Das Bundesverfassungsgericht ist derzeit mit der Zulässigkeit von Spartengewerkschaften befasst. Dabei ist es wichtig, neben den dort behandelten juristischen Argumenten auch die ökonomische Sinnhaftigkeit von Spartengewerkschaften zu analysieren. Dazu untersucht Horst Zimmermann die Anreizstruktur der Spartengewerkschaften. Das Ergebnis deutet auf starke und zunehmende Missbrauchsmöglichkeiten hin und führt zu der Folgerung, dass Spartengewerkschaften generell zu unterbinden sind.
Einige kleine Gewerkschaften haben vor dem Bundesverfassungsgericht beantragt, sie trotz des seit Mitte 2015 gültigen Tarifeinheitsgesetzes zuzulassen. Das Gericht hatte angekündigt, in der Hauptsache Ende 2016 entscheiden zu wollen. Ob die Zeit dafür noch reicht, wurde jedoch bezweifelt.1 Dieser Beitrag ist als der dritte in einer Abfolge von Beiträgen im Wirtschaftsdienst zu diesem Gegenstand zu sehen. Er bezieht sich, ebenso wie die vorangegangenen, nicht ausschließlich auf die konkreten Vorlagen beim Bundesverfassungsgericht. Vielmehr ist es erforderlich, sich grundsätzlich mit der ökonomischen Sinnhaftigkeit von Spartengewerkschaften (Berufsgewerkschaften) zu befassen; mit den juristischen Aspekten ist das Gericht ohnehin beschäftigt.
Argumentation aus vorangegangenen Beiträgen
Anfang 2016 hatte der Wirtschaftsdienst eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur veröffentlicht. Der Beirat wendet sich kritisch gegen alle Spartengewerkschaften, weil sie in „Engpassbereichen“ tätig sind und dort „monopolistische Bottlenecks“2 ausnutzen. Ohne „die überraschende Aufhebung des Prinzips der Tarifeinheit durch das Bundesarbeitsgericht … [wären] die Spartengewerkschaften tarifrechtlich in der Bedeutungslosigkeit verblieben“3. Die aufgeführten Spartengewerkschaften und ihre aufgelisteten Streiks entstammen ausschließlich diesem Bereich und lassen beispielsweise den Marburger Bund als Vertretung der Krankenhausärzte und den Deutschen Journalistenverband sowie alle weiteren möglichen Spartengewerkschaften aus der Betrachtung heraus. Im Ergebnis sieht der Beirat Verkehr zwar erheblichen Handlungsbedarf, argumentiert aber ausschließlich für den Verkehrsbereich. Für diesen Bereich hält er die gesetzliche Wiedereinführung der Tarifeinheit „für ungeeignet, um der in dieser Stellungnahme diskutierten Problematik wirksam zu begegnen (was nicht ausschließt, dass die Reform aus anderen Gründen des Arbeits- und Tarifrechts sinnvoll sein mag)“4. Vielmehr gibt er lediglich spezielle Empfehlungen für den Verkehrsbereich ab.
Der zweite Beitrag im Wirtschaftsdienst knüpft an die Stellungnahme des Beirats Verkehr an.5 In Abweichung von diesem plädiert er aber dafür, das Streikrecht gesetzlich zu regeln. Er konzentriert sich dabei auf sogenannte „geschützte“ Bereiche wie die Deutsche Bahn oder Krankenhäuser, und der Verfasser hat dieses Plädoyer vollinhaltlich mitgetragen. Als „geschützt“ werden dort „vornehmlich der öffentliche Dienst, Körperschaften, die staatliche Bestandsgarantien genießen, Unternehmen, bei denen eine Verlustübernahme durch die öffentliche Hand nicht ausgeschlossen ist, und Unternehmen, die einer Preisregulierung unterworfen sind“6, bezeichnet.
Ihnen stehen ungeschützte Bereiche gegenüber, in denen Unternehmen ohne Rückhalt bei Staat und Steuerzahler im Wettbewerb stehen. Zu ihnen werden dort „der Flugverkehr und damit auch der … Fall der Lufthansa [gezählt]. Die Lufthansa ist seit 1997 ein vollständig privatisiertes Unternehmen. In dem hart umkämpften Flugverkehrsmarkt wird die Fluggesellschaft mit überhöhten Kostenstrukturen langfristig geringe Chancen haben. Und mit Streiks, deren Ziele und Durchführung der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln sind, läuft die Belegschaft Gefahr, die Reputation des Unternehmens dauerhaft zu beschädigen. Eine gesetzliche Regelung des Streikrechts ist hier also eher verzichtbar als bei der Bahn.“7 Aus dieser Sicht würden sich Spartengewerkschaften in Wettbewerbsbereichen nicht dauerhaft etablieren können.
Wie das Stichwort „eher verzichtbar“ schon andeutet, blieb bei der Argumentation im zweiten Beitrag aber erklärtermaßen offen, ob auch darüber hinaus Regelungsbedarf besteht. In der letzten Fußnote wird dazu mit Blick auf die „ungeschützten“ Bereiche ausgeführt: „Für eine Regelung ist allerdings anzuführen, dass fortgesetzte Streiks kleiner Spartengewerkschaften ein Unternehmen erheblich schwächen können. Und bis zur Einsicht, dass man sich als kleine Gruppe an der langfristigen Lage des Gesamtunternehmens orientieren sollte, kann der Weg sehr weit sein.“8
Diesem Hinweis folgend wird nun gefragt, ob die Tätigkeit von Spartengewerkschaften auch in „ungeschützten“, also wettbewerblich organisierten Bereichen eingeschränkt werden sollte. Dieser Bereich ist dadurch gekennzeichnet, dass die Unternehmen eben ohne Hoffnung auf staatliches Auffangen im Wettbewerb stehen. Im vorangegangenen Beitrag wurde hierfür die Lufthansa als Beispiel angeführt. Schon hier zeigt sich, was ein Verzicht auf gesetzgeberisches Handeln bedeuten würde: Streiks der Piloten und des Kabinenpersonals wären auch weiterhin hinzunehmen. Aber die folgende Argumentation geht über den Fall des Luftverkehrs hinaus. Sie betrifft letztlich die gesamte Industrie und den nicht-öffentlichen Teil des Dienstleistungssektors, wie die Erfahrung in Großbritannien zeigt. Die zentrale Frage ist, ob Spartengewerkschaften in diesen Bereichen durch den bestehenden Wettbewerb ausreichend eingeschränkt werden. Dazu wird zunächst geprüft, ob die Anreizstruktur in den Spartengewerkschaften für oder gegen ein dauerhaftes Störpotenzial spricht.
Anreizstruktur in Spartengewerkschaften
Es ist auffällig, dass Spartengewerkschaften vorwiegend in bestimmten Konstellationen eines Unternehmens auftreten. Es handelt sich zum einen um große Unternehmen und selten um familiengeführte. Zum anderen sind es Unternehmen, in denen eine kleine Gruppe eine starke Schlüsselstellung, mittels derer sie den Betrieb lahmlegen kann, innehat. Das bekannteste Beispiel sind die Piloten der Lufthansa, aber die Lokführer sind in Deutschland ebenfalls ein Beispiel. Die Größe des Unternehmens ist wichtig, weil die Kosten eines Spartenstreiks unter den Gesamtkosten einen vergleichsweise geringen Anteil ausmachen, das Unternehmen selbst also nicht in Gefahr bringen und die Lohnhöhe der Gesamtbelegschaft nicht sichtbar gefährden. Andersherum: wenn die Lkw-Fahrer einer Spedition streiken (nicht alle Lkw-Fahrer des Landes), so gefährden sie das Unternehmen und damit ihre eigenen Arbeitsplätze. Die Schlüsselstellung des Tätigkeitsbereichs der Spartengewerkschaften, oder in der Formulierung des Beirats Verkehr die „Engpassbereiche“ als „monopolistische Bottlenecks“, bieten den Hebel für die Wirksamkeit eines Streiks. In Abwandlung eines bekannten Spruchs aus der Gewerkschaftsgeschichte könnte man sagen: „Alle Räder stehen still, wenn ein einzelner Arm es will.“ Solche Hebelwirkungen haben Piloten und Kabinenpersonal, aber im Prinzip auch die Werksfeuerwehr oder die Elektriker eines Werkes. Das Ausmaß der Hebelwirkung lässt sich am entgangenen Gewinn messen.
Dies ist die statische Sicht der Anreizstruktur. In dynamischer Sicht treten Lerneffekte dazu. Sie sind zunächst innerbetrieblich angelegt: Was die Piloten können, das können wir vom Kabinenpersonal ebenso gut. Und über die Lufthansa hinaus haben auch das Bodenpersonal in Frankfurt und die Fluggastkontrolle ihre Lektion gelernt.9 Viel wichtiger sind die längerfristigen branchenübergreifenden Lerneffekte. Der Beirat Verkehr rechnet damit, dass „die Häufigkeit von Arbeitskämpfen aufgrund der letztlich positiven Erfahrungen der Streikenden in Bezug auf die erzielten Abschlüsse zunehmen wird“10. In der Zeit vor den Reformen unter Margaret Thatcher hatte sich in Großbritannien – abgesehen vom bekannten großen Bergarbeiterstreik – die Gewohnheit wilder Streiks in verschiedenen großen Betrieben herausgebildet.11 Sie knüpften an Schlüsselstellungen an und beinhalteten die Vorstellung, dass die Elektriker ein Automobilwerk stilllegen konnten. Wilde Streiks dieser Art entsprechen dem Vorgehen von Spartengewerkschaften, nur in weniger organisierter Form.
Die große Gefahr in Deutschland liegt darin, dass die sichtbaren Erfolge der bestehenden Spartengewerkschaften zu weiteren Gründungen führen. Daher sei hier zum Abschluss der Betrachtungen zur Anreizstruktur gefragt, wie stabil diese Muster sind. Die aufgezeigten Elemente sind eigentlich alle dauerhafter Natur. Große Unternehmen gibt es weiterhin. Hierbei ist wichtig, ob die familiengeführten unter ihnen von dauerhafter Natur sind. Ihre starke Rolle ist spezifisch für Deutschland, und es hat den Anschein, als ob Spartengewerkschaften hier weniger leicht Fuß fassen, vielleicht weil das Zusammengehörigkeitsgefühl und die soziale Kontrolle das Erkämpfen von Sondervorteilen innerhalb der Belegschaft erschweren. Auch das zweite Element, die Existenz von Schlüsselfunktionen, ist dauerhafter Art. Es könnte sich im Zuge von Industrie 4.0 sogar verstärken, weil die zunehmende Vernetzung mehr Druckpotenzial bietet.
Schädlich für Effizienz und Verteilung
Wenn gefolgert werden kann, dass Spartengewerkschaften nicht durch Wettbewerb absterben, sondern die Anreize zu Spartenstreiks steigen, ist es erforderlich, sich grundsätzliche Gedanken zu Spartengewerkschaften zu machen. Als Referenzsituation sei der Fall herangezogen, dass die erwähnten monetären Verluste des Unternehmens und die volkswirtschaftlichen Schäden durch den Stillstand dadurch entstanden sind, dass das gesamte gewerkschaftlich organisierte Personal, gleich, in welcher Gewerkschaft es organisiert ist, den Streik gemeinsam in einer Urabstimmung beschlossen hat. In diesem Gegenstück zum Streik einer Spartengewerkschaft kann dann zwar immer noch ein – gegebenenfalls richterliches – Abwägen zwischen dem Streikrecht und möglicherweise ausgelösten volkswirtschaftlichen Schäden angezeigt sein. Dort stehen diesen Schäden dann immerhin die gesammelten Ansprüche der Beschäftigten gegenüber.
Doch genau dieser Fall liegt bei Spartengewerkschaften, die nach Berufsgruppen statt nach Unternehmen gegliedert sind, nicht vor.12 Vielmehr würden die Piloten, wie auch die Lokführer oder Krankenhausärzte, ihre Schlüsselstellung als Hebel ausnutzen, um sich einen besonderen Vorteil zu verschaffen. Ökonomisch gesprochen, handelt es sich hier um Rent Seeking, also um das Verschaffen eines Vorteils ohne entsprechende Gegenleistung. Rent Seeking aber ist volkswirtschaftlich schädlich, und somit sind auch Spartengewerkschaften tendenziell volkswirtschaftlich schädlich. Sie können ihre Schlüsselstellung bis hin zur Erpressung der Volkswirtschaft missbrauchen. Solche Mechanismen der Geiselhaft und des Hold-up sind offenbar ein Missbrauch des Streikrechts. Nun könnte man argumentieren, dass man ja viele solche Fachgewerkschaften zulassen könnte, damit diese sich dann durch Wettbewerb gegenseitig in Schach halten. Aber hier ist die neuere Geschichte Großbritanniens ein warnendes Beispiel.
Neben der Effizienzbetrachtung, die auf den richtigen Einsatz der Produktivkräfte abzielt, ist ein zweites Ziel heranzuziehen, unter dem Aktivitäten wie der Pilotenstreik diskutiert werden sollten: das Verteilungsziel. Zwar lässt sich, anders als beim Effizienzziel, ökonomisch keine wünschenswerte Verteilung definieren. Aber es kann auf Besonderheiten bei der Verfolgung dieses Ziels hingewiesen werden. Und beim Streik einer Spartengewerkschaft gibt es eine pikante Besonderheit: Die Piloten können ihre überdurchschnittlichen Forderungen nur auf Kosten ihrer Kollegen durchsetzen. Andernfalls müssten sie von der unrealistischen Annahme ausgehen, dass beispielsweise die Flugpreise, nachdem alle anderen Mitarbeitergruppen erwartungsgemäß zumindest teilweise nachgezogen haben, beliebig angehoben werden können. Ein Durchsetzen einer Spartengewerkschaft bedeutet mithin die Möglichkeit, sich auf dem Rücken der eigenen Kollegen einen Vorteil zu verschaffen, und das ist unsolidarisch.
Wenn sich eine Gruppe wie die Piloten im Vergleich zu ihren Kollegen schlecht behandelt fühlt, ist dies innerhalb der größeren Gewerkschaft zu klären, denn nur dort werden die Interessen aller Beschäftigten gegeneinander abgewogen. Wenn also schon Widerstand, dann sollte er innergewerkschaftlich und nicht auf Kosten der eigenen Kollegen und der Allgemeinheit ausgetragen werden. Insofern spricht auch unter dem Verteilungsziel alles dafür, die Tarifeinheit wiederherzustellen, die vor dem höchstrichterlichen Urteil über Jahrzehnte bestand und zum „Wohlstand durch Verlässlichkeit“ in Deutschland erheblich beigetragen hat.
- 1 O.V.: Kleingewerkschaften scheitern – Klagen gegen das Tarifeinheitsgesetz abgewiesen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.7.2016, S. 18.
- 2 Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur (im Folgenden Beirat Verkehr): Streiks und die Zuverlässigkeit der Verkehrsbedienung, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 2, S. 117, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2016/2/streiks-und-die-zuverlaessigkeit-der-verkehrsbedienung/.
- 3 Ebenda.
- 4 Ebenda, S. 120.
- 5 T. Büttner, W. F. Richter, H. Zimmermann: Plädoyer für eine gesetzliche Regelung des Streikrechts, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 6, S. 440-443.
- 6 Ebenda, S. 442.
- 7 Ebenda, S. 443.
- 8 Ebenda.
- 9 Zu Verbreitung und Häufigkeit der Streiks im deutschen Luftverkehr vgl. Beirat Verkehr, a.a.O., S. 115.
- 10 Ebenda.
- 11 Der Verfasser dankt Colin Crouch für entsprechende Informationen. Eine anschauliche Schilderung findet sich in: G. Stewart: Margaret Thatcher – never forget the chaos of life before her, in: The Telegraph vom 14.4.2013, http://www.telegraph.co.uk/news/politics/margaret-thatcher/9991843/Margaret-Thatcher-never-forget-the-chaos-of-life-before-her.html.
- 12 Die folgenden Argumente wurden zum Teil entnommen aus: H. Zimmermann: Fachgewerkschaften – schädlich und unsolidarisch, Leserbrief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.8.2008, S. 8.