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Große Besorgnis um die Zukunft Europas bestimmt die politische Agenda in Brüssel. Angesichts von Brexit, Flüchtlingskrise und weiter bestehender Ungleichgewichte stellen sich wichtige Fragen in Bezug auf die nahe und fernere Zukunft Europas. Dabei stehen die Europäische Union (EU) und die Währungsunion vor zum Teil sehr unterschiedlichen, zum Teil aber auch ähnlichen Problemen. Die Legitimation für die jeweilige institutionelle Ausgestaltung schwindet in beiden Fällen, die Ursachen sind indes unterschiedliche. Auf abstrakterer Ebene geht es um die Interaktion von ökonomischer und politischer Integration. Beide Dimensionen müssen auf einem zu jedem Zeitpunkt stabilen Entwicklungspfad miteinander in Einklang gebracht werden. Dafür sind entsprechende institutionelle Anreiz- und Ausgleichsmechanismen zu entwickeln.

Diese grundsätzlich zu beantwortende und politisch zu entscheidende Frage findet vor dem Hintergrund der konjunkturellen Entwicklung und der strukturellen Reformpolitik statt. Dabei „leidet“ Europa und hier insbesondere die Eurozone unter der Interaktion und Überlagerung konjunktureller und struktureller Phänomene. Vor allem für die Krisenländer ist das Zusammenspiel angebots- und nachfrageseitiger Faktoren komplex und zudem wechselseitig restringierend. Die optimale intertemporale Ausgestaltung von nachfrage- und angebotsseitigen Instrumenten entscheidet darüber, ob sich die Spirale nach oben aus der Krise heraus oder nach unten in die Krise hinein dreht. Der Erfolg des gewählten Policy-Mix wirkt dabei erkennbar auf die politische Stabilität und die konstitutionelle Legitimation Europas zurück.

Neben den unterschiedlichen Strukturproblemen wirkt die Asymmetrie in der konjunkturellen Erholung negativ auf die Stabilität Europas. Zudem handelt es sich bei der konjunkturellen Aufwärtsentwicklung in einigen Fällen um Basiseffekte, die sich mit der Zeit wieder zurückbilden und kein erhöhtes Potenzialwachstum darstellen. Die unterschiedliche konjunkturelle Dynamik ist speziell für die Eurozone ein gravierendes Problem. Gleichgerichtete Fiskalpolitik ist nicht möglich, so dass eine fiskalpolitische Koordinierung wichtig wäre, um die Europäische Zentralbank (EZB) früher aus ihrer Krisenpolitik zu befreien. Typischerweise wird angenommen, dass die Transmission der Geldpolitik symmetrisch und somit neutral über den Mechanismus relativer Preise erfolgt. Vor dem Hintergrund der nach wie vor heterogenen konjunkturellen und strukturellen Entwicklung bemüht sich die EZB, durch unkonventionelle Maßnahmen (Ankaufprogramme und Manipulation der Zinsstrukturkurve) bewusst eine asymmetrische Transmission und dadurch gezielte Stabilisierungswirkungen zu erzielen. Die Gefahr bleibt jedoch, dass induzierte Kapitalströme und „wandernde“ Vermögenspreisblasen innerhalb Europas zur „Tagesordnung“ einer geld- und fiskalpolitischen Governance der Eurozone gehören werden.

Die angestrebte Konvergenz innerhalb Europas ist nicht allein eine ökonomische Frage, sondern interagiert mit der politischen Bereitschaft, einen entsprechenden Pfad zu beschreiten. Diese Bereitschaft gründet nicht allein auf politischem Willen, sondern auf tieferliegenden Faktoren. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, sich die derzeitigen Startpositionen der europäischen Länder und ihrer daraus abgeleiteten mutmaßlichen Bewegungsrichtung anzusehen. Die Position eines Landes ergibt sich aus zwei Dimensionen, dem Grad der wirtschaftlichen Verflechtung innerhalb Europas relativ zur gesamten Verflechtung sowie der sozioökonomischen Einstellung zu integrationsrelevanten Merkmalen.

Das wirtschaftliche Integrationsniveau wird im Folgenden verstanden als das Ausmaß der wirtschaftlichen Verflechtung eines Landes mit dem Rest der EU. Es zeigt mithin an, wie stark das Land in seiner Wirtschaftsstruktur in den Austausch mit anderen EU-Ländern eingebunden ist. Da Länder mit höherem Integrationsniveau erwartungsgemäß auch höhere Kosten im Falle der Desintegration zu tragen haben, gibt dieses Maß einen Eindruck davon, welche Priorität die europäische Integration für die Wirtschaft des Landes besitzt. Das zweite Merkmal, der sozioökonomische Entwicklungsstand, reflektiert demgegenüber Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten in der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Die sozioökonomische Position eines Landes bestimmt sich gemeinsam durch die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Säule. Erstere wird durch die Messgröße Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf abgebildet. Da das BIP den Mehrwert der innerhalb eines Landes produzierten Güter und Dienstleistungen misst, deckt es ausschließlich die wirtschaftliche Säule ab und bildet allein kein für den hier verfolgten Zweck genügendes Entwicklungsmaß. Deshalb wird ihm der Social Progress Index (SPI) zur Seite gestellt, ein von der Organisation Social Progress Imperative berechneter Index. Es handelt sich hierbei um eine Maßzahl, die gesellschaftlichen Fortschritt im Hinblick auf die drei Dimensionen Menschliche Grundbedürfnisse, Grundlagen des Wohlbefindens sowie Chancen und Möglichkeiten abbildet, deren Komponenten jeweils auf einer Reihe von Subindikatoren basieren.

Wie das für die Länder Europas aussieht, zeigt Abbildung 1. Zu erkennen ist ein Cluster von Ländern, die eine Art Kerneuropa darstellen. Die übrigen Länder ordnen sich in relativer Position dazu an. Hinsichtlich der Lage der Länder in diesen beiden Dimensionen lässt sich vermuten, dass dahinter zum einen unterschiedliche Präferenzen der Länder in Bezug auf die Verfassung von Wirtschaft und Gesellschaft stehen, zum anderen aber auch unterschiedliche Entwicklungsstadien der Volkswirtschaften und Gesellschaften ursächlich sind. Diese Unterscheidung scheint notwendig, weil sie über die mutmaßliche Dynamik der Veränderung viel aussagt. Unterschiede in den Präferenzen dürften sich über die Zeit kaum zurückbilden bzw. homogenisieren, während sich Unterschiede im Entwicklungsstand durch wirtschaftliche Konvergenz verringern. So lässt sich als Hypothese vermuten, dass jene Länder, die sich auf dem oberen Ast in Abbildung 1 befinden, sich über die Zeit womöglich auch politisch-gesellschaftlich dem Kern Europas annähern, während Länder auf dem unteren Ast eine andere, kulturell vorgeprägte Präferenz für ein bestimmtes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell haben und insoweit eine Annäherung nicht zu erwarten ist. Dabei stellt sich auch die Frage, wie stark ein institutioneller Rahmen unterschiedliche Präferenzen von Gesellschaften tatsächlich homogenisieren kann oder überhaupt sollte. Europa verfügt nur für bestimmte Länder über Gravitation, die zu einer politischen und ökonomischen Konvergenz führen können.

Abbildung 1
Integrationsgrad und Entwicklungsstand europäischer Volkswirtschaften
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Die Pfeile geben die Bewegungsrichtung der Länder an, sie deuten in der Tendenz Konvergenz bzw. Divergenz an.

Quelle: HWWI, 2016.

Angesichts dieser Ausgangssituation stellt sich die Frage nach dem zukünftigen Entwicklungspfad Europas. Der politisch derzeit opportune, aber institutionell sehr schwierige Weg besteht darin, den Grad der Integration mit dem Grad der Konvergenz zu variieren. Das erlaubt zwar kurzfristig das größte Ausmaß an Heterogenität, zwingt die Länder Europas aber nicht auf einen gemeinsamen Entwicklungspfad.

Führt man über die oben genannten beiden Maße eine Clusteranalyse durch, ergeben sich Cluster von Ländern (vgl. Tabelle 1). Diese können als „Clubs im Club“ dargestellt und vorsichtig hinsichtlich ihrer Bewegungsrichtung zueinander interpretiert werden. Die Stabilität Europas ist demnach erkennbar nicht allein eine Frage der schnellen konjunkturellen Erholung, sondern der nachhaltigen strukturellen Konvergenz.

Tabelle 1
Clubs im Club Europa
Gruppe Land Charakteristika
1 Belgien Hoher Entwicklungsstand, mittlerer bis geringer Integrationsgrad
1 Deutschland
1 Österreich
1 Frankreich
1 Spanien
2 Italien Mittlerer bis geringer Entwicklungsstand, mittlerer Integrationsgrad
2 Kroatien
2 Lettland
2 Polen
2 Portugal
2 Rumänien
2 Slowenien
2 Zypern
3 Dänemark Hoher Entwicklungsstand, geringer Integrationsgrad
3 Finnland
3 Irland
3 Niederlande
3 Schweden
3 Großbritannien
4 Bulgarien Geringer Entwicklungsstand, geringer Integrationsgrad
4 Griechenland
4 Litauen
5 Estland Mittlerer Entwicklungsstand, hoher Integrationsgrad
5 Slowakei
5 Tschechien
5 Ungarn

Luxemburg und Malta: keine Werte.

Quelle: Berenberg und HWWI: Europa, Strategie 2030, Hamburg 2016.


DOI: 10.1007/s10273-016-2049-2