Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss steht international in der Kritik. Er übersteigt deutlich die Zielvorgaben im Rahmen des Makroökonomischen Überwachungsverfahrens der Europäischen Union. Welche Ursachen die auseinanderlaufende Entwicklung der Exporte und Importe hat, wird allerdings sehr unterschiedlich interpretiert. Die einen sehen hier die Fortentwicklung von Basiseffekten einzelner außergewöhnlicher Jahre, andere vermuten eine zu geringe Binnennachfrage und eine aus verschiedenen Gründen deutliche Steigerung der Sparquote. In Zukunft dürfte allerdings die demografische Entwicklung in Deutschland die Leistungsbilanzüberschüsse schrumpfen lassen.
Deutsche Handelsüberschüsse – der lange Schatten weniger Krisen
Deutschland wird voraussichtlich in diesem Jahr einen neuen Rekordwert beim Handels- und Leistungsbilanzüberschuss erreichen. Die positive Differenz zwischen den Exporten und den Importen von Waren und Dienstleistungen auf Basis der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) wird sich 2016 auf gut 240 Mrd. Euro oder auf knapp 8% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) belaufen (vgl. Abbildung 1). Seit dem Krisenjahr 2009 hat sich der Überschuss in absoluten Größen verdoppelt. Der Leistungsbilanzsaldo auf Basis der Zahlungsbilanz wird sogar leicht höher ausfallen. Damit werden die Zielvorgaben im Rahmen des Makroökonomischen Überwachungsverfahrens in der Europäischen Union,1 die einen Höchstwert von 6% des BIP für Leistungsbilanzüberschüsse vorsehen, deutlich überschritten. Die aktuelle Entwicklung beim deutschen Außenhandel und der Rekordüberschuss werden die anhaltende Diskussion über außenwirtschaftliche Ungleichgewichte im Euroraum und in der Europäischen Union weiter anheizen.2
Abbildung 1
Deutschlands Außenbeitrag1
1 Differenz zwischen Exporten und Importen von Waren und Dienstleistungen gemäß VGR-Abgrenzung. Für 2016: IW-Prognose.
Quellen: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Temporäres oder strukturelles Phänomen?
Eine Indikation, die gegen die Interpretation als strukturelles Problem sprechen kann, ist die Dynamik der Exporte und Importe in den letzten Dekaden. Wenn es sich beim deutschen Außenhandelsüberschuss um eine strukturelle Störung handeln würde, dann müssten die Veränderungen bei den Importen permanent und merklich niedriger ausfallen als die Dynamik der Exporte. Der deutschen Exportstärke stünde dann eine dauerhafte Importschwäche – als mögliche Folge einer latenten Konsum- oder Investitionsschwäche im Inland – gegenüber. Zur Beweisführung werden die grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungstransaktionen auf Basis der VGR (wie in Abbildung 1) herangezogen. Diese sind auch relevant, wenn es darum geht, in welchem Ausmaß das Wachstum der deutschen Wirtschaft durch den Außenbeitrag einerseits und die Inlandsnachfrage andererseits bestimmt wird. Die spiegelbildlichen Entwicklungen in der Kapitalbilanz werden hier nicht thematisiert.3
Abbildung 2 und 4 zeigen dazu die Veränderungen der Importe und der Exporte auf Basis von Indizes mit unterschiedlichen Basisjahren. Es wird jeweils sowohl der Außenhandel in nominaler Rechnung als auch auf Basis preisbereinigter Werte betrachtet. Die nominalen Indexwerte passen aufgrund der gemeinsamen Datengrundlage4 zu den absoluten Werten, die der Abbildung 1 zugrunde liegen. Der dort dargestellte wachsende Überschuss steht also in Einklang mit der in den Abbildung 2 und 4 sichtbaren Dynamik der nominalen Werte.
Abbildung 2
Entwicklung des deutschen Außenhandels
1 Waren und Dienstleistungen gemäß VGR-Abgrenzung. Für 2016: IW-Prognose.
Quellen: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Abbildung 1 zeigt, dass Deutschland in den frühen 1990er Jahren leichte Defizite beim Waren- und Dienstleistungshandel aufwies. Die in Abbildung 2 dargestellten Indizes mit dem Basisjahr 1991 setzen also nicht an einem bereits bestehenden Überschuss an, der sich dann bei gleichen Wachstumsraten von Exporten und Importen in absoluten Werten vergrößern würde. Abbildung 1 und der obere Teil von Abbildung 2 zeigen, dass in den 1990er Jahren die Exportdynamik etwas höher ausfiel als die Importdynamik. In dieser Dekade weisen die nominalen Ein- und Ausfuhren gleichwohl insgesamt eine ähnliche Dynamik auf: Die Indexwerte (mit Basis 1991 = 100) lagen im Jahr 2000 bei 169 (Importe) und 174 (Exporte). Der nominale Außenbeitrag belief sich auf knapp 6 Mrd. Euro oder knapp 0,3% des BIP. Eine nennenswerte und politikrelevante Differenz ist das nicht.
Auf Basis der preisbereinigten Werte (Abbildung 2 unten) war die Lücke nochmals erheblich kleiner: Im Jahr 2000 lag der Indexwert (mit Basis 1991 = 100) für die Exporte bei 167 und der Wert für die Importe bei 165. Demnach war in realer Betrachtung ein nahezu deckungsgleicher Verlauf von Ausfuhren und Einfuhren in den 1990er Jahren zu verzeichnen. Der gleichzeitig entstandene moderate Überschuss auf Basis nominaler Werte (vgl. Abbildung 1) ist somit auf die unterschiedliche Preisentwicklung in dieser Zeit zurückzuführen: Während die Exportpreise bis 1999 um insgesamt 2,5% stiegen, gaben die Importpreise um insgesamt fast 6% nach. Letzteres lag auch an rückläufigen Energiepreisen. Der stark ansteigende Ölpreis im Jahr 2000 hat dies dann wieder teilweise korrigiert (vgl. Abbildung 3).
Die unmittelbar auf die Jahrtausendwende folgenden Jahre hatten dann aber offensichtlich einen erheblichen Einfluss auf die deutsche Außenwirtschaftsbilanz. Abbildung 2 zeigt, dass sowohl auf Basis der nominalen als auch anhand der realen Werte eine markante Abkopplung von Export- und Importdynamik stattfand. Während die Exporte nach 2000 noch zulegten, gaben die Importe vor allem 2002 deutlich nach – sowohl in nominaler als auch in realer Rechnung. Der Überschuss beim grenzüberschreitenden Waren- und Dienstleistungshandel stieg von knapp 6 Mrd. Euro (2000) sprungartig auf knapp 97 Mrd. Euro (2002) an. Diese Divergenzphase wird deshalb im Folgenden ausführlich beleuchtet. Ihre Bedeutung für die Interpretation der darauf folgenden deutschen Handels- und Leistungsbilanzsituation wird aus der weiteren Dynamik der Exporte und Importe sichtbar.
Abbildung 2 weist bereits darauf hin, dass es nach 2002 wieder zu einer gleichgerichteten Entwicklung von deutschen Exporten und Importen kam. Aus dem Vergleich von nominaler und realer Dynamik können zusätzliche Auswirkungen einer zeitweisen Divergenz von Export- und Importpreisen erkannt werden (vgl. Abbildung 3).
Abbildung 3
Deutschlands Außenhandelspreise
1 Waren und Dienstleistungen gemäß VGR-Abgrenzung. Für 2016: IW-Prognose.
Quellen: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Ersichtlich wird aber vor allem, dass der gewaltige Niveaueffekt, der hauptsächlich 2002 entstand, seither für die deutsche Außenwirtschaftsposition einen bleibenden Einfluss und Basiseffekt hat. Abbildung 4 macht diesen Sondereffekt besonders deutlich:
- Der Blick auf die nominalen Exporte und Importe zeigt für 2002 bis 2014 eine fast deckungsgleiche Entwicklung – mit wenigen und geringfügigen Ausnahmen. Erst ab 2014 kam es zu einer merklichen Abkopplung. Diese ist allerdings mit der unterschiedlichen Preisentwicklung von Import- und Exportgütern (vgl. hierzu ebenfalls Abbildung 3) zu erklären.5 Der starke Einbruch der Rohölpreise hat die nominalen Importwerte stark gedämpft.
- Auf Basis der preisbereinigten Werte gab es ab 2002 ebenfalls einen recht hohen Gleichlauf von Exporten und Importen. Dieser wurde jedoch in zwei Perioden gestört: Zum einen durch den stärkeren Exportanstieg im Jahr 2007 – in den Krisenjahren 2008 und 2009 wurde dies aber wieder korrigiert, zum anderen durch die Importschwäche im Jahr 2012. Danach war jeweils wieder eine hohe Übereinstimmung von Export- und Importdynamik zu beobachten.
Abbildung 4
Entwicklung des deutschen Außenhandels
1 Waren und Dienstleistungen gemäß VGR-Abgrenzung. Für 2016: IW-Prognose.
Quellen: Statistisches Bundesamt; Institut der deutschen Wirtschaft Köln.
Beim Gesamtblick auf die bisherigen Abbildungen verdichtet sich somit der Befund, dass die wachsende absolute Divergenz bei den nominalen Exporten und Importen Deutschlands und der sich mittlerweile auf über 240 Mrd. Euro aufgebaute Außenbeitrag nicht das Ergebnis einer dauerhaften Abkopplung des Importwachstums vom Exportwachstum darstellt. Vielmehr gab es im vergangenen Vierteljahrhundert offensichtlich drei Perioden, in denen sich ein kurzfristiger, aber starker Exportüberschuss bildete, der sich dann bei annähernd gleichen Veränderungsraten von Exporten und Importen in die genannte Größenordnung aufbaute.
Stagnationsjahre 2001 bis 2004
Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass nach der Jahrtausendwende eine deutliche Abkopplung des Import- vom Exportwachstum in Deutschland stattfand. Im Durchschnitt der Jahre 2001 bis 2003 legten die nominalen (realen) Exporte um 3,5% (4,0%) zu. Dagegen lagen die jahresdurchschnittlichen Veränderungsraten bei den nominalen (realen) Importen bei -0,2% (1,3%). Entsprechend kam es zu einem Leistungsbilanzüberschuss. Dieser Zeitraum war wiederum von einer Vielzahl von makroökonomischen Schocks geprägt, die letztlich zur längsten Stagnationsphase in Deutschland führten:6
- Im Jahr 2000 stiegen die Ölpreise, nachdem sie während einer langen Phase vergleichsweise niedrig und stabil waren, um über 50% gegenüber dem Vorjahr an. Danach beruhigte sich die Lage nur leicht und im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2003 lagen die Ölpreise um rund 50% über dem Durchschnitt der 1990er Jahre. Die damit einhergehenden Kaufkraftverluste bremsten den Konsum.
- Im Jahr 2000 platzte zudem die sogenannte New-Economy-Blase. Die fehlende Nachhaltigkeit einer Reihe von Firmen der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) und Bilanzierungsskandale führten zu starken Einbrüchen an den Börsen mit negativen Auswirkungen auf die Unternehmensfinanzierung und zu negativen Vermögenseffekten.
- Schließlich verursachten die Terroranschläge von 2001 einen Anstieg der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten mit entsprechenden Auswirkungen auf das Investitionsklima.
- Nachdem der Euro zunächst bis Ende 2000 gegenüber dem US-Dollar abgewertet hatte, kam es ab Anfang 2002 bis Mitte 2003 zu einer kräftigen Aufwertung des Euro um 30%. Die entsprechende Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit dürfte sich dämpfend auf die Investitionsneigung in den exportorientierten Branchen ausgewirkt haben.
- Die Entwicklung der industriellen Lohnstückkosten7 hat in dieser Zeit keine zusätzlichen Belastungen erzeugt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass sich über die 1990er Jahre sowohl gegenüber den fortgeschrittenen Ländern insgesamt als auch gegenüber den Ländern des Euroraums ein gewaltiger Lohnstückkostennachteil aufgebaut hatte (vgl. Abbildung 5). Nach der Jahrtausendwende setzte hier eine Korrektur ein. Die deutschen Unternehmen mussten sich aber nach wie vor mit einem erheblichen absoluten Kostenhandikap auf den internationalen Märkten behaupten. Abbildung 5 verdeutlicht auch, dass sich die Verbesserung ab 1999 in erster Linie gegenüber dem Euroraum zeigte. Gegenüber der Gesamtgruppe der fortgeschrittenen Volkswirtschaften war bis 2005 nur eine geringe Korrektur des Kostenschocks aus den 1990er Jahren zu verzeichnen.
Abbildung 5
Lohnstückkostenposition der deutschen Industrie
1 Euroraum: Gründungsmitglieder ohne Deutschland, Irland und Luxemburg; bis 1999 auf Nationalwährungsbasis. 2 Länder des IW-Arbeitskostenvergleichs.
Quelle: C. Schröder: Lohnstückkosten im internationalen Vergleich – Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erodiert, in: IW-Trends, 42. Jg. (2015), Nr. 4, S. 91-110.
Diese Kumulation von negativen Schocks traf auf ein wirtschaftliches Umfeld, das von ausgeprägten Standortproblemen und Reformnotwendigkeiten bestimmt war. Deutschland galt zu dieser Zeit als „sick man of the euro“.8 Die Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR für Wirtschaft) in diesen Jahren dokumentieren diese vielfältigen Problemlagen und Strukturprobleme ausführlich.9 Auch die hartnäckig hohe und ansteigende Arbeitslosigkeit brachte diese Strukturprobleme zum Ausdruck. Letztlich müssen diese Defizite als Auslöser für die im März 2003 angekündigte Agenda 2010 mit ihren umfassenden Reformmaßnahmen in den Folgejahren gesehen werden.10
All diese Belastungsfaktoren führten dazu, dass die Bruttoanlageinvestitionen ab dem Jahr 2001 stark einbrachen. Ab 2002 war auch die Konsumkonjunktur in Deutschland stark in Mitleidenschaft gezogen. Abbildung 6 zeigt dazu die Beiträge der Konsumausgaben der privaten und öffentlichen Haushalte sowie der Bruttoanlageinvestitionen von Unternehmen und Staat zum Wachstum des realen BIP. Zum einen sind die hohen Bremseffekte durch die Investitionskrise ab 2001 und zum anderen die sehr niedrigen Wachstumsbeiträge des privaten und öffentlichen Konsums bis 2005 zu sehen. Es überrascht vor dem Hintergrund dieser Schocks und der dadurch ausgelösten Schwäche der Inlandsnachfrage nicht, dass auch die Importe schwach blieben. Der für das Importwachstum positive Effekt der Euro-Aufwertung wurde offensichtlich von den genannten Belastungsfaktoren mehr als kompensiert.
Abbildung 6
Wachstumsbeiträge von Konsum und Investitionen
1 Die Wachstumsbeiträge der Vorratsinvestitionen und des Außenbeitrags sind nicht dargestellt. 2 Jahresdurchschnittlicher Wachstumsbeitrag von Konsum und Investitionen 1991 bis 2016; 2016: IW-Prognose.
Quelle: Statistisches Bundesamt.
Globaler Investitionsboom
Abbildung 4 zeigt, dass es vor allem 2007 zu einem zweiten kurzfristigen und markanten Auseinanderlaufen von Export- und Importdynamik kam. Dies ist in erster Linie auf Basis der preisbereinigten Werte zu sehen. In nominaler Betrachtung bewirkten die stark ansteigenden Importpreise im Zeitraum 2005 bis 2008 einen weitgehenden Gleichlauf von Export- und Importwerten. Auch diese Preiseffekte sind in einem hohen Ausmaß auf die Verteuerung von Energierohstoffen zurückzuführen.
Folgende Ereignisse können für die Entwicklung im Zeitraum 2006 bis 2008 herangezogen werden:
- Auf globaler Ebene war ab dem Jahr 2002 ein gewaltiger Investitionsboom zu verzeichnen. Die weltweiten Bruttoinvestitionen verdoppelten sich im Zeitraum 2002 bis 2008. Das Gewicht der Schwellen- und Entwicklungsländer an der globalen Investitionstätigkeit stieg in dieser kurzen Periode von gut 22% auf knapp 38% an. Dieser globale Strukturbruch brachte für die deutsche Exportindustrie, die traditionell in hohem Maß auf Investitionsgüter spezialisiert ist, eine starke Belebung mit sich.11
- Im Gefolge dieses global günstigen Umfelds, der Reformmaßnahmen durch die Agenda 2010 und der Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit kam es in Deutschland zu einer stark expandierenden Investitionstätigkeit. Im Zeitraum 2005 bis 2008 stiegen die realen Ausrüstungsinvestitionen um rund ein Drittel an. Abbildung 6 zeigt die hohen Wachstumsbeiträge der gesamten Anlageinvestitionen. Diese Phase wachsender Außenbeiträge war also nicht von einer Investitionsschwäche, sondern von einer stark expansiven Investitionstätigkeit geprägt.
- Die ab 2004 stark zunehmenden Ölpreise – allein von Anfang 2007 bis Mitte 2008 legten diese um fast 150% zu – ließen die Importpreise deutlich steigen. Dies wirkte auf nominaler Ebene kompensierend gegenüber der höheren realen Exportdynamik. Mit Blick auf die Gesamtwirtschaft wurden die höheren Ölpreise aber nicht zu einer größeren Belastung. Vielmehr wurden die negativen Auswirkungen auf Konsum und Produktionskosten durch die stark ansteigenden Exporte in die rohstoffreichen Länder zum Teil kompensiert.12
- Die im Gegensatz zur kräftig steigenden Investitionstätigkeit eher moderate Dynamik der Konsumentwicklung spiegelt zum einen diesen Ölpreisschock wider. Zum anderen müssen die negativen Auswirkungen der kräftigen Mehrwertsteuererhöhung zum Jahresbeginn 2007 und die zusätzlichen Sparanreize infolge der Riesterrente berücksichtigt werden.
Die kurzzeitige Divergenz von Export- und Importwachstum wurde infolge der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise bereits in den Jahren 2008 und 2009 wieder kompensiert. Die Exporttätigkeit wurde von der Krise erheblich stärker beeinträchtigt als die Importe. Abbildung 1 zeigt hierzu auch, dass der starke Anstieg des Außenbeitrags 2007 bis 2009 wieder vollständig auf das Niveau des ersten Basiseffekts von 2002 korrigiert wurde.
Europäische Staatsschuldenkrise
Im Jahr 2012 liefen zum dritten Mal innerhalb eines Vierteljahrhunderts die Exporte und Importe auseinander (vgl. Abbildung 4) und der Außenbeitrag stieg erneut kräftig an (vgl. Abbildung 1). Danach glichen sich reale Export- und Importdynamik ebenfalls wieder an. Der im Jahr 2012 zusätzlich entstandene Basiseffekt trug allerdings – neben den starken Preiseffekten – in den Folgejahren zum weiteren Anwachsen des nominalen Außenbeitrags bei. Welche Ereignisse können für den Importrückgang – bei einem ebenfalls schwächeren Exportwachstum – im Jahr 2012 angeführt werden?
- Die Europäische Staatsschuldenkrise hinterließ in dieser Zeit tiefe Spuren bei den deutschen Investitionen und in der Folge auch bei den deutschen Importen. Dies zeigen die negativen Wachstumsbeiträge der Bruttoanlageinvestitionen in den Jahren 2012 und 2013 in Abbildung 6. Die Eskalation der europäischen Staatsschuldenkrise erreichte im Herbst 2011 einen Höhepunkt. Zumindest zeigt der Economic Policy Uncertainty Index für Deutschland und Europa für diesen Zeitraum sogar erheblich höhere Werte als für das Krisenjahr 2009. Demnach war das Jahr 2012 geprägt von einem Umfeld hoher politischer Unsicherheit in Europa. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Investitionsneigung in Deutschland.13
- Zudem kam es in den Krisenländern der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion – Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und schließlich auch Italien – zu fiskalischen und realwirtschaftlichen Anpassungen, die dort zu eingeschränkten Importen führten.14 Dies wiederum bremste die wirtschaftlichen Perspektiven für das übrige Europa merklich ab. Die damit einhergehenden Verschlechterungen der deutschen Exportaussichten mit Blick auf den europäischen Markt trugen hierzulande zur starken Eintrübung der Investitionstätigkeit bei.
- Der starke Ölpreisanstieg vom dritten Quartal 2010 bis zum zweiten Quartal 2012 um über 50% hat einerseits die Wachstumsbeiträge des privaten und öffentlichen Konsums gebremst, sie blieben aber letztlich stabil. Andererseits begünstigte der starke Ölpreisanstieg die deutschen Exporte in die Rohstoffländer im Zuge des Petro-Dollar-Recyclings.15 Dies und die insgesamt hohe Investitionsgüternachfrage der Schwellenländer hat der nachlassenden Exportnachfrage aus Europa kräftig entgegengewirkt – und einen Einbruch der deutschen Gesamtexporte verhindert.
- Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit wurde durch die Abwertung des Euro begünstigt. Nachdem der Euro gegenüber dem US-Dollar im Zeitraum Mitte 2010 bis Mitte 2011 stark aufgewertet hatte, kam es danach zu einer ebenso starken Abwertung des Euro, die bis zum dritten Quartal 2012 anhielt. Dies hat für sich betrachtet die Exporte begünstigt und die Importe gedämpft.
- Allerdings hat sich die Lohnstückkostenposition der deutschen Industrie nach 2011 wieder verschlechtert (vgl. Abbildung 5). Dabei müssen die starken Schwankungen im Gefolge der globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2009 berücksichtigt werden. Die Stabilisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland bewirkte in Kombination mit dem kräftigen Produktionseinbruch ein Überschießen der Lohnstückkosten. Dies wurde in den beiden Folgejahren wieder korrigiert. Ab 2011 stiegen die deutschen Lohnstückkosten im Vergleich mit dem Ausland wieder spürbar an. Weder eine absolute noch eine relative Lohnzurückhaltung kann somit die Importschwäche in Deutschland in den letzten Jahren erklären.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der überaus starke Anstieg des nominalen Außenbeitrags in den letzten drei Jahren ausschließlich auf einem Preiseffekt beruht.16 Dies zeigen auch die Abbildungen 3 und 4. In realer Rechnung weisen die Exporte und Importe einen Gleichlauf auf. Die deutlich eingebrochenen Rohstoffpreise haben aber die Importwerte erheblich gedämpft und somit den nominalen Außenbeitrag auf einen neuen Rekordwert gehievt.
Schlussbemerkungen
Die Analyse hat gezeigt, dass der aktuelle hohe deutsche Außenbeitrag in einer Größenordnung von 240 Mrd. Euro oder knapp 8% des BIP nicht das Ergebnis einer beständigen Abkopplung des Importwachstums vom Exportwachstum darstellt. Der deutsche Außenhandel ist keine Einbahnstraße. Mit Ausnahme von wenigen schockbeladenen Perioden fallen die Export- und Importdynamik gleich hoch aus. Die Ausnahmen führten allerdings dazu, dass sich bei ansonsten gleicher Veränderungsdynamik ein im Zeitablauf wachsender Außenbeitrag aufbaute. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um die Jahre 2002 und 2012. Hier entlud sich eine Reihe von Belastungsfaktoren, die sich außenwirtschaftlich in Form einer Importkrise und binnenwirtschaftlich in Form einer Investitionskrise manifestierten.
- 1 Vgl. hierzu A. Belke, D. Gros, G. Schnabl: Das europäische Verfahren zur Vermeidung und Korrektur von Leistungsbilanzungleichgewichten, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), Nr. 8, S. 548-556.
- 2 J. Matthes: Current Account Imbalances: Ten misconceptions about current account imbalances in the euro area, in: Intereconomics, 49. Jg. (2014), H. 3, S. 160-170, http://archive.intereconomics.eu/year/2014/3/ten-misconceptions-about-current-account-imbalances-in-the-euro-area/.
- 3 Vgl. hierzu S. Kooths: Die Trugbilder der Leistungsbilanz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), vom 14.2.2014, S. 18; A. Belke D. Gros, G. Schnabl, a.a.O.
- 4 Statistisches Bundesamt: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Inlandsproduktsberechnung, Detaillierte Jahresergebnisse, Fachserie 18, Reihe 1.4, Wiesbaden 2016.
- 5 M. Grömling, J. Matthes: Leistungsbilanz: Höherer Überschuss nur wegen sinkender Importpreise, IW-Kurzbericht, Nr. 34, Köln 2016.
- 6 M. Grömling: Business and Economic Change in Germany since 1989, in: N. O´Mahony, C. O´Reilly (Hrsg.): Societies in Transition: Ireland, Germany and Irish-German Relations in Business and Society since 1989, Baden-Baden 2009, S. 65-92.
- 7 Vgl. C. Schröder: Lohnstückkosten im internationalen Vergleich – Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erodiert, in: IW-Trends, 42. Jg. (2015), Nr. 4, S. 91-110.
- 8 O.V.: The sick man of the euro, in: The Economist vom 3.6.1999, http://www.economist.com/node/209559.
- 9 Z.B. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum, Jahresgutachten 2002/03, Wiesbaden 2002.
- 10 H. Goecke, J. Pimpertz, H. Schäfer, C. Schröder: Zehn Jahre Agenda 2010. Eine empirische Bestandsaufnahme ihrer Wirkungen, IW policy paper, H. 7, Köln 2013.
- 11 M. Grömling: Deutsche Leistungsbilanzüberschüsse – kein Grund für Sanktionen!, in: ifo Schnelldienst, 69. Jg. (2016), Nr. 17, S. 3-8.
- 12 M. Grömling: Deutsche Leistungsbilanz und Recycling der Petrodollars, in: IW-Trends, 41. Jg. (2014), Nr. 3, S. 123-136.
- 13 H. Bardt, M. Grömling, M. Hüther: Schwache Unternehmensinvestitionen in Deutschland? Diagnose und Therapie, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 64. Jg. (2015), Nr. 2, S. 224-250.
- 14 B. Busch, M. Grömling, J. Matthes: Ungleichgewichte in der Eurozone. Ursachenanalyse und wirtschaftspolitische Empfehlungen, IW-Analysen, Nr. 74, Köln 2011.
- 15 M. Grömling: Deutsche Leistungsbilanz und Recycling ..., a.a.O.
- 16 Vgl. ausführlich dazu M. Grömling, J. Matthes, a.a.O.
Mittelfristige Entwicklung des deutschen Leistungsbilanzüberschusses
Die globalen Leistungsbilanzungleichgewichte verharren deutlich unter dem Vorkrisenhoch. Während die USA nach wie vor das größte Leistungsbilanzdefizit ausweisen, gingen der Überschüsse Chinas und Japans zurück. Die Leistungsbilanz der Ölexporteure rutschte 2015 zum ersten Mal seit 17 Jahren in den negativen Bereich. Der Überschuss der Eurozone stieg teilweise ölpreisbedingt auf das derzeit weltweit höchste Niveau an, was auf der Kapitalbilanzseite mit einem Rekordanstieg des Abflusses von festverzinslichen Anlagen aus der Eurozone einherging. Auf der Jagd nach Rendite folgen Investoren den auseinanderlaufenden Zinsunterschieden. In den vergangenen zwölf Monaten erreichten die Nettoabflüsse in Wertpapieranlagen einen Höchststand von mehr als 500 Mrd. Euro. Dieser massive Abzug von festverzinslichen Anlagen wird als „Euroglut“ bezeichnet: Die Grundbilanz fiel deutlich in den negativen Bereich, was wiederum der Haupttreiber hinter dem seit Mitte 2014 einsetzenden Einbruch des Euro war. Als Europas exportstärkstes Land ist Deutschland mit einem Anteil von 60% der Haupttreiber hinter dem Überschuss der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU). Zudem entfiel etwa die Hälfte des Anstiegs des EWU-Überschusses seit 2010 auf Deutschland.
Was bestimmt den deutschen Leistungsbilanzüberschuss?
Aus der Zahlungsbilanzperspektive ist es eindeutig der Güterhandel, der hinter dem starken Anstieg des deutschen Leistungsbilanzüberschusses seit 2000 steht. Die Beschreibung Deutschlands als brummender Exportmotor ist allseits bekannt. Per Definitionem entspricht der Leistungsbilanzsaldo dem Nettosparen der Unternehmen, des öffentlichen Sektors und des Haushaltssektors.
Der Anstieg des Nettosparens seit 2013 ging größtenteils auf die Unternehmen zurück, die ihr Nettosparen bis 2015 auf 3,5% des BIP erhöhten. Nettoinvestitionen blieben äußerst verhalten, da die Kapazitätsauslastung auf ihrem Langfristdurchschnitt lag, die Outputlücke negativ blieb und der globale Konjunkturausblick enttäuschte. Die Unternehmen behielten folglich ihre Gewinne zum Großteil ein, die ölpreisbedingt und durch die gesunkenen Zinszahlungen einen zusätzlichen Schub bekamen. Das Nettosparen des öffentlichen Sektors erhöhte sich trotz der höheren Ausgaben für Flüchtlinge im gleichen Zeitraum auf 1,2%. Die gesunde Arbeitsmarktlage führte zu sprudelnden Steuereinnahmen und die niedrigen Zinsen reduzierten die Zinsausgaben. Der Haushaltssektor hatte weiter die höchste Nettosparquote, sie stieg auf 4,9%. Solides Reallohnwachstum und ölpreisbedingte Einkommensgewinne waren hierfür die Hauptgründe.
In der kurzen Frist stellt der Ölpreis den mit Abstand wichtigsten Treiber der Leistungsbilanz dar und wird den Überschuss 2016 auf einen Höchststand von 8,8% des BIP treiben. Das geringere Öl- und Gashandelsdefizit erklärt nahezu komplett den Anstieg des Überschusses seit 2013. Basierend auf der Prognose von Deutsche Bank Research dürfte der Ölpreis nach einem volatilen Durchschreiten des Tiefpunkts einen moderaten Erholungspfad einschlagen, bis 2017 ist mit einem Rückgang des Leistungsbilanzüberschusses auf 8,2% des BIP zu rechnen. Mittelfristig dürfte er zum einen durch den äußerst verhaltenen Exportausblick und zum anderen durch den Immobilienboom und die demografischen Herausforderungen deutlich fallen.
Gegenwind für deutschen Exportausblick durch globalen Handel
Der Ausblick für die deutschen Exporte bleibt durch die strukturelle Schwäche des globalen Handels, der unklaren künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien, erhöhten politischen Unsicherheiten, einem intensiveren Wettbewerb mit den Schwellenländern und der schwierigen Situation ölexportierender Staaten extrem herausfordernd. Durch den schwachen Euro und die boomende US-Nachfrage übertraf der Anstieg der deutschen Exporte 2015 zwar das Welthandelswachstum. 2016 belastet die deutschen Exporte jedoch die doppelt negative Entwicklung einer schwächeren globalen Nachfrage und einer ungünstigen Wechselkursentwicklung. Folglich dürfte sich das Wachstum der deutschen Exporte 2016 auf rund 3% abschwächen. Trotz der Prognose einer leichten Beschleunigung des globalen BIP-Wachstums dürfte sich die Auslandsnachfrage nach deutschen Gütern 2017 erneut abschwächen. In der kurzen Frist könnten die Unsicherheit nach dem Referendum in Großbritannien und die Verwerfungen in der Türkei eine Belastung für die deutschen Exporte darstellen. Auf Großbritannien entfielen 2015 etwa 20% des gesamten deutschen Handelsüberschusses von 248 Mrd. Euro und damit nur etwas weniger als auf die USA.
Typischerweise ist der deutsche Handel mit dem Welthandel in der mittleren Frist stark synchronisiert. Für die weitere Entwicklung des Welthandels rechnen wir auch mittelfristig damit, dass die Schwäche durch das Zusammenspiel von zahlreichen zyklischen und strukturellen Faktoren anhalten dürfte.1 Unsere Schätzungen deuten auf eine deutlich gefallene Sensitivität des globalen Handels gegenüber dem BIP-Wachstum hin, so dass der Welthandel in den kommenden Jahren etwa nur so stark expandieren dürfte wie das globale Wachstum. Dies legt nahe, dass die Zeiten, in denen die Weltwirtschaft immer offener wurde und damit den Wohlstand deutlich steigerte, vorüber sein könnten.
Die goldenen Zeiten also, in denen eine kräftige externe Nachfrage der Haupttreiber für das deutsche Wachstum war, werden in den kommenden Jahren wahrscheinlich vorbei sein. Daher dürften die deutschen Exporte bis 2020 im Durchschnitt nur um etwa 3,5% bis 4% wachsen, was mehr oder weniger dem Ausblick für den globalen Handel entspricht.
Höhere Importnachfrage durch beschleunigten deutschen Immobilienboom
Seit der Einführung des Euro gab es keine großen Ausschläge bei den deutschen Immobilienpreisen. In der näheren Vergangenheit kam es jedoch zu einem kräftigen Anstieg, der in den nächsten Jahren anhalten dürfte. Der empirischen Evidenz für eine hohe negative Korrelation zwischen der Hauspreis- und der Leistungsbilanzdynamik folgend, dürfte dies einen Gegenwind für den deutschen Leistungsbilanzüberschuss darstellen.
Was ist der Transmissionskanal? Der direkte Effekt ergibt sich dadurch, dass Hauspreise über den Vermögenseffekt eine signifikante, negative Auswirkung auf die Ersparnisse der Haushalte ausüben. Per Definitionem entspricht der Leistungsbilanzsaldo der Nettoersparnis einer Volkswirtschaft. Da Hauseigentümer sich in der Regel als wohlhabender einschätzen, dürften sie von ihrem Einkommen einen geringeren Betrag für das Rentenalter zurücklegen. Hinzu kommt, dass Haushalte mit Immobilienbesitz, aber ansonsten vorhandenen Kreditbeschränkungen bei steigenden Preisen die Möglichkeit erhalten, mit ihrem Immobilienvermögen als Sicherheit höhere Kredite aufzunehmen. Daher dürfte mit steigenden Immobilienpreisen der private Konsum einen Schub erhalten. Da steigende Hauspreise in der Regel mit einer Angebotsausweitung einhergehen, erhöht dies auch die Investitionen, was wiederum zu steigenden Importen führen dürfte. Hinzu kommt, dass ein Immobilienboom Kapital und Arbeit des handelbaren Sektors bindet. Dies schwächt die Leistungsbilanz, da die Arbeiternehmer zu einer Erhöhung der Reallöhne beitragen, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der exportabhängigen Sektoren verschlechtert. Mittelfristig dürften daher der Hauspreis- und der Leistungsbilanzzyklus eng miteinander verbunden sein.
Die günstigen Fundamentaldaten (historisch niedrige Hypothekenzinsen, gute Arbeitsmarktlage, erhöhte Zuwanderung) deuten auf einen fortgesetzten Immobilienboom. Wir erwarten, dass die Hauspreisinflation angesichts des bedeutenden Nachfrageüberhangs ihren seit 2009 bestehenden Trend fortsetzen dürfte. Auf der Nachfrageseite ist das Allzeithoch der Nettozuwanderung von über 1 Mio. 2015 Menschen der Haupttreiber. Der Rekordzuzug von Flüchtlingen und die seit der Arbeitsmarktöffnung 2011/2014 deutlich gestiegene Arbeitszuwanderung aus Osteuropa dürften den Nachfrageüberhang künftig noch erhöhen. Durch die solide Konjunktur und die günstige Arbeitsmarktlage wird Deutschland weiter ein attraktives Zielland für Zuwanderer sein. Wir erwarten aber, dass sich die Nettozuwanderung in der mittleren Frist abschwächt. Mit dem Start der Arbeitnehmerfreizügigkeit für die osteuropäischen Länder verließen zunächst die Personen mit der höchsten Wanderungsbereitschaft ihr Heimatland. Nach diesem Anfangseffekt dürfte die Nettozuwanderung jedoch mit der Zeit geringer ausfallen. Die abweisende Haltung gegenüber dem Flüchtlingszustrom und die Schließung der Balkanroute machen es äußerst unwahrscheinlich, dass sich ein Zustrom wie 2015 wiederholt.
Die erhöhte Nettozuwanderung beeinflusst die Leistungsbilanz über zwei weitere Effekte: Erstens haben die Zuwanderer eine hohe Nachfrage nach Produkten aus ihren Heimatländern. Zweitens tätigen sie Heimatüberweisungen, um beispielsweise damit ihre Familie in den Heimatländern finanziell zu unterstützen. Angesichts der Rekordzuwanderung dürften sich die Heimatüberweisungen von ihrem derzeit höchsten Wert seit Ende der 1990er Jahre künftig noch weiter erhöhen.
Auf der Angebotsseite dürfte selbst eine rapide Expansion der Wohnbauinvestitionen und der Bauaktivitäten nicht ausreichen, um den Nachfrageüberhang in der nahen Zukunft auszugleichen. Der Einbruch nach der Dekade eines Überangebots seit Mitte der 1990er Jahre führte zu einer strukturellen Aushöhlung der Bauindustrie. Ein erneuter Aufbau wird Zeit benötigen. Steigende Landknappheit, überproportional steigende Preise für Bauland und weiterer relevanter Kosten sowie Regulierungen sind zusätzliche begrenzende Faktoren (wie Mietpreisbremse, Bauvorschriften, Umwelt- und Energiestandards).
Bevölkerungsalterung bewirkt Senkung der hohen Sparquote der Haushalte
Die demografischen Herausforderungen dürften mittelfristig wieder in den Vordergrund treten mit weit reichenden Veränderungen für die deutsche Gesellschaft und Wirtschaft, die immer binnenwirtschaftlicher orientiert werden dürfte. Im internationalen Vergleich ist Deutschland eines der am stärksten betroffenen Länder (Rang 5 beim Altenquotienten). Die natürliche Bevölkerungsentwicklung ist seit 1972 durchweg negativ, so dass das Bevölkerungswachstum allein auf die Zuwanderung zurückgeht. Der Anteil der Ausländer stieg von 7% Mitte der 1970er Jahre auf derzeit rund 12%.
Die Effekte der demografischen Veränderungen auf den Leistungsbilanzsaldo verdeutlicht am besten der Zusammenhang zwischen der Leistungsbilanz und dem Nettosparen. Über den Lebenszyklus verändert sich die Sparquote der Haushalte enorm. Die Haushaltseinkommen und die Sparquote erreichen in Deutschland für die Altersgruppe der Personen von 35 bis 45 Jahren den höchsten Wert (etwa 14%) und verbleiben für die Gruppe der 45- bis 55-Jährigen in etwa auf dem gleichen Niveau. Anschließend fallen mit dem Renteneintritt die Haushaltseinkommen kontinuierlich. Das Konsumniveau sinkt allerdings nicht proportional zum Einkommensrückgang, so dass die Sparquote drastisch zurückgeht, aber dennoch positiv bleibt.
Derzeit profitiert Deutschland vom hohen Anteil der Personen im Alter von 45 bis 55 (17% der Bevölkerung). Sobald diese Gruppe in die nächste Zehn-Jahres-Kohorte übergeht, dürfte dies alleine die deutsche Sparquote um 0,5 Prozentpunkte senken.
Deutscher Leistungsbilanzüberschuss bis 2020
Um quantitativ zu bestimmen, wie sich die deutsche Leistungsbilanz mittelfristig entwickelt, identifizieren wir basierend auf einem umfangreichen globalen Paneldatenmodell2 die Haupttreiber hinter den deutschen Leistungsbilanzüberschüssen. Unter Verwendung unserer Projektionen für verschiedene Variablen,3 die wir in den Kategorien „globaler Konjunkturzyklus“, „Demografie“, „Immobilienboom“ und „globale Wertschöpfungsketten“ zusammenfassen, projizieren wir unter Verwendung der geschätzten Koeffizienten die Entwicklung der deutschen Leistungsbilanz (vgl. Abbildung 1). Der Überschuss dürfte bis 2020 um 20% auf etwa 7% des BIP fallen. Der ungünstige demografische Trend in Deutschland ist der größte Treiber einer fallenden Leistungsbilanz, gefolgt vom Häusermarkt und den globalen Wertschöpfungsketten. Auf der anderen Seite dürfte die Abnahme der deutschen Outputlücke und des Potenzialwachstums relativ zum Rest der Welt die Leistungsbilanz leicht erhöhen.
Abbildung 1
Deutschlands Leistungsbilanzüberschuss bis 2020
1 Gesamter Rückgang in %, Anteil der Kategorien an der Entwicklung des Leistungsbilanzsaldos bis 2020 in Prozentpunkten.
Quelle: Deutsche Bank Research.
Fazit
Der wahrscheinliche Rückgang des deutschen Leistungsbilanzüberschusses vom Rekordwert von fast 9% auf 7% des BIP 2020 dürfte die globalen Ungleichgewichte reduzieren. Über die vergangenen drei Jahre wies Deutschland den weltweit höchsten Überschuss auf. Der Überschuss wird nicht nur aufgrund von binnenwirtschaftlichen Faktoren wie der alternden Bevölkerung, dem Immobilienboom und der Rekordzuwanderung zurückgehen, sondern auch durch die strukturell bedingte Verlangsamung des Welthandelswachstums.
Ein geringerer deutscher Überschuss dürfte auch den Überschuss der Eurozone insgesamt reduzieren. Ein Teil des Rückgangs wird jedoch durch eine Verbesserung der Leistungsbilanz von Deutschlands europäischen Nachbarländern ausgeglichen. Der Hauptrückgang dürfte aber gegenüber den traditionellen Nachfragern aus Asien, dem Nahen Osten und anderswo erfolgen. Hinzu kommt, dass trotz des geringeren Überschusses, aus dem ein geringeres Recyceln der Kapitalbilanz folgt, die Umschichtung des Kapitalbestands in Länder außerhalb der Eurozone relativ unabhängig von der Leistungsbilanz sein dürfte. Insgesamt gesehen dürfte sich damit die Grundbilanz Deutschlands und der Eurozone weiter verschlechtern und damit den Abwärtsdruck auf den Euro aufrechterhalten.
- 1 H. Peters: Gedämpftes Welthandelswachstum hält an, Ausblick Deutschland, Deutsche Bank Research, 2016.
- 2 Unser Leistungsbilanzmodell ist eine verbesserte Version des EBA-Modells des Internationaler Währungsfonds (IWF) und verwendet den IWF-Datensatz, der 49 Länder mit einem Gewicht von 90% des globalen BIP zwischen 1986 und 2015 umfasst. Die Hauptvariablen beachten finanzielle, zyklische und politikbezogene Entwicklungen. Wir haben in unserem Modell zusätzlich Bewertungen des Immobilienmarktes und Veränderungen bei der Ausprägung von globalen Wertschöpfungsketten seit den frühen 1990er Jahren berücksichtigt; vgl. für Details H. Peters, R. Winkler: Germany’s massive CA surplus set to decline, Current Issues Germany, Deutsche Bank Research, 26.8.2016.
- 3 Die Variablen, die wir für die Projektion verwenden, sind demografische Trends (steigender Altenquotient, beschleunigte Alterung, steigende öffentliche Gesundheitsausgaben, etwas geringere relative Produktivität), globaler Konjunkturzyklus (relatives Wachstumspotenzial, relative Outputlücke, Rohstoff-Terms-of-Trade-Unterschied), Immobilienmarkt (steigendes Preis-zu-Miet-Verhältnis, Kreditwachstum) und etwas geringere Nutzung von globalen Wertschöpfungsketten.
„The Taming of the Shrew“: (Wie) Soll die Wirtschaftspolitik die deutsche Leistungsbilanz beeinflussen?
Schon die Begrifflichkeit ist etwas kompliziert, und vielleicht sogar Teil des Problems: Während der englische „current account“ als simpler Bestandteil der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wahrgenommen wird, ist seine deutsche Übersetzung „Leistungsbilanz“ sehr viel stärker emotional belegt: Natürlich möchte man – auf individueller wie auf nationaler Ebene – viel leisten, und so scheint ein Leistungsbilanzüberschuss zwangsläufig erstrebenswerter als ein Leistungsbilanzdefizit. Entsprechend stolz sind weite Teile der deutschen Bevölkerung auf die Leistungsbilanzüberschüsse, die das Land seit der Jahrtausendwende erwirtschaftet – insbesondere, da diese Entwicklung oft mit dem Status eines „Exportweltmeisters“ verbunden ist.
Die internationalen Handelspartner und wichtige wirtschaftspolitische Institutionen beurteilen die Situation allerdings ganz anders: Für sie ist die deutsche Leistungsbilanz Symptom eines zunehmenden „makroökonomischen Ungleichgewichts“. Und die Faktoren, die hinter dieser Entwicklung stehen, unterliegen seit einigen Jahren einer „eingehenden Überprüfung“ durch die europäische Kommission. Der letzte Bericht der EU-Kommission im Rahmen dieser Überprüfung konstatiert in fast schon gereiztem Ton, dass Deutschland bei der Korrektur dieser Ungleichgewichte kaum Fortschritte gemacht habe.1 Auch der Internationale Währungsfonds betont, dass die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse wesentlich höher seien, als es bei „wünschenswerten politischen Weichenstellungen“2 der Fall wäre. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dagegen stellt sich in seinem Jahresgutachten von 2014 der Vermutung entgegen, dass die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse Symptom struktureller und wirtschaftspolitischer Fehlentwicklungen seien und folgert daraus, dass in dieser Angelegenheit „Aktionismus nicht angebracht“ sei.3
Leistungsbilanz: Fakten
Um besser einschätzen zu können, was von dieser Diskussion zu halten ist, und wie – wenn überhaupt! – die Wirtschaftspolitik versuchen sollte, auf die deutsche Leistungsbilanz einzuwirken, soll zunächst rekapituliert werden, welche Faktoren die Höhe der Leistungsbilanz bestimmen. In der Zahlungsbilanzstatistik ergibt sich der Leistungsbilanzsaldo als Summe der Nettoexporte von Waren und Dienstleistungen (NX), des Primäreinkommensüberschusses (PEÜ), der die ausländischen Lohn- und Vermögenseinkommen erfasst, und schließlich des Sekundäreinkommensüberschusses (SEÜ), in dem sich die Summe staatlicher und privater Transfers widerspiegelt.4
Abbildung 1 dokumentiert die Entwicklung der einzelnen Bestandteile der deutschen Leistungsbilanz in der jüngeren Vergangenheit. Die Abbildung zeigt, dass die deutsche Leistungsbilanz seit den 1970er Jahren durch die positiven Nettoexporte von Waren dominiert wurde, und dass dieser Position im betrachteten Zeitraum durchgehend negative Nettoexporte bei den Dienstleistungen gegenüberstanden. Dass die Sekundäreinkommensüberschüsse über den ganzen Zeitraum hinweg negativ waren, erstaunt nicht. Spektakulärer ist dagegen der deutliche Anstieg des Primäreinkommensüberschusses, der in der letzten Periode (2011 bis 2015) fast ein Drittel des deutschen Leistungsbilanzüberschusses ausmachte.
Abbildung 1
Bestandteile der deutschen Leistungsbilanz
Quelle: P. Harms: International Macroeconomics, 2. Aufl., Tübingen 2016, unter Verwendung von Daten der Deutsche Bundesbank und des IWF.
Während Abbildung 1 verschiedene Konstanten in der Struktur der deutschen Leistungsbilanz dokumentiert, zeigt sie auch die Beschleunigung der Entwicklung seit der Jahrtausendwende. Es liegt nahe, die seit dem Jahr 2000 anwachsenden Leistungsbilanzüberschüsse auf die Attraktivität deutscher Waren, die hohe Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, und vielleicht sogar auf die Zugehörigkeit zum Euroraum zurückzuführen. Allerdings bleibt dieser Ansatz die Erklärung schuldig, warum die hohen deutschen Exporte mit Exportüberschüssen verbunden sind. Es wäre ja durchaus möglich, dass der positiven Differenz zwischen deutschen Waren-Exporten und Waren-Importen Service-Importe in der gleichen Höhe gegenüberstehen, so dass der Saldo der Leistungsbilanz nicht unbedingt positiv sein müsste. Um diesen Einwand zu präzisieren, sei daran erinnert, dass das Bruttoinlandsprodukt (Y) sich von der Verwendungsseite in Konsum (C), Investitionen (I) und Nettoexporte (NX) zerlegen lässt (Y = C + I + NX). Kombiniert man diesen Befund mit der Definition des verfügbaren Bruttonationaleinkommens (YVBNE) als Summe von Bruttoinlandsprodukt, Primäreinkommensüberschuss und Sekundäreinkommensüberschuss (YVBNE = Y + PEÜ + SEÜ) sowie der Definition der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis (S) als Differenz zwischen verfügbarem Bruttonationaleinkommen und Konsum (S = YVBNE – C), so lässt sich durch Kombination dieser Gleichungen leicht zeigen, dass LB = YVBNE – C – I = S – I; d.h., der Leistungsbilanzsaldo bildet die Differenz zwischen gesamtwirtschaftlicher Ersparnis und inländischen Investitionen ab. Dieser Perspektivwechsel bei der Betrachtung der Leistungsbilanz ist von einiger Tragweite. Lenkt er doch den Blick von den Erfolgen der deutschen Exportwirtschaft auf die Spar- und Investitionsentscheidungen der deutschen Haushalte, Firmen, und des Staates, und interpretiert die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als Ergebnis einer Diskrepanz zwischen Einkommen und Konsum, verbunden mit der Entscheidung, nur einen Teil der daraus resultierenden Ersparnisse im Inland zu investieren.5
Ursachen der Leistungsbilanzüberschüsse
Wie Abbildung 2 zeigt, spiegeln die Leistungsbilanzüberschüsse der vergangenen Jahre tatsächlich zwei Tendenzen wider: Zum einen hat sich die deutsche Sparquote seit der Jahrtausendwende um ungefähr 5,5 Prozentpunkte erhöht. Gleichzeitig ist die deutsche Investitionsquote um etwa 4,5 Prozentpunkte gesunken. Diese Entwicklung hat die geringfügigen Leistungsbilanzdefizite der 1990er Jahre in die Überschüsse verwandelt, die derzeit diskutiert werden.
Abbildung 2
Sparquote, Investitionsquote und Leistungsbilanzsaldo in Deutschland
Quelle: IWF: World Economic Outlook data base.
Die Frage nach den Ursachen der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse muss also bei den Faktoren ansetzen, die in den vergangenen Jahren zur beobachteten Steigerung der deutschen Sparquote und zum Sinken der deutschen Investitionsquote geführt haben. Als mögliche Determinanten dieser Entwicklungen werden in der akademischen und außerakademischen Diskussion eine ganze Reihe von Variablen ins Spiel gebracht: Der demografische Wandel, der für die alternde Baby-Boom-Generation einen starken Anreiz schafft, private Ersparnisse zu bilden, der Rückgang der staatlichen Budgetdefizite, der die öffentliche Komponente der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis steigert, steuerliche Regelungen, die Unternehmen veranlassen, Gewinne nicht auszuschütten, und schließlich eine ungleiche Einkommensverteilung, die dazu führt, dass die geringe Ersparnis armer Haushalte durch die höhere Ersparnis reicher Haushalte dominiert wird. Was den Rückgang der Investitionen betrifft, so wird immer wieder auf die sinkenden Investitionen der öffentlichen Hand verwiesen. Außerdem wird ein wenig attraktives Investitionsklima als Ursache ins Feld geführt, sowie der Anreiz der Unternehmen, einen Teil ihrer Produktion ins Ausland zu verlagern. Last but not least, hat die zunehmende Integration der globalen Finanzmärkte in den vergangenen Jahrzehnten eine derartige Diskrepanz zwischen gesamtwirtschaftlicher Ersparnis und gesamtwirtschaftlichen Investitionen überhaupt erst möglich gemacht.
Um zu beurteilen, ob und in welchem Ausmaß sich die genannten Faktoren tatsächlich auf die deutschen Leistungsbilanzsalden der letzten Jahre ausgewirkt haben, können verschiedene Ansätze gewählt werden: Eine Möglichkeit ist, ein strukturelles Modell zu formulieren, das die Wechselwirkungen zwischen den potenziellen Einflussvariablen explizit berücksichtigt. Nachdem die Parameter des Modells geschätzt wurden, kann die relative Bedeutung dieser Variablen quantifiziert werden. Unter Verwendung eines solchen Ansatzes zeigen Kollmann et al.,6 dass die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse in der jüngeren Vergangenheit insbesondere durch einen „Ersparnis-Schock“ getrieben wurden, den die Autoren als Ergebnis des demografischen Wandels interpretieren. Als weitere Einflussfaktoren identifiziert die Studie eine exogene Steigerung der Nachfrage nach inländischen Gütern sowie eine Reihe positiver Angebotsschocks.
Einen alternativen Ansatz verfolgt der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinen External Balance Assessments (EBA), auf deren Grundlage er seit einigen Jahren beurteilt, ob Leistungsbilanzsalden und reale Wechselkurse der betrachteten Volkswirtschaften „angemessene“ Werte annehmen. Der erste Schritt zu einer solchen Einschätzung ist eine empirische Analyse, mit der bestimmt wird, welche exogenen Größen für eine größere Zahl von Ländern und über mehrere Perioden hinweg die Leistungsbilanz beeinflusst haben. Auch in der Analyse des IWF spielen demografische Variablen eine prominente Rolle, aber ebenso das staatliche Budgetdefizit und Variablen, die den Zugang zum internationalen Finanzmarkt widerspiegeln.7 In den neueren Ausgaben seines External Sector Reports kommt der IWF regelmäßig zu dem Schluss, dass der deutsche Leistungsbilanzsaldo wesentlich höher ist, als es das empirische Modell vorhersagt.8
Wirtschaftspolitische Eingriffe nötig?
Aber weist ein solcher Befund tatsächlich auf eine Fehlentwicklung hin, die einen wirtschaftspolitischen Eingriff rechtfertigen würde? Nicht notwendigerweise, denn wie gut das empirische Modell des IWF die beobachteten Daten erklärt, hängt entscheidend von der Qualität der Spezifikation ab. Werden wichtige Einflussfaktoren nicht berücksichtigt – etwa, weil sie schlicht „übersehen“ wurden, oder weil dafür keine Daten verfügbar waren – erhöht dies das unerklärte Residuum.9 Vor diesem Hintergrund ist es fragwürdig, die Diskrepanz zwischen beobachteten Daten und Modellvorhersagen als Symptom struktureller Verzerrungen zu interpretieren. Dass ein Teil der hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse nicht erklärt werden kann, bedeutet nicht notwendigerweise, dass diese Überschüsse zu hoch sind.
Eine solche normative Bewertung – und die damit verbundene Forderung an die Wirtschaftspolitik, korrigierend einzugreifen – lässt sich nur vertreten, wenn gezeigt wird, dass die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse nicht nur schwer erklärbar, sondern tatsächlich auf eine strukturelle Fehlentwicklung zurückzuführen sind. Der IWF unternimmt einen solchen Nachweis, indem er zwischen dem „current account gap“ und dem „policy gap“ unterscheidet. Letzterer bezeichnet den Unterschied zwischen dem durch das empirische Modell vorhergesagten Wert der Leistungsbilanz und dem Wert, den die Leistungsbilanz hätte, wenn die politisch bestimmten Variablen ein „angemessenes“ Niveau annehmen würden. In seinen External Sector Reports publiziert der IWF diese „angemessenen Werte“ – z.B. für den Budgetsaldo des Staates – liefert aber keine detaillierte Begründung für deren Wahl. Dies macht es fragwürdig, die daraus resultierenden „policy gaps“ als Richtschnur für wirtschaftspolitische Eingriffe zu verwenden.
Hinzu kommt aber noch ein anderes Problem: Es ist nicht nur schwierig, einzuschätzen, um wie viele Prozentpunkte der deutsche Leistungsbilanzsaldo von einem – aus welchen Gründen auch immer – akzeptablen Wert entfernt ist. Die Gestaltung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die geeignet sind, um die Leistungsbilanz näher zu diesem Zielwert zu bewegen, ist eine nicht minder große Herausforderung. Zum einen liegt dies an der Tatsache, dass Spar- und Investitionsentscheidungen von den Erwartungen der Firmen und Unternehmen über die Zukunft abhängen. Diese Erwartungen können nur bedingt durch konkrete Politikmaßnahmen beeinflusst werden. Hinzu kommt, dass die Auswirkungen bestimmter Weichenstellungen alles andere als eindeutig sind: So kann eine Erhöhung des staatlichen Budgetdefizits, mit der die gesamtwirtschaftliche Ersparnis reduziert werden soll, zu einer Steigerung der privaten Ersparnis führen, die den gewünschten Effekt zumindest teilweise konterkariert. Und Lohnsteigerungen können zwar einerseits einen höheren privaten Konsum (und damit eine geringere Ersparnis) mit sich bringen, andererseits aber auch die Unternehmen veranlassen, ihre Investitionen im Inland zu reduzieren. Der Effekt auf die Leistungsbilanz wäre damit ex ante alles andere als klar. Die Tatsache, dass es schwierig ist, das „moving target“ der deutschen Leistungsbilanz an einen vorgegebenen Zielwert heranzuführen, ist also ein mindestens ebenso großes Problem wie die unklare Fundierung eines solchen Zielwerts.
Motivation von Politikmaßnahmen
Bedeutet dies, dass sich die Wirtschaftspolitik aus allem heraushalten und dem Geschehen freien Lauf lassen soll? Angesichts der Krisen der vergangenen Jahre wäre eine solche Schlussfolgerung naiv. Es ist aber wichtig, die Motivation und die konkrete Ausgestaltung alternativer Politikmaßnahmen klar zu definieren, und deren potenzielle Folgen nüchtern einzuschätzen. Wären die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse Ergebnis einer Politik, die explizit auf eine Steigerung der Nettoexporte abzielt, so wäre es sinnvoll und wichtig, die entsprechenden Verzerrungen abzubauen. Eine solche merkantilistische Strategie ist in Deutschland aber beim besten Willen nicht erkennbar.
Fragwürdig ist auch die Forderung, die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse im Interesse der übrigen Welt – insbesondere des Eurogebiets – zu reduzieren.10 Denn zum einen sind Deutschlands Überschüsse gegenüber den anderen Euroländern in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen,11 zum anderen ist nicht klar, wie stark sich sinkende deutsche Leistungsbilanzsalden auf die Konjunktur dieser Volkswirtschaften auswirken würden.12
Was die Diskrepanz zwischen inländischer Ersparnis und inländischen Investitionen und den daraus resultierenden Aufbau von Auslandsforderungen betrifft, so hat die Erfahrung der letzten Jahre die Risiken illustriert, die mit dem Besitz ausländischer Vermögenswerte verbunden sind. Die angemessene Reaktion darauf ist eine Regulierung des Finanzmarkts, die sicherstellt, dass Wertpapierpreise diese Risiken widerspiegeln – dies aber im Interesse einer effizienten Allokation und nicht, um damit die deutsche Leistungsbilanz zu steuern.
Gewiss ist die Sichtweise vertretbar, dass sich einzelne Variablen, die die Leistungsbilanz mittelbar oder unmittelbar beeinflussen, in den letzten Jahren in die falsche Richtung entwickelt haben. So besteht beispielsweise Anlass zur Vermutung, dass eine ungünstige Verteilung der Finanzierungslasten zwischen den deutschen Gebietskörperschaften für den starken Rückgang der öffentlichen Investitionen verantwortlich ist, und dass dieser Rückgang mittelfristig die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft gefährden kann. Auch die Forderung der EU-Kommission und des IWF nach einer Deregulierung des Dienstleistungssektors lässt sich nachvollziehen. Aber die Probleme in diesen Bereichen sollten um ihrer selbst willen gelöst werden, nicht mit dem Ziel, die deutsche Leistungsbilanz zu zähmen.
- 1 Europäische Kommission: Country Report Germany 2016 – Including an In-Depth Review on the prevention and correction of macroeconomic imbalances, Brüssel 2016.
- 2 Internationaler Währungsfonds: Germany, IMF Country Report, Nr. 16/202, 2016, S. 7.
- 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Mehr Vertrauen in Marktprozesse, Jahresgutachten, Wiesbaden 2014, sechstes Kapitel.
- 4 Eine Einführung in die Begrifflichkeiten und Systematik der Zahlungsbilanzstatistik bietet das zweite Kapitel von P. Harms: International Macroeconomics, 2. Aufl., Tübingen 2016. Dort werden insbesondere die geänderten Regelungen berücksichtigt, die die sechste Revision des Balance of Payments and International Investment Position Manual – kurz, „BPM6“ – mit sich gebracht hat, und die von der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank seit Sommer 2014 umgesetzt werden; vgl. Internationaler Währungsfonds: Sixth Edition of the IMF’s Balance of Payments and International Investment Position Manual, 2009.
- 5 Dies bedeutet übrigens nicht, dass Preisvariablen wie Wechselkurse, Löhne etc. für die Leistungsbilanz irrelevant sind. Allerdings impliziert der „intertemporale Ansatz“, dass sich der reale Wechselkurs endogen aus dem Zusammenspiel von Spar-, Investitions- und Anlageentscheidungen ergibt; vgl. z.B. S. Phillips et al.: The External Balance Assessment (EBA) Methodology, IMF Working Paper, Nr. 13/272, 2013.
- 6 R. Kollmann, M. Ratto, W. Roeger, J. in’t Veld, L. Vogel: What drives the German current account? And how does it affect other EU member states?, in: Economic Policy, Nr. 30, 2015, S. 47-84.
- 7 S. Phillips et al., a.a.O., stellen die konzeptionellen Grundlagen und die praktische Umsetzung des External Balance Assessment im Detail vor.
- 8 Vgl. z.B. Internationaler Währungsfonds: 2015 EBA – Individual Country Estimates, 2015.
- 9 Dieses Argument wird beispielsweise durch die Untersuchung von Sastre und Viani unterstützt, die das Modell des IWF um einige weitere Einflussvariablen ergänzt und dadurch (wenig überraschend) andere Ergebnisse bezüglich der geschätzten „current account gaps“ erzielt haben; vgl. T. Sastre, F. Viani: Countries’ safety and competitiveness, and the estimation of current account misalignments, Banco de España Working Papers, Nr. 1401, 2014.
- 10 O. Blanchard, G. M. Milesi-Ferretti: (Why) Should Current Account Balances Be Reduced?, IMF Staff Discussion Note, 2011.
- 11 Europäische Kommission, a.a.O.
- 12 R. Kollmann, M. Ratto, W. Roeger, J. in’t Veld, L. Vogel, a.a.O.
Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse: hohe Wettbewerbsfähigkeit oder zu schwache Nachfrage?
Schon lange wird Deutschland für seine hohen Leistungsbilanzüberschüsse kritisiert. Laut EU-Regeln im Rahmen der Überprüfung gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte (Macroeconomic Imbalance Procedure – MIP) gibt es eigentlich eine Obergrenze für Überschüsse von 6% des BIP, die im Durchschnitt der jeweils vergangenen drei Jahre nicht überschritten werden darf. Deutschlands Überschüsse liegen aber regelmäßig darüber. Im Jahr 2015 betrug der Wert sogar 8,7% des BIP.
Ein Land kann nur dann Überschüsse realisieren, wenn der Rest der Welt die entsprechenden Defizite hat. Bis zur Eurokrise absorbierten vor allem spätere Krisenländer wie Griechenland oder Spanien durch ihre Defizite die deutschen Überschüsse. Zum Abbau ihrer hohen Auslandsschulden verzeichnen die Krisenländer jetzt aber selbst einen positiven Wert, so dass der Euroraum insgesamt nach einem lange Zeit ausgeglichenen Leistungsbilanzsaldo mittlerweile Überschüsse gegenüber dem Rest der Welt aufweist. Das ist der Grund dafür, dass die internationale Gemeinschaft – vor allem die USA, die hohe Defizite hat – von Deutschland einen Überschussabbau fordert. Wie sind die deutschen Überschüsse entstanden? Und wie können sie abgebaut werden?
Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss
In der Leistungsbilanz werden die Einnahmen und Ausgaben einer Volkswirtschaft verbucht. Außer den Exporten und Importen gehören auch Arbeits- und Kapitaleinkommen sowie Transfereinkommen zu diesen Einnahmen und Ausgaben. Abbildung 1 zeigt den deutschen Leistungsbilanzsaldo, unterteilt nach den Salden seiner Unterbilanzen. Etwa ein Drittel bis ein Viertel des gesamten deutschen Leistungsbilanzüberschusses ist auf die Nettoprimäreinkommen aus dem Ausland zurückzuführen. Das entspricht den Nettozins- und Dividendeneinkommen, also den Erlösen aus dem hohen deutschen Nettoauslandsvermögen, das sich aus den hohen Leistungsbilanzüberschüssen der Vergangenheit ergibt.1 Im Jahr 2011 (dafür liegen die letzten international vergleichbaren Daten vor) hatte Deutschland in US-Dollar gerechnet hinter Japan und China das höchste Nettoauslandsvermögen der Welt.2
Abbildung 1
Leistungsbilanzüberschüsse nach Unterbilanzen
Quelle: AMECO.
Kompensiert wird der hohe Überschuss der Kapitaleinkommen durch das Defizit bei den internationalen Transfers, worunter etwa die Entwicklungshilfe oder Transfers an die Europäische Union zählen. Die Salden der Transferbilanz und der Kapitaleinkommensbilanz summieren sich auf etwa 2% des BIP. Wäre die Handelsbilanz ausgeglichen, so läge der deutsche Überschuss bei diesem Wert. Da sowohl Transfers als auch Kapitaleinkommen relativ fixiert sind, wäre die beste Möglichkeit zum Abbau des Leistungsbilanzüberschusses also ein Ausgleich der Handelsbilanz.
Wie kam es zu den Handelsbilanzüberschüssen?
In letzter Zeit findet eine angeregte Debatte über die Bestimmungsgründe des deutschen Handelsbilanzüberschusses statt, in der einige Vertreter besonders die Bedeutung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit betonen, während andere die Bedeutung der relativen heimischen und internationalen Nachfrageentwicklung in den Vordergrund rücken.3 Dabei geht es um die Frage, ob die Lohn- und Preisentwicklung eine wesentliche Ursache für Ungleichgewichte im Außenhandel ist oder ob eher unterschiedliche wirtschaftlichen Dynamiken hinter den Außenhandelsungleichgewichten stehen. Die Lohn- und Preisentwicklung wäre dann eher eine Folge und keine Ursache dieser Dynamiken.
Wie genau eine Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit auf die Handelsbilanz wirkt, ist durchaus ambivalent. In der Regel ist anzunehmen, dass ein relativ zum Ausland sinkendes inländisches Preisniveau zu einem höheren Exportvolumen führt. Die Effekte auf die Leistungsbilanz sind aber unterschiedlich, je nachdem, wie stark die Reaktion der Volumina auf die Preisveränderung ist. Denn in der Leistungsbilanz wird der Wert der Exporte verbucht, also das Produkt von Preis und Menge. Dieser Wert kann sich durch eine höhere preisliche Wettbewerbsfähigkeit nur dann erhöhen, wenn die exportierte Menge bei einer Preissenkung stärker zunimmt als die Preise fallen, d.h., die Preiselastizität der Exporte müsste größer als eins sein.
Ist die Elastizität aber geringer als eins, wird der Wert der Exporte bei einer Preissenkung eher sinken als steigen – was ceteris paribus eher zu sinkenden als zu steigenden Leistungsbilanzüberschüssen führt. Storm und Naastepad haben verschiedene empirische Studien zusammengetragen, die unisono Preiselastizitäten der deutschen Exporte von deutlich unter eins zeigen.4 Auch langfristig scheinen die Elastizitäten eher unter eins zu liegen.5 Insofern scheint die Erklärung einer hohen preislichen Wettbewerbsfähigkeit als dominierende Ursache für die Handelsbilanzüberschüsse ex ante eher zweifelhaft.
Neben der preislichen Wettbewerbsfähigkeit spielt die Inlandsnachfrage eines Landes relativ zur Entwicklung der Weltnachfrage eine wichtige Rolle für den Saldo der Handelsbilanz: Stagniert etwa die Binnenwirtschaft eines Landes bei gleichzeitig stark expandierender Weltwirtschaft, werden die Importe nur schwach zunehmen, die Exporte aber sehr viel stärker, was zur Aktivierung der Handelsbilanz führt.
Die unterschiedlichen Wachstumsraten können wiederum Effekte auf die Preise haben: In Wirtschaften mit dynamischer Binnenwirtschaft wird das Preis- und Lohnniveau im Vergleich zum Ausland eher zunehmen; in Wirtschaften mit stagnierender Binnenwirtschaft wird es eher stagnieren oder sogar abnehmen. Diese Dynamik wird über divergierende Realzinsen verstärkt: Bei gleichen Nominalzinsen führt eine höhere Inflation zu geringeren Realzinsen und facht die Binnenwirtschaft weiter an; geringere Inflation erhöht die Realzinsen relativ und führt zu einer relativen Abschwächung der Binnenwirtschaft. In dieser Betrachtungsweise ist die Preis- und Lohnentwicklung eher ein Ergebnis der unterschiedlichen wirtschaftlichen Dynamiken und nicht ihre Ursache.
Die Abwägung über die Dominanz des Wettbewerbs- und des Nachfragekanals zur Entstehung von Handelsbilanzungleichgewichten hat wichtige wirtschaftspolitische Implikationen: Wäre die preisliche Wettbewerbsfähigkeit dominant, müssten zur Reduzierung der deutschen Überschüsse vor allem die heimischen Preise stark steigen. Die Folge wäre eine Verringerung der Exporte und Absatzrückgänge der Exportunternehmen. Wäre eher die relative Nachfrage zentral, so würde ein Anstieg des internen Preisniveaus die Exporte nicht so stark senken, dafür aber die Importe anregen.
Schwache Importe, nicht starke Exporte, haben Deutschlands Handelsbilanzsaldo getrieben
Im Folgenden wird die Entwicklung der nominalen Exporte und Importe Deutschlands im Vergleich mit den elf Gründungsmitgliedern des Euroraums plus Griechenland analysiert. Dabei werden zwei Zeiträume unterschieden, und zwar erstens der Zeitraum von der Einführung des Euro 1999 bis zum letzten Vorkrisenjahr 2007 und zweitens die Zeit seit Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008 bis zum Jahr 2015 (dem letzten Jahr, für das die endgültigen Daten vorliegen). Betrachtet man den ersten Zeitraum (vgl. Abbildung 2), so sieht man, dass Deutschlands Exportwachstum trotz einer durchschnittlichen Jahreswachstumsrate von 12% pro Jahr nicht an der Spitze lag. Nach Luxemburg waren es Griechenland und Irland – zwei der späteren europäischen Krisenländer –, die kräftigere Exportzuwächse verzeichnet haben.
Abbildung 2
Durchschnittliches Wachstum der nominalen Exporte und Importe, 1999 bis 2007
Quelle: AMECO; eigene Berechnungen.
Der eigentliche Unterschied zwischen den Ländern kommt bei den Importen zum Tragen: Deutschland gehört zu den Ländern mit dem schwächsten Importwachstum der betrachteten Länder. Bei Griechenland und Irland sieht man, dass ihr Problem weniger der Export war, der ja stark zugenommen hat, sondern der stark ansteigende Import. Das weist darauf hin, dass zumindest bis zum Ausbruch der Krise Deutschlands steigende Handelsbilanzüberschüsse durch besonders schwache Importe und weniger durch besonders starke Exporte getrieben waren. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.6
Welche Rolle spielen jetzt die relative Nachfrage und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit? In Abbildung 3 wird der Zusammenhang zwischen Lohnstückkosten, der Entwicklung der inländischen Nachfrage (privater Konsum, private Investitionen sowie Staatsausgaben), den Exporten und den Importen untersucht. Deutschland ist dabei als graue Raute gekennzeichnet.
Abbildung 3
Bestimmungsgründe für Exporte und Importe, 1999 bis 2007
Quelle: AMECO; eigene Berechnungen.
Dabei zeigt sich – ganz entgegen der Wettbewerbsfähigkeitsthese – ein positiver Zusammenhang zwischen Exportwachstum und Lohnstückkosten. Das dürfte damit zusammenhängen, dass die Preiselastizitäten der Exporte geringer als eins sind: Preisänderungen führen nur zu einer unterproportionalen Veränderung der Exportvolumen, so dass steigende Preise den Wert der Exporte erhöhen.
Wie wichtig die Nachfragedifferenzen in der Zeit von 1999 bis 2007 waren, zeigt Abbildung 3c: Je höher die interne Nachfrage eines Landes, desto höher sind tendenziell seine Importe. Auch zwischen Lohnstückkosten und Importen gibt es einen positiven Zusammenhang (vgl. Abbildung 3b). Das könnte darauf hinweisen, dass die Lohnstückkosten hier vor allem ein Indiz für die unterschiedlich wachsenden Nachfragen sind: In Ländern mit einer kräftigeren Binnenkonjunktur haben die Löhne und damit die Kaufkraft stärker als die Produktivität zugenommen, was die Binnenkonjunktur und damit die Importe wiederum weiter angefeuert hat.7
Wie haben sich Importe und Exporte seit der weltweiten Finanzkrise und der Eurokrise entwickelt? Insgesamt erkennt man eine sehr viel geringere Exportdynamik in allen Ländern. Im Durchschnitt nahmen die Exporte aller Länder von 1999 bis 2007 um 10% jährlich zu; in der Krisenphase waren es nur noch 3% (vgl. Abbildung 4). Auch seither waren die deutschen Exporte nicht die dynamischsten. Wieder haben zwei Krisenländer – Portugal und Irland – einen stärkeren Exportzuwachs verzeichnet.
Abbildung 4
Durchschnittliches Wachstum der nominalen Exporte und Importe, 2008 bis 2015
Quelle: AMECO; eigene Berechnungen.
Zwar importiert Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern nach der Krise deutlich mehr. Die Importe sind aber nur deswegen vergleichsweise hoch, weil die Importe aller anderen Länder durch die schwache und vielfach schrumpfende Binnennachfrage insbesondere in den Krisenländern sich teilweise sogar negativ entwickelt haben (vgl. Abbildung 4). Das liegt wesentlich an der Eurokrise, dem privaten Schuldenabbau und der Austeritätspolitik.
Abbildung 5a weist darauf hin, dass in der Krise und entgegen der Entwicklung vor der Krise der Zusammenhang zwischen Exporten und Lohnstückkosten plötzlich negativ wird. Allerdings ist dies nur auf den Sonderfall Irland zurückzuführen, dessen Lohnstückkosten in der Krise stark gefallen sind und dessen Exporte weiterhin – wie schon vor der Krise – stark zugenommen haben. Ohne Irland wäre der Zusammenhang positiv. Das gleiche gilt für den Zusammenhang zwischen Importen und Lohnstückkosten in Abbildung 5b.
Abbildung 5
Bestimmungsgründe für Exporte und Importe, 2008 bis 2015
Quelle: AMECO; eigene Berechnungen.
Stärkere Binnendynamik bringt mehr Importe
Wie könnten Deutschlands Leistungsbilanzüberschüsse abgebaut werden? Wenn die vorhergehenden Überlegungen zutreffen, wäre dafür eine zunehmende Binnennachfrage zentral. Dabei spielen besonders die Ausrüstungsinvestitionen eine wichtige Rolle. Sie enthalten – nach dem Export (Durchfuhr) – mit 36% den höchsten Anteil an Importen (vgl. Abbildung 6). Der Konsum hat einen Importanteil von etwa 20%, der Bau – der auch das Gros der staatlichen Investitionen ausmacht – aber nur von 11%. Dass die Importe trotz einer für deutsche Verhältnisse mittlerweile recht kräftigen Binnenkonjunktur bisher nicht stärker angezogen haben, hat wohl wesentlich mit der ungewöhnlichen Schwäche der Ausrüstungsinvestitionen zu tun. Diese ist so ungewöhnlich, weil die Finanzierungsbedingungen gerade sehr attraktiv sind: Die Zinsen sind so gering wie noch nie, und die Selbstfinanzierungsmöglichkeiten der Unternehmen sind durch die einbehaltenen Gewinne und große Geldreserven sehr hoch. Einschränkend dürften vor allem zwei Faktoren sein: Die Kapazitätsauslastung sowie die Unsicherheit.
Quelle: Destatis; eigene Berechnungen.
Abbildung 6
Importanteil der Verwendungskomponenten des BIP für das Jahr 2012
Trotz der steigenden Binnennachfrage hat der Auslastungsgrad der schon bestehenden Ausrüstungen gerade das erste Mal seit 2012 die Expansionsschwelle von 85% erreicht.8 Das ist der Durchschnittswert, bei dem die Ausrüstungsinvestitionen im Verarbeitenden Gewerbe seit 1991 expandiert sind. Insofern könnte eine weiter zunehmende inländische Nachfrage zu einer Steigerung der Kapazitätsauslastung und damit zu weiteren Investitionen und Importen führen.
Die hohe Unsicherheit über die Zukunft des Euroraums und mittlerweile seit dem Brexit wohl auch über die Europäische Union dürften dazu geführt haben, dass von den Investitionen nicht wie sonst ein autonomer Impuls an die Binnenwirtschaft ausgegangen ist, sondern die Investitionen erst auf die anderen Nachfragekomponenten reagieren. Hier könnte der Staat stützend eingreifen: Höhere staatliche Investitionen würden zwar selbst kaum zu höheren Importen führen, weil ihr Importanteil zu gering ist. Solche Investitionen haben aber hohe Multiplikatorwirkungen, so dass sie die Binnenwirtschaft insgesamt stützen, die Kapazitätsnutzung steigern und die Ausrüstungsinvestitionen und Importe anregen würden. Damit könnte Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung des Euroraums und der Weltwirtschaft leisten.
- 1 Vgl. E. Klär, F. Lindner, K. Šehović: Investitionen in die Zukunft? Zur Entwicklung des deutschen Auslandsvermögens, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 3, S. 189-197, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2013/3/investition-in-die-zukunft-zur-entwicklung-des-deutschen-auslandsvermoegens/.
- 2 Vgl. P. R. Lane, G. M. Milesi-Ferretti: The external wealth of nations mark II: revised and extended estimates of foreign assets and liabilities, 1970-2004, in: Journal of International Economics, 73. Jg. (2007), H. 2. Die Daten werden regelmäßig von den Autoren aktualisiert.
- 3 So betonen etwa H. Flassbeck und C. Lapavitsas die Rolle der preislichen Wettbewerbsfähigkeit (vgl. H. Flassbeck, C. Lapavitsas: Wage Moderation and Productivity in Europe, 28.1.2016, https://www.ineteconomics.org/perspectives/blog/wage-moderation-and-productivity-in-europe), während S. Storm und C. W. M. Naastepad (vgl. S. Storm, C. W. M. Naastepad: Crisis and Recovery in the German Economy: The Real Lessons, Institute of New Economic Thinking Working Group on the Political Economy of Distribution Working Paper, Nr. 2, 2014) die Bedeutung der Nachfrage betonen.
- 4 S. Storm, C. W. M. Naastepad, a.a.O.
- 5 Vgl. G. A. Horn, S. Stephan: Deutschland – ein Welthandelsgewinner, IMK Report, Nr. 4, 2005.
- 6 Zu diesem Ergebnis kommt auch die Europäische Kommission, vgl. Europäische Kommission: Surveillance of Intra-Euro-Area Competitiveness and Imbalances, in: European Economy, 1/2010, S. 8-11; sowie G. Feigl, S. Zuckerstätter: Wettbewerbs(des)orientierung, in: Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, Nr. 117, 2012, und die Arbeitsgruppe zur ökonometrischen Modellierung des europäischen Zentralbankensystems: Competitiveness and external imbalances within the euro area, in: ECB occasional paper series, Nr. 139, S. 25.
- 7 Konsistent damit ist, dass H. Gabrisch und K. Staehr ökonometrisch zeigen, dass die Entwicklung der Leistungsbilanzsalden der Entwicklung der Lohnstückkosten vorausgeht und nicht umgekehrt (The Euro Plus Pact. Cost Competitiveness and External Capital Flows in the EU Countries, ECB Working Paper Series, Nr. 1650, 2014).
- 8 Der Auslastungsgrad wird von der EU-Kommission bei Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes erfragt.