe auch P.-A. Chappori, A. Lewbel: Gary Becker’s A Theory of the Allocation of Time, in: Economic Journal, 125. Jg. (2015), Nr. 583, S. 410-442.
  • 5 G. S. Becker: A Theory of Social Interactions, in: Journal of Political Economy, 82. Jg. (1974), Nr. 6, S. 1063-1093.
  • 6 G. S. Becker: The Economic Approach to Human Behavior, Chicago IL 1976 (dt. 1982).
  • 7 G. J. Stigler, G. S. Becker: De Gustibus Non Est Disputandum, in: American Economic Review, 67. Jg. (1977), Nr. 2, S. 76-90; G. S. Becker, K. M. Murphy: A Theory of Rational Addiction, in: Journal of Political Economy, 96. Jg. (1988), Nr. 4, S. 675-700; und vgl. D. Baecker: Artificial Paradise Revisited, in: S. Jansen, E. Schröter, N. Stehr (Hrsg.): Stabile Fragilität – fragile Stabilität, Wiesbaden 2013, S. 25-39.
  • 8 Etwa O. Rogeberg: Taking Absurd Theories Seriously: Economics and the Case of Rational Addiction Theories, in: Philosophy of Science, 71. Jg. (2004), Nr. 3, S. 263-285; siehe jedoch P. Mobilia: Gambling as a Rational Addiction, in: Journal of Gambling Studies, 9. Jg. (1993), Nr. 2, S. 121-151.
  • 9 P. Drucker: Managing in the Next Society, New York 2002; vgl. D. Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2007.
  • 10 E. Schmidt, J. Cohen: The New Digital Age: Reshaping the Future of People, Nations and Businesses, London 2013 (dt. 2013).
  • 11 T. Parsons, E. A. Shils (Hrsg.): Toward a General Theory of Action, Cambridge, MA 1951.
  • 12 A. Toffler: Future Shock, New York 1970 (dt. 1970).
  • 13 N. Luhmann: Selbstorganisation und Mikrodiversität: Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus, in: Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie, 3. Jg. (1997), Nr. 1, S. 23-32, S. 405 ff. und 609 ff.; D. Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft …, a.a.O.
  • 14 N. Luhmann, a.a.O.
  • 15 A. W. Gouldner: The Norm of Reciprocity: A Preliminary Statement, in: American Sociological Review, 25. Jg. (1960), Nr. 2, S. 161-178.
  • 16 Xenophon: Oikonomikos: Die Hauswirtschaftslehre, in: ders.: Die sokratischen Schriften, hrsg. von Ernst Bux, Stuttgart 1956, S. 235-302.
  • 17 M. I. Finley: The World of Odysseus, überarb. Aufl., New York 1978 (dt. 1979).
  • 18 J. Baudrillard: Die Konsumgesellschaft: Ihre Mythen, ihre Strukturen, dt. Wiesbaden 2015.
  • 19 R. Girard: Das Heilige und die Gewalt, dt. Zürich 1987.
  • 20 E. Schmidt, J. Cohen, a.a.O.
  • 21 H. C. White: Identity and Control: A Structural Theory of Action/How Social Formations Emerge, 1. und 2. Aufl., Princeton, NJ 1992/2008, S. 166 ff./112 ff.

Title:Consumers in a Digital World – Where Are We Heading?

Abstract:Researchers at the fourth consumer research panel on digital transformation developed an agenda for the study of modern consumption that raises questions with regard to a number of multidisciplinary issues. First, data-driven business models pose various challenges and numerous opportunities. What is the value of data and how should the privacy concerns of customers be dealt with? Second, data, analytics, cognitive systems and design thinking concepts are customisable, but the direction such customisation takes is an open question. Third, new business models in the field of digital retail payment systems may have implications for consumers, payment system providers and regulators alike. How do they influence consumers’ acceptance of these innovative systems? Finally, Gary S. Becker’s production function of consumption identifies factors which allow research and politics to distinguish between consumption in the modern printing press society and in the next digital media society. What style of consumption will be produced in the next society?

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-015-1908-6