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Der demografische Wandel ist keine große Welle, die uns überrollen wird, sondern eine Folge dreier Entwicklungen, die völlig verschieden sind und nach mindestens drei verschiedenen Politikantworten rufen. Die erste Entwicklung ist die schnelle Aufeinanderfolge von Babyboom und Pillenknick, also eine zeitlich einmalige Besonderheit in unserer Geschichte, die auch in vielen anderen Ländern geschah, kaum aber so ausgeprägt und zeitlich gedrängt wie in Deutschland. Die zweite davon unabhängige Entwicklung ist die säkulare Verlängerung der Lebenserwartung, von der zumindest das statistische Bundesamt seit fast vierzig Jahren ein Ende vorhersagt, das bislang jedoch nicht eingetreten ist. Ungebrochen erhöht sich die Lebenserwartung praktisch linear alle zehn Jahre um etwa zwei Jahre. Die dritte Entwicklung ist die ebenfalls seit etwa 40 Jahren ungebrochen niedrige Geburtenrate, so dass jede neue Generation nur etwa zwei Drittel so groß ist wie ihre Vorgängergeneration. Es ist wichtig, diese drei Entwicklungen auseinanderzuhalten, weil sie verschiedene wirtschaftspolitische Implikationen haben, welche die Basis für den Reformprozess bilden, den wir bis 2013 in Deutschland erlebt hatten.

Beginnen wir mit der zweiten Entwicklung: Was muss man tun, wenn wir immer länger leben? Dies ist eigentlich offensichtlich. Um unser Renteneinkommen zu finanzieren, müssen wir eine Weile arbeiten, bislang etwa im Verhältnis 2 zu 1, also 40 Jahre Arbeitsleben, um 20 Jahre Rentenbezug zu finanzieren. Wenn wir länger leben, muss nicht nur die Rentenbezugszeit, sondern auch das Arbeitsleben länger werden, damit diese Proportion von 2:1 erhalten bleibt. Um es drastisch zu übertreiben: Würden wir 300 Jahre lang leben, dann wird es mit einer Rente mit 63 schwierig sein, die übrigen 237 Jahre zu finanzieren. Um 100 Jahre Rentenbezug zu erwirtschaften, werden eher 200 Jahre Arbeitszeit benötigt. Diese drastische Übertreibung macht anschaulich, dass man Lebenserwartung und Rentenalter nicht entkoppeln kann. Dementsprechend werden wir uns auch mehr um Weiterbildung und Gesundheitsprävention kümmern müssen – das werde ich später nochmals aufgreifen.

Eigentlich ist aus ökonomischer Sicht auch die Antwort auf den plötzlichen Wechsel von Babyboom auf Pillenknick klar, der uns in wenigen Jahren einen wahren Boom von Renteneintritten bescheren wird. Für eine Übergangszeit von zehn bis 15 Jahren werden wir weit mehr Renteneintritte haben als Neueintritte in die Erwerbstätigkeit, so dass die gesetzliche Rentenversicherung an die Grenzen ihrer Finanzkraft kommen wird. Bei einem solchen transitorischen Belastungsschub sollte man so agieren, wie es die meisten Haushalte und die meisten Unternehmen machen würden, nämlich vorher ansparen und gegebenenfalls die Schuldenlast reduzieren. Dazu dienen die vielerorts ungeliebten kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Säulen der Altersvorsorge. Sie sind bitter nötig, um die Belastung der Generationen auszugleichen, denn nur durch Kapitaldeckung kann der (großen) Babyboom-Generation ein Teil der Alterslast aufgebürdet werden, die ansonsten die (weitaus kleinere) Pillenknickgeneration alleine tragen müsste. Nota bene: Es muss sich hierbei um echte Kapitaldeckung handeln, also Investitionen in Realkapital und nicht etwa in Staatsschuld, denn letztere müssten wieder die Kinder abtragen mit ihren Steuerzahlungen. Hier machen wir bei Riester-Verträgen und der betrieblichen Altersvorsorge vieles falsch. Und es hilft natürlich auch, wenn wir die Staatsschulden dank der „schwarzen Null“ zumindest nicht weiter erhöhen. Dies lässt den in Südeuropa unbeliebten, wie die Amerikaner sagen, „Austerity“-Kurs der Bundesregierung vielleicht in einem etwas erstrebenswerteren Licht erscheinen.

Bei der dritten Entwicklung, anhaltend niedrige Geburtenrate, möchte ich einen völlig anderen Akzent setzen, als es normalerweise getan wird. Wir haben 40 Jahre lang die verschiedensten und zum Teil recht teuren familienpolitischen Maßnahmen ausprobiert, während derer die Geburtenrate jedoch praktisch völlig unverändert geblieben ist. Wenn wir es also nicht schaffen, die „Quantität“ an Kindern zu erhöhen, müssen wir wenigstens die „Qualität“ verbessern. Mit diesen trockenen ökonomischen Begriffen meine ich, dass wir die wenigen Kinder, die wir in die Welt setzen, wenigstens hervorragend ausbilden müssen. Wenn man den PISA-, TIMMS- und PIAAC-Studien folgt, dann machen wir hier große Fehler. Eine alternde Gesellschaft muss in die Ausbildung und die lebenslange Gesundheit der Jungen investieren, anstatt sich die Rente mit 63 und die Mütterrente zu leisten.

Ein längeres Erwerbsleben und mehr kapitalgedeckte Eigenvorsorge mögen wie Hohn in den Ohren derjenigen Menschen klingen, denen es gesundheitlich oder finanziell schlecht geht. Für diese Menschen können die oben formulierten großen Linien nicht gelten. Für sie braucht man zusätzliche Politikinstrumente wie die Erwerbsminderungsrente und die Grundsicherung. Auf diese komme ich noch zu sprechen. Das schließt jedoch keinesfalls aus, eine nachhaltige Politik für die Mehrheit derjenigen Menschen zu formulieren, die gesund und finanziell solide sind. Demografie- und Umverteilungspolitik sind verschiedene Ansätze, die sich weder ausschließen noch in einen Topf geworfen werden dürfen.

Die Rentenreform 1972: die stille große Koalition

Nach der Einführung der dynamischen umlagefinanzierten Rente Mitte der 1950er Jahre war die Rentenreform 1972 eine historische Wegmarke. Aus heutiger Sicht war sie ein Fehlschritt. Damals gab es eine stille rentenpolitische große Koalition; die Namen Norbert Blüm und Rudolf Dreßler mögen Vielen noch im Gedächtnis sein. Das Schlüsselwort war Flexibilität: die flexible Rente. Wir werden den Bogen zur flexiblen Teilrente 2014 noch schlagen.

Weder in Europa noch in den USA gab es jemals eine Rentenreform, die so einschneidend und innerhalb kürzester Zeit das Renteneintrittsalter verändert – in diesem Fall massiv verringert – hat (vgl. Abbildung 1).1 Die Einführung der abschlagsfreien flexiblen Rente hat das Eintrittsalter um drei Jahre reduziert und damit die Rentenbezugszeit um drei Jahre verlängert. Damals betrug die mittlere Rentenbezugsdauer ca. 18 Jahre, d.h. die Reform 1972 hat sie um ein Sechstel erhöht; entsprechend sind die Kosten gestiegen. Erst die Verschärfung der damaligen Berufsunfähigkeitsrente in den 1980er Jahren und die Einführung der Abschläge ab ca. 1997, auf die wir noch zurückkommen werden, hat das Rentenalter wieder erhöht. Mittlerweile gibt es ökonometrische Modelle, die dieses Verhalten auch quantitativ verlässlich beschreiben. Die Hauptlehre aus ihnen ist, dass günstige Angebote wie einen früheren Renteneintritt ohne Abschläge von den Arbeitnehmern und -gebern ohne langes Zögern angenommen werden. Wenn man Flexibilität kostenfrei anbietet, wird dies auch angenommen.

Abbildung 1
Die Wirkung der Rentenreform 1972 auf das durchschnittliche Renteneintrittsalter
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Quelle: A. Börsch-Supan, R. Schnabel: Social Security and Declining Labor-Force Participation in Germany, in: American Economic Review, 88. Jg. (1998), S. 173-178.

Die Rentenreform 1992: Norbert Blüms politische Genialität

Die Blümsche Rentenreform 1992 ist zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten. Sie hat zum einen die Brutto- durch die Nettoanpassung des Rentenniveaus ersetzt. Zum anderen hat sie die Abschläge bei frühzeitiger Verrentung eingeführt, was 1972 wie eben beschrieben unterblieben war. Diese beiden Schritte haben das seit 1972 stark angestiegene Volumen der Rentenauszahlungen (also der durchschnittliche Zahlbetrag multipliziert mit der durchschnittlichen Bezugszeit) seit 1992 wieder stabilisiert (vgl. Abbildung 2) und zwar trotz weiter ansteigender Rentenbezugsdauer, indem der monatliche Zahlbetrag real abgesenkt wurde.2 Politisch gelang dieser Einschnitt im Wesentlichen dadurch, dass die ungeliebten Abschläge erst mit im Schnitt ca. zehnjähriger Verzögerung graduell eingeführt wurden, so dass sie die damalige Regierung nicht mehr beschädigen konnten. Die Blümsche Rentenreform 1992 ist also ein schönes Beispiel für eine Reform, die ökonomisch damals das Richtige gemacht hat, daher potenziell unpopulär war, aber dennoch politisch gut verkauft werden konnte.

Abbildung 2
Die Wirkung der Rentenreform 1992 auf das Volumen der Rentenleistungen
Volumen, in 1000 Euro
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Quelle: Deutsche Rentenversicherung Bund: Die Rentenversicherung in Zeitreihen, http://www.deutsche-rentenversicherung.de.

Die Reformen der Agenda 2010: ein Paradigmenwechsel

Der demografische Wandel schritt schneller voran als es die Reform 1992 vorausgesehen hatte. Zudem wurde ein in die Rentenformel etwas inkonsequent eingebauter demografischer Faktor von der neuen Bundesregierung 2001 wieder abgeschafft. 2002 stand die gesetzliche Rentenversicherung vor einer Schieflage; der Reformdruck wurde offensichtlich. Die Rentenreformen der Agenda 2010 waren Teil einer langfristigen Strategie, die sich vor allem an skandinavischen Vorbildern orientierte. Sie hatten vier strategische Elemente:

  1. Die nur an die Lohnentwicklung gebundene Leistungszusage der gesetzlichen Rentenversicherung wurde durch eine Anpassung an die Demografie modifiziert. Die zentrale Idee des Nachhaltigkeitsfaktors war es, die demografische Belastung prozentual gleich auf die jüngere und die ältere Generation zu verteilen. Der Nachhaltigkeitsfaktor ist kein Kürzungsfaktor, sondern erhöht das Rentenniveau und senkt die Beiträge, wenn die Zahl der Erwerbstätigen steigt, und senkt das Rentenniveau und erhöht die Beiträge, wenn sie fällt. Der Nachhaltigkeitsfaktor reagiert damit auf die wirtschaftliche und demografische Entwicklung wie ein automatischer Stabilisator.
  2. Jegliche Leistungseinschränkung der gesetzlichen Rentenversicherung erhöht die Gefahr der Altersarmut. Dies war der Hintergrund für die 2001 eingeführte Grundsicherung.
  3. Der damalige Bundesarbeitsminister Walter Riester hat die ergänzenden Säulen gestärkt und vor allem die private Altersvorsorge hoffähig gemacht. Die private Altersvorsorge wurde durch die Riesterrente fiskalisch gefördert; die betriebliche Altersvorsorge durch die abgabenfreie Entgeltumwandlung, die später verstetigt wurde.
  4. 2007 wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der das Rentenalter schrittweise bis zum Jahr 2029 von 65 auf 67 Jahre heraufsetzen wird.

Mindestens ebenso wichtig für die Stabilität der Rentenversicherung wie diese Rentenreformen im engeren Sinne waren die im Kern der Agenda 2010 stehenden Maßnahmen, die die Beschäftigung insgesamt erhöht haben. Der seitdem anhaltende Arbeitsmarktboom hat es ermöglicht, zu einem nicht geringen Maße aus dem Gefängnis von Beitragserhöhungen und Leistungsverringerungen entfliehen zu können. Tatsächlich konnte der Nachhaltigkeitsfaktor dank des selbst von Optimisten so nicht erwarteten Beschäftigungsanstiegs zunächst leistungserhöhend anstatt -verringernd wirken.

Wo stehen wir? Welche Schlüsse lassen sich ziehen?

Die Reformen von 1992 bis 2007 waren eine Erfolgsgeschichte, was deren ökonomische Wirkung angeht. Die vier oben genannten rentenpolitischen Elemente haben die explodierende Beitragsentwicklung stoppen können. Wie wichtig als zusätzliches Element die Arbeitsmarktreformen waren, wird oft unterschätzt. Durch deren Beschäftigungswirkungen konnte man den Beitragssatz um etwa einen ganzen Prozentpunkt senken. Wäre man noch weitergegangen und hätte die damalige skandinavische Erwerbsquote erreicht, dann hätte dieser um weitere zwei Drittel Prozentpunkte abgesenkt werden können (vgl. Abbildung 3).3 Weder die Beitrags- noch die Leistungsentwicklung werden nach den Projektionen von 2013 in Konflikt mit 2004 eingeführten Wegmarken und Sicherungsklauseln kommen.

Auch in puncto Altersarmut stehen wir in Deutschland relativ gut da. Die Altersarmut ist derzeit sehr niedrig, auch im internationalen Vergleich, unabhängig davon, wie sie gemessen wird. In der offiziellen Definition (Bezug der Grundsicherung) liegt sie mit weniger als 3% der über 65-Jährigen weit unter der Armutsquote der Gesamtbevölkerung, die knapp über 7% beträgt. Armut betrifft in Deutschland eher junge Leute, alleinerziehende Haushalte und vor allem alleinerziehende Haushalte mit Migrationshintergrund. Hier betragen die Armutsgefährdungsquoten ca. 50%. Wenn Deutschland ein Armutsproblem hat, dann betrifft es also weniger das Alter als die Jugend.4

Abbildung 3
Wirkung der Erwerbstätigkeit auf den Rentenbeitrag
in %
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Quelle: A. Börsch-Supan, K. Härtl, A. Ludwig: Aging in Europe: Reforms, International Diversification, and Behavioral Reactions, in: American Economic Review P&P, 104. Jg. (2014), Nr. 5, S. 224-229.

Auch die Einführung der ergänzenden kapitalgedeckten Säulen war in dem Maße ein Erfolg, in dem man es erwarten konnte. Die Riesterrente hat mittlerweile eine Abdeckung von ungefähr 45% erreicht. Im Jahr 2001 hatten 73% der Haushalte keine zusätzliche Altersvorsorge; 2013 waren dies nur noch 39% (vgl. Abbildung 4).5

Der Aufstieg der Riesterrente kam zudem nicht auf Kosten anderer kapitalgedeckter Altersvorsorgeprodukte. Im Gegenteil, die betriebliche und die sonstige private Altersvorsorge ist parallel dazu weiter angestiegen. Die Kritik an der Riesterrente ist ungerechtfertigt, was ihre Verbreitung angeht, denn man kann nicht erwarten, dass alle Haushalte riestern. Für die unteren Einkommensschichten ist es schwierig, überhaupt zusätzlich anzusparen. Für die oberen Einkommensschichten gibt es rentierlichere Anlagestrategien. Für die Mittelschicht war es jedoch ein überaus erfolgreicher Übergang auf eine demografisch stabilere Mischung aus Umlageverfahren und Kapitaldeckung. Die Anlagestrategien der kapitalgedeckten Altersvorsorge mag man kritisch sehen, ebenso wie die Staatspapiere fördernden Anlagevorschriften, vor allem aber die derzeitige Geldpolitik, die das Angesparte wieder entwertet.

Während die Agenda-Reformen in ökonomischer Hinsicht ein voller Erfolg waren, wurden sie politisch ein Misserfolg. Ein Kanzler hat darüber sein Amt verloren und eine ganze Partei hat den Namen Agenda 2010 auf den Index gesetzt. Der Vergleich mit den deutlich härteren Leistungseinschnitten der Reform 1992 ist erstaunlich. Blüm wird gefeiert, Dreßler ist vergessen, Riester wird ausgebuht.

Abbildung 4
Entwicklung der privaten und betrieblichen Altersvorsorge
in %
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Anrechnungszeiten mit 35 bzw. 45 Wartejahren

Quelle: A. Börsch-Supan, T. Bucher-Koenen, M. Coppola, B. Lamla: Savings in times of demographic change: Lessons from the German experience, MEA-Discussion Paper, Nr. 18-2014, 2014.

Die Lehren der großen Koalition: das Rentenpaket 2014

Die Hauptlehre der großen Koalition seit 2013 scheint zu sein, ein politisches Desaster wie nach der Agenda 2010 zu vermeiden, auch wenn dies bedeutet, dass der ökonomische Erfolg dieser Reformstrategie dadurch gefährdet wird. Das Rentenpaket der großen Koalition, das im Mai 2014 verabschiedet wurde, zeugt davon. Es verschiebt, ebenso wie die Abwertung der Ersparnisse durch die gegenwärtige Geldpolitik, die Balance der demografischen Belastung zugunsten der bevölkerungsanteilig großen älteren auf Kosten der jüngeren Generation, die vor allem bei den Wahlen unterrepräsentiert ist. Die beiden teuersten Elemente des Rentenpakets kommen einseitig nur bestimmten Jahrgängen zugute, belasten aber die zukünftigen Beitragszahler noch lange. Die Mütterrente, die nur Frauen betrifft, die vor 1992 Kinder bekommen haben, kostet bis zum Jahr 2040 ungefähr 6 Mrd. Euro pro Jahr. Die Rente mit 63, die nur die Jahrgänge 1953 bis 1964 betrifft, kostet etwa 3 Mrd. Euro pro Jahr. Die Nachhaltigkeitsreserve der gesetzlichen Rentenversicherung, die 2014 ca. 30 Mrd. Euro betrug und Beiträge wie Leistungen stabilisieren soll, wird also bereits in drei Jahren allein durch diese beiden Maßnahmen aufgebraucht sein.

Dieser hohe Preis für ein Reformpaket ist umso erstaunlicher, als die tatsächliche Zielgruppe vor allem der Rente mit 63 nicht mit der Zielgruppe übereinstimmt, die von der Regierung vorgegeben wurde. Die Rente mit 63 ist regressiv und belohnt keinesfalls diejenigen, die sehr lange in anstrengenden Berufen gearbeitet haben und daher im Alter gesundheitlich angeschlagen sind. Zudem zeigen Berechnungen, die bereits vor der Verabschiedung gemacht wurden, dass der Bezugskreis weit größer ist, als von der Bundesregierung angegeben wurde. Auch hier zeigen sich Parallelen zur Rentenreform 1972, deren große Wirkung auf das Rentenalter zunächst ignoriert wurde.

Die Anspruchsberechtigten für die Rente mit 63 weisen zwar längere Beschäftigungsbiografien auf, erreichen aber keineswegs 45 Erwerbsjahre. Männer und Frauen, die die Voraussetzungen für eine abschlagsfreie Rente erfüllen, haben bis zu ihren 59. Lebensjahr im Schnitt lediglich 39 bzw. 37 Jahre im Rahmen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Rentenbeiträge bezahlt (vgl. Abbildung 5).6

Es gibt keine Evidenz, dass Personen, die eine besonders lange Erwerbsbiografie haben, am Ende des Erwerbslebens häufiger krank sind. Im Gegenteil: Die Anspruchsberechtigten weisen weniger Monate auf, in denen Krankheit vorliegt. Sie haben zudem im Laufe ihres Erwerbslebens mehr Entgeltpunkte und somit höhere Rentenansprüche als langjährig Versicherte erworben. Das liegt nicht nur an den längeren Versicherungsbiografien, sondern vor allem an der Tatsache, dass im Schnitt die Anspruchsberechtigten mehr Entgeltpunkte pro Jahr erworben haben. Es sind vor allem relativ gut bezahlte Facharbeiter, die in den Genuss der Rente mit 63 kommen werden.

Abbildung 5
Renteneintrittsberechtigte mit 35 bzw. 45 Wartejahren, 2011
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Quellen: A. Börsch-Supan, M. Coppola, J. Rausch: Die Rente mit 63: Wer sind die Begünstigten? Was sind die Auswirkungen auf die Gesetzliche Rentenversicherung?, MEA-Discussion Paper, Nr. 18-2014, 2014; Datenbasis ist das Scientific Use File der Versicherungskontenstichprobe für das Jahr 2011 (SUF-VSKT2011) des Forschungsdatenzentrums der Deutschen Rentenversicherung.

Mehr Flexibilität? Zurück zu den Lehren aus der Rentenreform 1972

Zusätzlich wird über eine weitere Flexibilisierung des Rentenalters nachgedacht. Hier schließt sich der Bogen zur Rentenreform von 1972 und der damaligen stillen großen Koalition, die mit der Einführung der flexiblen Rente politisch punkten konnte. Die Beschäftigungsmöglichkeiten nach dem gesetzlichen Renteneintrittsalter sind in der Tat mit einigen arbeits- und abgaberechtlichen Hindernissen bewehrt, die es abzubauen gilt. Eine Teilrente vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter birgt jedoch sehr große Beschäftigungsrisiken, weil sie für einen noch viel größeren Bevölkerungsbereich relevant wird als dies bereits bei der Rente mit 63 der Fall war. Dies ist keine Spekulation, sondern es gibt solide Evidenz für die zu erwartende Beschäftigungswirkung von abschlagsfreien oder -begünstigten Teilrentenmodellen zwischen dem Alter von 60 Jahren und dem gesetzlichen Renteneintrittsalter. Zum einen wissen wir aus der Reform von 1972, dass das Angebot kostenfreier Flexibilität ohne Verzögerungen angenommen wird. Damals sank das Rentenalter langfristig um drei Jahre.7 Zum anderen wissen wir aus den Erfahrungen mit der Altersteilzeit, dass die Arbeitnehmer bei der Wahl zwischen einem graduellen Übergang zwischen Erwerbs- und Rentenleben und vollständiger Verrentung das Blockmodell und keinesfalls den vielfach propagierten und in Umfragen auch immer wieder betonten graduellen Übergang vorziehen. Darüber hinaus wissen wir aus dem Ausland, dass Teilrentenmodelle unter dem Strich das Arbeitsvolumen nicht erhöhen, sondern verringern. Beispiele gibt es in Finnland, in Schweden und in Österreich. In Österreich ist die Beschäftigungsquote (de facto die Zahl der Erwerbstätigen) zwar um einen Prozentpunkt gestiegen, das Arbeitsvolumen (gemessen in geleisteten Arbeitsstunden) sank jedoch um 29%.8 Dies lag daran, dass nur relativ wenige Arbeitnehmer nach dem Rentenalter eine Beschäftigung fortgesetzt haben, während relativ viele Arbeitnehmer vor dem Rentenalter die zusätzliche Flexibilität genutzt haben, um weniger zu arbeiten.

Fazit

Dank der Reformen von 1992 bis 2007 hatte Deutschland eine hervorragende Ausgangssituation, um den demografischen Wandel zu meistern. Die Reformen waren weitsichtig, haben das Rentensystem stabilisiert und die Beschäftigung, die den tragenden Pfeiler jeder Altersvorsorge bildet, deutlich erhöht. Die positiven ökonomischen Schlüsse werden aus diesen Reformen jedoch nur bedingt gezogen. Das Rentenpaket 2014 hat stattdessen teilweise wieder verspielt, was erreicht worden war. Die Konzentration der derzeitigen rentenpolitischen Maßnahmen ist auf die ältere anstatt auf die jüngere Generation gerichtet, obwohl sie die ältere doch in Zukunft finanzieren soll. Eine alternde Gesellschaft braucht die Jüngeren, um spätere Probleme zu verhindern. Sie müssen daher besser ausgebildet werden, und um deren Gesundheitsvorsorge muss man sich verstärkt kümmern. Wenn eine Demografiestrategie weitsichtig sein soll, darf ihr Kern nicht aus teuren rentenpolitischen Rückschritten, sondern muss aus vermehrten Investitionen in unsere Jugend bestehen.

  • 1 A. Börsch-Supan, R. Schnabel: Social Security and Declining Labor-Force Participation in Germany, in: American Economic Review, 88. Jg. (1998), S. 173-178.
  • 2 Deutsche Rentenversicherung Bund: Die Rentenversicherung in Zeitreihen, http://www.deutsche-rentenversicherung.de.
  • 3 A. Börsch-Supan, K. Härtl, A. Ludwig: Aging in Europe: Reforms, International Diversification, and Behavioral Reactions, in: American Economic Review P&P, 104. Jg. (2014), H. 5, S. 224-229.
  • 4 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Gutachten Altersarmut, Berlin 2012.
  • 5 A. Börsch-Supan, T. Bucher-Koenen, M. Coppola, B. Lamla: Savings in times of demographic change: Lessons from the German experience, MEA-Discussion Paper, Nr. 18-2014, 2014.
  • 6 A. Börsch-Supan, M. Coppola, J. Rausch: Die Rente mit 63: Wer sind die Begünstigten? Was sind die Auswirkungen auf die Gesetzliche Rentenversicherung?, MEA-Discussion Paper, Nr. 18-2014, 2014.
  • 7 A. Börsch-Supan: Incentive Effects of Social Security on Labor Force Participation: Evidence in Germany and Across Europe, in: Journal of Public Economics, 78. Jg. (2000), S. 25-49.
  • 8 N. Graf, H. Hofer, R. Winter-Ebmer: Labor supply effects of a subsidized old-age part-time scheme in Austria, in: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung, 44. Jg. (2011), H. 3, S. 217-229.

Title:Lessons Learned from the 1972 Pension Reform

Abstract:Thanks to the reform process between 1992 and 2007, Germany was in a very good position to master demographic change. These reforms were farsighted, they stabilised the public pension system and they significantly increased employment, the foundation of every old­age provision. The “Pension Package 2014”, however, is putting this position in jeopardy by focusing on the older generation at the expense of the young, whoich needs more education and better health care, areas in which Germany exhibits only mediocre performance. A farsightedIf a demographicy strategy wants to be farsighted, its core cannot centre onbe reductions in the retirement age and similar expensive steps backwards, but will instead require investments into Germany’s youth.

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DOI: 10.1007/s10273-015-1796-9

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