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Traditionell wird das Denken von Ökonomen über Ungleichheit davon bestimmt, was Arthur Okun in den 1970er Jahren als „The Big Tradeoff“ bezeichnet hat, den Zielkonflikt zwischen Effizienz und Gleichheit.1 Förderung der Gleichheit durch Umverteilung führt zu Effizienzverlusten, da Anreize zu mehr oder besserer Arbeit abgeschwächt werden. So plausibel dieses Argument ist, so lehrt die internationale Erfahrung aber auch, dass Länder mit großer Ungleichheit der Einkommensverteilung keineswegs immer Vorreiter der wirtschaftlichen Entwicklung sind. Zuviel Ungleichheit kann volkswirtschaftlichen Schaden anrichten. Beispielsweise zeigt die von Alan Krueger populär gemachte „Great Gatsby Curve“ an, dass Länder mit hoher Einkommensungleichheit auch eine deutlich geringere intergenerationale Einkommensmobilität aufweisen.2 „The Great Gatsby“ steht für den amerikanischen Mythos eines durch harte Arbeit erreichten Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär. Dieser Mythos ist in den USA und anderen Ländern mit hoher Ungleichheit heute mehr denn je von der Lebenswirklichkeit entfernt. Kinder aus reichen Familien haben weitaus bessere Chancen, wie ihre Eltern zu den Spitzenverdienern zu zählen, während es wenig Aufstiegsmobilität für Kinder aus ärmeren Schichten gibt. So können etwa die Reichen ihre Kinder auf Eliteschulen und -universitäten schicken, während dies den Armen aus Kostengründen nur in seltenen Fällen möglich ist. Wenn aber nicht individuelle Potenziale, sondern die Herkunft zählt, dann bedeutet dies eine Verschwendung von Talenten und Fähigkeiten, die letztlich das ökonomische Potenzial eines Landes verringert.

Viel spricht dafür, dass der Zusammenhang zwischen Effizienz und Gleichheit nicht monoton verläuft. Zu hohe Ungleichheit kann demnach ebenso wie zu starke Nivellierung zu gesellschaftlichen Wohlfahrtsverlusten führen. Dies gilt auch für Entlohnungssysteme. Sie sollten differenziert sein, um Anreize für gute Leistung und hohen Einsatz zu bieten. Werden die Spannen zu groß, so entsteht Missmut über die als nicht fair angesehenen Diskrepanzen. Zuviel Differenzierung kann also ebenfalls demotivierend wirken und auf der gesellschaftlichen Ebene zu sozialer Erosion und Destabilisierung führen.

Natürlich ist die Einkommens- und Vermögensverteilung das Resultat von vielfältigen Prozessen, von Marktkräften, Institutionen und Umverteilungsprozessen. Mein Schwerpunkt liegt im Folgenden auf der Verteilung der Arbeitseinkommen in Deutschland, die seit etwa zwei Dekaden deutlich in Bewegung gekommen ist. Gegenüber früheren Studien werden auch aktuelle Daten herangezogen, in denen sich etwa seit 2010 erneut Veränderungen abzeichnen.

Lohnungleichheit und Niedriglohnbeschäftigung

Traditionell gilt Deutschland als ein Land mit einer vergleichsweise egalitären Lohnstruktur. Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ stand als Motto über dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit und galt als ein wichtiges Merkmal des „deutschen Modells“.3 Die Situation hat sich jedoch grundlegend gewandelt, die Lohnspreizung in Deutschland ist wie in kaum einem anderen entwickelten Land gestiegen. Entgegen einer in der Öffentlichkeit verbreiteten Fehlwahrnehmung begann diese Entwicklung nicht erst mit den Hartz-Reformen, sondern bereits etwa Mitte der 1990er Jahre. Dies sich in den Mikrodaten markant abzeichnende Phänomen ist von einer Reihe von Autoren näher beschrieben und analysiert worden.4 Die zunehmende Spreizung der Löhne ist sowohl im unteren als auch im oberen Bereich der Lohnverteilung erkennbar, und sie findet sich sowohl zwischen als auch innerhalb von Sektoren, Regionen und Merkmalsgruppen der Beschäftigten.

Die substanziell angewachsene Lohnungleichheit im Bereich niedriger Verdienste führt dazu, dass der sogenannten Niedriglohnsektor – der alle Personen umfasst, die weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns erhalten – in Deutschland 2010 eine Größe erreicht, die in der Europäischen Union nur noch von den baltischen Staaten, Polen, Rumänien und Zypern übertroffen wird (vgl. Abbildung 1). Im Jahr 2010 verdienen Eurostat zufolge in Deutschland mehr als 22% der Beschäftigten (ohne Auszubildende) weniger als zwei Drittel des Medianlohns, während dies in den skandinavischen Ländern, aber auch in Finnland, Belgien und Frankreich, auf deutlich weniger als 10% der Beschäftigten zutrifft. Unter den Ländern mit einem gering ausgebildeten Niedriglohnsektor befinden sich dabei sowohl Länder mit einem vergleichsweise hohen Mindestlohn wie Belgien und Frankreich als auch Länder ohne Mindestlohnregelung, aber mit einer sehr hohen Tarifbindung wie Dänemark und Schweden.

Abbildung 1
Anteil der Niedriglohnbeschäftigung an der Gesamtbeschäftigung
in %
35113.png

Anteil der Niedriglohnbeschäftigung in den EU-27 Ländern, Kroatien, Norwegen und Island 2006 und 2010 (Anteil der Beschäftigten, die weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns erhalten, in %, ohne Auszubildende).

Datenquelle: Eurostat, eigene Darstellung.

Lohnungleichheit von Männern und Frauen in Deutschland nach Landesteil

Im Folgenden verwende ich Mikro-Paneldaten aus einer 2%-Stichprobe der Integrierten Erwerbsbiografien des IAB, die auf die Grundgesamtheit aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland zurückgreifen können (vgl. Kasten 1). Ich beschränke mich auf Beschäftigte in Vollzeit im Alter von 20 bis 65 Jahren, die zum Stichtag 30.6. des jeweiligen Jahres beschäftigt waren. Auszubildende und geringfügig Beschäftigte werden ausgeschlossen. Die Spreizung über den gesamten Bereich der Lohnverteilung wird durch das Verhältnis zwischen einem hohen Perzentil (Centil) (z.B. C85) und dem dazu korrespondierenden Perzentil im unteren Bereich der Verteilung (z.B. C15) beschrieben. Für die Messung der Lohnungleichheit im unteren Bereich ziehen wir dann das Verhältnis zwischen dem Median (C50) und einem unteren Perzentil (z.B. C15) heran, für die im oberen Bereich das Verhältnis zwischen einem oberen Perzentil (z.B. C85) und dem Median. Zu beachten ist, dass die Daten an der Beitragsbemessungsgrenze der Sozialversicherungspflicht zensiert sind. Die Wahl des 85. Perzentils der Verteilung als Maß für einen Spitzenwert der Bruttoverdienste bietet sich an, da dieses – im Unterschied zum 90. Perzentil – von der Zensierung nicht betroffen ist.

Kasten 1
Datengrundlage

Verwendet wurde eine 2%-Stichprobe aus den Integrierten Erwerbsbiografien (IEB) des IAB für den Zeitraum 1992 bis 2014. Die Analyse beschränkte sich auf Personen im Alter von 20 bis 65 Jahren, die der Sozialversicherungspflicht unterliegen und sich in keinem Ausbildungsverhältnis befinden. Bei Mehrfachbeschäftigung wurde der Lohn der Hauptbeschäftigung verwendet. Berücksichtigt wurden nur Beschäftigungsverhältnisse, die zum Stichtag 30.6. des jeweiligen Jahres bestanden.

Ausgeschlossen wurden Teilzeitbeschäftigte, da keine verlässlichen Informationen über die gearbeiteten Stunden vorliegen. Teilzeitbeschäftigung wird in der IEB bis einschließlich 2010 in der Variablen „Stellung im Beruf (stib)“ gemessen. Ein Wert von stib=8 bzw. stib=9 steht dabei für die sogenannte „kleine“ und „große“ Teilzeit, d.h. für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, die weniger oder mehr als der Hälfte der üblichen Vollzeit entspricht. Obwohl das Teilzeitmerkmal prioritär angegeben werden sollte, ist die Messung der Teilzeit über die Variable stib2 insofern nicht unproblematisch, da sie zugleich andere Merkmale (z.B. Ausbildung oder Status als Facharbeiter oder Meister) misst.

Ab 2010 wird die Teilzeitvariable in den Sozialversicherungsdaten präziser erhoben. Es ist wahrscheinlich, dass vor diesem Jahr eine größere Gruppe Frauen der Vollzeitbeschäftigung zugeordnet wurde, sodass aufgrund der niedrigen Verdienste wegen der geringeren Arbeitszeit die Medianverdienste vollzeitbeschäftigter Frauen unterschätzt wurden. Durch ein Imputationsverfahren wurde die Untererfassung der Teilzeit vor 2011 korrigiert. Es kann dennoch nicht ausgeschlossen werden, dass es gerade bei der Gruppe der westdeutschen Frauen wegen des hohen Teilzeitanteils zu Verzerrungen kommt.

Abbildung 2 zeigt, dass im Zeitraum 1992 bis 2014 die Entwicklung der Lohnungleichheit insgesamt für sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer in Westdeutschland einem ähnlichen Muster folgt. Zu Beginn der 1990er Jahre liegt das Verhältnis C85 zu C15 bei Männern etwa beim Wert 2, bei Frauen mit 1,9 noch leicht darunter. Beschäftigte an der Spitze der Lohnverteilung (C85) kamen damals also im Verhältnis zu Personen am unteren Rand (C15) bei den Bruttoverdiensten ungefähr auf das Doppelte. Diese Relation ändert sich bis Mitte der 1990er Jahre nur wenig. Ab diesem Zeitpunkt ist dann jedoch eine markante Aufspreizung der Lohnverteilung zu erkennen. Über etwa anderthalb Dekaden steigt das hier betrachtete Ungleichheitsmaß kontinuierlich an, so dass für beide Geschlechter 2011 ein Wert von fast 2,7 erreicht wird. Bei den Männern bedeutet dies eine Zunahme des Ungleichheitsindikators um 35%, bei den Frauen um etwa 40%. Augenfällig ist, dass in den Jahren 2010/2011 offenbar eine Veränderung bzw. ein Trendbruch stattgefunden hat. In den Jahren danach zeigt das hier verwendete Maß keinen weiteren Aufwuchs der Lohnungleichheit an. Bei den Männern ergibt sich eine Seitwärtsbewegung, bei den Frauen sogar ein leichter Rückgang.

Abbildung 2
Entwicklung der Lohnungleichheit in Westdeutschland
C85/C15
35773.png

Anmerkungen zur Berechnung: Nur Personen im Alter von 20 bis 65, keine Auszubildenden; Cx bezeichnet das x-te Perzentil der Verteilung der Bruttoverdienste pro Kalendertag für alle Personen, die zum 30.6. des jeweiligen Jahres in Vollzeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren; die vertikale Linie 2011 markiert eine Änderung in der Erfassung der Teilzeit; die systematische Untererfassung der Teilzeit vor 2011 wurde durch ein Imputationsverfahren korrigiert. Der Wert für 2011 bei den Frauen wurde linear interpoliert.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Abbildung 3 beschreibt die Entwicklung der Lohnungleichheit sozialversicherungspflichtig vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer in Ostdeutschland. Der Startwert liegt bereits kurz nach der Wiedervereinigung auf einem ähnlichen Niveau wie in Westdeutschland. Abgesehen davon, dass der Anstieg des Ungleichheitsmaßes in Ostdeutschland bereits vor Mitte der 1990er Jahre erfolgt, ist das Grundmuster des weiteren Verlaufs zwischen beiden Landesteilen sehr ähnlich. Dies lässt darauf schließen, dass hinter der Entwicklung Triebkräfte standen, die sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland wirksam waren. Dennoch werden auch Unterschiede zwischen beiden Landesteilen sichtbar. In Ostdeutschland ist die Spreizung der Verdienste in der Gruppe der Frauen stärker ausgeprägt als in Westdeutschland. In der Spitze erreicht das 85. Perzentil in den Jahren 2010/2011 hier das 2,9-Fache des 15. Perzentils, während der Vergleichswert für die westdeutschen Frauen etwa bei dem 2,6-Fachen liegt. Für ostdeutsche Frauen impliziert dies gegenüber dem Beginn der 1990er Jahre eine Steigerung des hier betrachteten Ungleichheitsmaßes um fast 50%. Auch bei Männern in Ostdeutschland ist ein deutlicher Anstieg der Ungleichheit erkennbar, er fällt jedoch mit rund 40% gegenüber den Frauen etwas moderater aus. Das Ungleichheitsmaß liegt am Ende des Beobachtungszeitraums mit Werten von etwas über 2,5 sogar leicht unter dem der westdeutschen Männer (etwa 2,6). Im Vergleich zwischen den Landesteilen ist zu konstatieren, dass in Westdeutschland die Lohnverteilung der Frauen tendenziell egalitärer ist als die der Männer, während in Ostdeutschland die Lohnungleichheit der Frauen die der Männer klar übersteigt.

Abbildung 3
Entwicklung der Lohnungleichheit in Ostdeutschland
C85/C15
35188.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Vor dem Hintergrund der Gesamtveränderung in der Lohn­ungleichheit ist es aufschlussreich, die Entwicklung im unteren und oberen Bereich der Verteilung separat zu analysieren. Hierzu betrachten wir das Verhältnis des Median zum 15. Perzentil sowie der Verhältnis des 85. Perzentil zum Median. Abbildung 4 enthält, differenziert nach Landesteilen und Geschlechtern, die Ergebnisse für die Dezilverhältnisse im unteren Bereich der Verteilung (C50/C15). Mehrere Sachverhalte sind zu konstatieren. Neben dem bereits beim Entwicklungsmuster des Gesamtmaßes besprochenen Aufwärtstrend ist zunächst festzuhalten, dass die Lohnspanne bei den Frauen im unteren Bereich der Verteilung größer ist als die der Männer. Dies ist besonders im Osten augenfällig. Die entsprechende Aufspreizung der Lohnverteilung ist bei den Männern bis etwa 2005 in beiden Landesteilen überraschend gleichläufig, danach bricht sie bei ostdeutschen Männern ab und verharrt bei einem Niveau von etwa 1,45. In Westdeutschland findet bei den Männern bis etwa 2010 ein weiterer Anstieg statt, der erst danach etwa auf dem Niveau von 1,55 in eine Seitwärtsbewegung einmündet. Bemerkenswert ist, dass der Anstieg der Lohn­ungleichheit im unteren Bereich der Lohnverteilung auch bei den Frauen im Osten bereits gegen Mitte der 2000er Jahre zum Stillstand kommt. Seitdem wächst die Lohnungleichheit im unteren Flügel der Verteilung nicht mehr. Sie geht sogar von einem Spitzenwert von etwa 1,77 auf Werte unter 1,70 am Ende des Beobachtungszeitraums zurück. In Westdeutschland ist ein entsprechender Trendbruch erst ab 2010/2011 zu beobachten. 2014 liegt die Lohnungleichheit der Frauen im unteren Bereich der Verteilung in Ost und West in etwa gleichauf, die der Männer im Westen übersteigt hingegen die der Männer im Osten um ungefähr 0,1.

Abbildung 4
Lohnungleichheit im unteren Bereich der Verteilung
C50/C15
35227.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Abbildung 5 belegt den Anstieg der Lohnungleichheit im oberen Bereich der Verteilung (Verhältnis des 85. Perzentils zum Median). Auch hier gibt es einen deutlichen Anstieg der Ungleichheit, der für beide Geschlechter im Osten bereits unmittelbar nach der Wende, im Westen ab Mitte der 1990er Jahre einsetzt. Für alle Gruppen kommt dieser Prozess etwa um das Jahr 2010 herum zu einem Stillstand, um dann in eine Seitwärtsbewegung überzugehen. Im Unterschied zu den Perzentilverhältnissen im unteren Bereich der Verteilung liegen die Ungleichheitsmaße der Männer im oberen Bereich der Verteilung in beiden Landesteilen über denen der Frauen. Zwischen 1992 und 2014 ist die Lohnungleichheit oberhalb des Medians in Ostdeutschland stärker gewachsen als in Westdeutschland. Dies ist mit einem Anstieg um ca. 25% bei den ostdeutschen Männern ausgeprägter als bei den Frauen (ca. 20%). Bei den Frauen in Westdeutschland beträgt der Anstieg demgegenüber nur etwa 10%. Am Ende des Beobachtungszeitraums liegen die Verdienste ostdeutscher Männer im 85. Perzentil um etwa das 1,75-Fache über dem Median, die der westdeutschen Frauen in einer vergleichbaren Spitzenposition aber nur um das etwa 1,55-Fache über den mittleren Verdiensten in dieser Gruppe.

Abbildung 5
Lohnungleichheit im oberen Bereich der Verteilung
C85/C50
35261.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Bruttoverdienstlücke zwischen Männern und Frauen

Abbildung 6 zeigt die Bruttoverdienstlücke vollzeitbeschäftigter Frauen gegenüber Männern nach Landesteil und Stellung in der Lohnhierarchie. Wir sehen, dass die geschlechtsspezifische Lohnlücke – ohne Bereinigung unterschiedlicher sonstiger Merkmale in den jeweiligen Gruppen – gemessen am 85. Perzentil in Westdeutschland Werte von etwa einem Viertel annimmt. Demgegenüber hat sich die prozentuale Lohnlücke zwischen vollzeitbeschäftigten Spitzenverdienern im 85. Perzentil der Lohnverteilung im Osten nach einem Rückgang in den 1990er Jahren bei nur etwa 5% eingependelt. Die am Median gemessenen geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede liegen nach einem deutlichen Abschmelzen während der ersten Jahre nach der Wiedervereinigung sogar leicht im negativen Bereich, d.h. die mittleren Verdienste vollzeitbeschäftigter Frauen übersteigen in Ostdeutschland sogar leicht die von Männern. Insgesamt sind die geschlechtsspezifischen (unbereinigten) Lohnlücken nach den hier vorgelegten Ergebnissen in Westdeutschland deutlich ausgeprägter als in Ostdeutschland. Festzuhalten ist auch, dass sich seit etwa anderthalb Jahrzehnten die Werte kaum verändert haben.

Abbildung 6
Bruttoverdienstlücke vollzeitbeschäftigter Frauen
Verdienst Mann – Verdienst Frau in %
35296.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Einflussfaktoren auf die Lohnungleichheit

Der Anstieg der Lohnungleichheit in Deutschland etwa von Mitte der 1990er Jahre bis 2010 ist frappant. Dieser Anstieg ist unabhängig vom Landesteil sowohl für Männer als auch für Frauen festzustellen. Die in der Literatur diskutierten Erklärungen dafür lassen sich grob in die folgenden Ansätze gliedern:

  • steigende qualifikatorische Lohnunterschiede (aufgrund von qualifikationsverzerrtem technischen Fortschritt) und/oder veränderte Renditen von Berufserfahrung bzw. Betriebszugehörigkeit;
  • wachsende Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Industrien, z.B. zwischen Dienstleistungen und verarbeitendem Gewerbe, sowie zwischen Regionen (interindustrielle und interregionale Lohnunterschiede);
  • eine heterogenere Zusammensetzung der Beschäftigten z.B. nach Alter, Qualifikation, Berufen;
  • institutionelle Einflüsse, etwa durch eine Veränderung der Tarifbindung der Firmen oder der Zumutbarkeitsregeln für Arbeitslose bei der Annahme von Jobangeboten;
  • eine stärkere Segregation zwischen Betrieben desselben Wirtschaftszweigs in Hochlohn- und Niedriglohnbetriebe sowie eine entsprechende Sortierung bei der Zuordnung von Beschäftigten zu Betrieben.

Frühere Untersuchungen haben ergeben, dass das Phänomen des Anstiegs der Lohnungleichheit eine Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen umfasst. Nachzuweisen ist eine Ausweitung der qualifikatorischen Lohndifferenziale, d.h. die Lohnunterschiede zwischen gering-, mittel- und hochqualifizierten Personen haben insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre zugenommen.5 Für eine subs­tanzielle Ausweitung der interindustriellen Lohnunterschiede gibt es hingegen wenig Anhaltspunkte. Nähere Untersuchungen zeigen, dass ein wesentlicher Anteil des Anstiegs der Lohnungleichheit innerhalb von Industrien, Qualifikations- und Altersgruppen stattfindet. D.h. die beobachteten Veränderungen sind in erster Linie als ein „Within“-Phänomen, weniger als ein „Between“-Phänomen zu verstehen.6 Fitzenberger kommt zu dem Schluss, dass die Veränderung der Tarifbindung beim Anstieg der Lohnungleichheit nur eine untergeordnete Rolle spielt.7 Wertvoller Aufschluss über die Ursachen des Anstiegs der Lohnungleichheit lässt sich über die Methoden erhalten, die eine Zerlegung dieses Anstiegs in verschiedene Komponenten erlauben. Die Methode von Juhn et al. in der Erweiterung auf die Quantile der Verteilung von Melly bietet die Möglichkeit einer Aufspaltung des Gesamteffekts in drei Komponenten, und zwar in:8

  • Merkmalseffekte der Arbeitnehmerschaft (Wie haben sich die beobachtbaren Merkmale der Arbeitnehmer – z.B. die Altersverteilung oder die Verteilung der formalen Qualifikationen – verändert?);
  • Bewertungseffekte (Wie hat sich die Marktbewertung von Qualifikation und Erfahrung verändert?);
  • Residualeffekte (Wie haben sich unbeobachtbare Faktoren verändert?).

Das Verfahren setzt die Verfügbarkeit von Mikrodaten und die Spezifikation einer ökonometrischen Schätzgleichung voraus. Als Datenbasis wurden die Integrierten Erwerbsbiografien des IAB für den Zeitraum 1992 bis 2014 verwendet. Als abhängige Variable wurden die logarithmierten Bruttoverdienste pro Kalendertag Wit gewählt:

(1) In Wit = a0t + Xit βt + εit ,

wobei Xit einen Zeilenvektor der individuellen Merkmale zum Zeitpunkt t, βt einen geeignet dimensionierten Spaltenvektor der zusammen mit der Konstanten a0t zu schätzenden Koeffizienten und εit einen Störterm mit den üblichen Eigenschaften bezeichnen. Als erklärende Variablen wurden neben einer Konstanten aufgenommen:

  • ein Polynom in der Altersvariable bis zur Ordnung 3,
  • (0,1)-Dummy-Variablen für drei Bildungskategorien,
  • alle Interaktionen zwischen der Bildungsvariable und den Altersvariablen,
  • (0,1)-Dummy-Variablen für neun Berufsfeldkategorien (Einsteller der Berufsklassifikation),
  • (0,1)-Dummy-Variablen für elf Regions- und Kreistypen nach der aktuellen Klassifikation des Bundesinstitutes für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).

Die Schätzungen wurden für die Zeitpunkte 1995, 2010 und 2014 nach Geschlecht und Landesteil (Ost/West) durchgeführt. Die Ergebnisse werden nicht im Detail, sondern in grafischer Form präsentiert.

Abbildung 7 zeigt die Ergebnisse der Komponentenzerlegung für die Veränderung der Interquartilsabstände, also der Differenz zwischen dem 75. und 25. Perzentil. Die Interquartilsabstände sind im Zeitraum 1995 und 2010 zwischen etwa 14 Prozentpunkten (Frauen im Westen) und 22 Prozentpunkten (Frauen im Osten) angestiegen. Zunächst ist festzuhalten, dass alle drei Komponenten der Zerlegung positiv zu der Erklärung des Anstiegs der Lohnungleichheit beitragen. Allerdings ist dieser Anstieg nur zu einem vergleichsweise geringen Teil durch die Veränderungen der im Schätzansatz verwendeten Merkmalsausprägungen (Qualifikationen, Alter, Berufe und Regionen) zu erklären. Etwas stärker schlagen die Bewertungseffekte zu Buche, also beispielsweise höhere qualifikatorische Lohndifferenziale in Interaktion mit der Bewertung von Berufserfahrung/Alter. Den Resultaten zufolge bleibt der wesentliche Teil des Anstiegs der Lohnungleichheit durch den hier verwendeten Ansatz allerdings unerklärt. Die Prozentanteile der Residualkomponente am Gesamteffekt liegen zwischen 44% bei den Männern in Westdeutschland und 67% bei den Frauen in Ostdeutschland.

Abbildung 7
Ergebnisse der Komponentenzerlegung zur Lohnungleichheit 1995 bis 2010
35330.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Am ehesten gelingt eine Erklärung des gestiegenen Interquartilsabstandes über Kompositions- und Bewertungseffekte also für Männer in Westdeutschland. Für die anderen hier betrachteten Gruppen sind wesentliche Triebkräfte, die hinter der Entwicklung stehen, nicht in beobachteten Faktoren zu suchen. Haupterklärungsfaktoren für den „dramatischen Anstieg der Lohnungleichheit“ – so die Formulierung bei Card et al.9 – müssen also in einem Anstieg der unbeobachteten Heterogenität der Arbeitskräfte stecken, in wachsenden Firmenlohnunterschieden sowie einer höheren Segregation auf Firmen­ebene. Bestätigung für eine dominierende Rolle des zweiten und dritten Faktors findet sich in der umfassenden Studie von Card et al.10

Abbildung 8 gibt die Komponentenzerlegung der Veränderung des Interquartilsabstandes im Zeitraum 2010 bis 2014 wieder. Dieser ist im Westen insgesamt noch gestiegen, im Osten aber gefallen.11 Bei den Effekten der Merkmalsverteilung und der Bewertung ergibt sich ein klares Bild. Im Westen sorgt eine größere Heterogenität in den Beschäftigungsmerkmalen für beide Geschlechter für einen tendenziell weiteren Anstieg der Lohnungleichheit. Demgegenüber wirkt eine Veränderung in der Bewertung von Merkmalen bei Frauen in beiden Landesteilen tendenziell egalisierend. Bei den Frauen im Osten dominiert dieser Effekt, sodass sich insgesamt ein Rückgang des Interquartilsabstandes ergibt.

Abbildung 8
Ergebnisse der Komponentenzerlegung zur Lohnungleichheit 2010 bis 2014
36095.png

Anmerkungen zur Berechnung: siehe Abbildung 2.

Quelle: Eigene Berechnungen mit IEB-Daten.

Im Vergleich der Zeiträume 1995 bis 2010 und 2010 bis 2014 ergibt sich ein erstes Bild, das angesichts der Kürze der Zeitspanne nach dem sich in den deskriptiven Werten abzeichnenden Trendbruch noch mit einem Caveat zu versehen ist: Während im Zeitraum 1995 bis 2010 Merkmals-, Bewertungseffekte und unbeobachtete Faktoren für alle Gruppen in Richtung auf mehr Ungleichheit gewirkt haben, wird das Bild nach 2010 offenbar sehr viel differenzierter. Bewertungseffekte haben insbesondere bei den Frauen nun einen egalisierenden Einfluss. Außer bei den Frauen im Westen spielen die unerklärten Faktoren jetzt keine dominierende Rolle mehr. Zumindest im Osten gibt es Anzeichen dafür, dass sich wieder ein stärker egalisierend wirkender Trend in den Bewertungsmechanismen durchsetzen könnte. Dieser wird im Westen noch durch wachsende Heterogenität von Merkmalen der Beschäftigten (nach Alter/Berufserfahrung, Qualifikation Beruf und Region) weitgehend überlagert.

Schlussfolgerung

Der markante Anstieg der Lohnungleichheit seit Mitte der 1990er Jahre bis etwa 2010 lässt sich teilweise durch steigende Lohndifferenziale für Qualifikation und Berufserfahrung erklären, die insbesondere die Hochqualifizierten mit Berufserfahrung in den letzten anderthalb bis zwei Dekaden begünstigt haben, während die Geringqualifizierten auf der Verliererseite standen. Die nähere Analyse zeigt aber auch, dass der Anstieg der Lohnungleichheit in erster Linie als ein Phänomen innerhalb von Beschäftigtengruppen, Sektoren oder Regionen zu sehen ist. Kompositions- und Bewertungseffekte können dabei nicht den Löwenanteil der Änderungen erklären. Dazu passt die bei Card et al. präsentierte Evidenz dafür, dass der Anstieg der Lohnungleichheit in Deutschland durch Segregations- und Sortierprozesse gesteuert wird.12 Mit anderen Worten: Die Entlohnungsunterschiede zwischen verschiedenen Firmen derselben Branche steigen an, während die Erwerbstätigen sich immer stärker ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend in Hoch- und Niedriglohnfirmen selektieren. An dieser Stelle entsteht jedoch die Frage, was hinter diesen Prozessen steht. Zu klären wäre beispielsweise, inwieweit eine zunehmende Aufspaltung in innovative oder weniger innovative Firmen verantwortlich ist und/oder die Segregation in Export- und Nicht-Exportbetriebe. Hier bedarf es weiterer Forschung.

Die hier vorgelegte Evidenz deutet darauf hin, dass die in den anderthalb Dekaden davor stark angestiegene Lohn­ungleichheit in Deutschland nach 2010 zumindest nicht mehr zunimmt und für manche Gruppen sogar rückläufig ist. Unklar ist, ob die Erklärung von Card et al. auch für die neueste Entwicklung trägt.13 Warum sollte der Trend zu mehr Segregation oder Selektion auf der Firmenebene vergleichsweise abrupt zu einem Stillstand gekommen sein? Spielen jetzt verstärkt wieder institutionelle Faktoren wie die Einführung des Mindestlohns oder das Bemühen um eine Senkung des geschlechtsspezifischen Lohndifferenzials eine Rolle?

Festzuhalten ist jedenfalls, dass die gebremste oder rückläufige Lohnungleichheit in Deutschland bisher offenbar dem weiterhin starken Aufwärtstrend bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nicht entgegengestanden hat. So wie die Trendwende zu mehr Lohnungleichheit in den 1990er Jahren offenbar keineswegs ein Jobwunder ausgelöst hat – dies fand erst nach 2005 statt –, so scheint auch umgekehrt eine Eindämmung der Lohn­ungleichheit, wie wir sie zumindest in Ansätzen seit 2010 gesehen haben, ohne schädliche Nebenwirkungen vonstatten zu gehen. Interessant wird es sein, die Auswirkungen des flächendeckenden Mindestlohns in den Jahren nach 2015 auf die Lohnungleichheit und Beschäftigung zu verfolgen. Möglicherweise wird sich dann ein weiteres Beispiel dafür ergeben, dass der Okunsche Tradeoff zumindest relativiert werden muss.

  • 1 Vgl. A. M. Okun: Equality and Efficiency: The Big Tradeoff, Washington D.C. 1975.
  • 2 A. Krueger: The Rise and Consequences of Inequality, Center for American Progress, 2012.
  • 3 J. Möller: Did the German model survive the labor market reforms?, in: Journal for Labour Market Research, 48. Jg. (2015), Nr. 2, S. 151-168.
  • 4 Vgl. J. Möller: Die Entwicklung der Lohnungleichheit in Deutschland, in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Einkommen und Vermögen in Deutschland. Messung und Analyse, Forum der Bundesstatistik, Bd. 32, Wiesbaden 1998, S. 169-193; ders.: Wage dispersion in Germany and the US. Is there compression from below?, in: International Economics and Economic Policy, 5. Jg. (2008), Nr. 4, S. 345-361; B. Fitzenberger: Wages and Employment Across Skill Groups: An Analysis for West Germany, Heidelberg 1999; ders.: Expertise zur Entwicklung der Lohnungleichheit in Deutschland, Sachverständigenrat zur Begutachtung der Gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Nr. 4/2012, Wiesbaden 2012; J. Gernandt, F. Pfeiffer: Rising Wage Inequality in Germany, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 227. Jg. (2007), Nr. 4, S. 358-380; C. Dustmann, J. Ludsteck, U. Schönberg: Revisiting the German Wage Structure, in: Quarterly Journal of Economics, 124. Jg. (2009), Nr. 2, S. 843-881; M. Biewen, A. Juhasz: Understanding Rising Income Inequality in Germany, 1999/2000-2005/2006, in: Review of Income and Wealth, 58. Jg. (2012), Nr. 4, S. 622-647; D. Card, J. Heining, P. Kline: Workplace Heterogeneity and the Rise of West German Wage Inequality, in: The Quarterly Journal of Economics, 128. Jg. (2013), Nr. 3, S. 967-1015.
  • 5 Z.B. J. Möller, C. Hutter: The effects of age, skill and sector composition on the wage inequality in Germany, in: B. Genser, H. J. Ramser, M. Stadler (Hrsg.): Umverteilung und soziale Gerechtigkeit, Wirtschaftswissenschaftliches Seminar Ottobeuren, Bd. 40, Tübingen 2011, S. 9-32; B. Fritzenberger: Expertise ..., a.a.O.
  • 6 Möller und Hutter zeigen, dass die Streuung der Verdienste hauptsächlich auf die veränderte Varianz innerhalb der Industrien zurückgeht. Effekte des Strukturwandels oder ein Anstieg der interindustriellen Lohnunterschiede spielen eine untergeordnete Rolle. Vgl. J. Möller, C. Hutter, a.a.O.
  • 7 B. Fritzenberger: Expertise ..., a.a.O.
  • 8 C. Juhn, K. H. Murphy; B. Pierce: Wage Inequality and the Rise in Returns to Skill, in: Journal of Political Economy, 101. Jg. (1993), Nr. 3, S. 410-442; B. Melly: Decomposition of differences in distribution using quantile regression, in: Labour Economics, 12. Jg. (2005), Nr. 4, S. 577-590.
  • 9 D. Card et al., a.a.O.
  • 10 Ebenda.
  • 11 Einschränkend ist hier zu betonen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass der hohe unerklärte Anteil bei den Frauen im Westen möglicherweise mit der Umstellung der Erfassung der Teilzeitvariablen in dieser Gruppe zu tun hat.
  • 12 D. Card et al., a.a.O.
  • 13 Ebenda.

Title:German Wage Inequality – Is There a Trend Reversal?

Abstract:Using a large panel microdata set for the time period 1992 to 2014, the paper analyses the long-run trends in German wage inequality for full-time workers. The approach differentiates by gender and region. The analysis confirms the result of other studies that show a sharp increase in wage inequality in Germany from the mid-1990s until 2010. The increase can only partly be explained by rising skill differentials. The lion’s share is neither attributable to price effects nor to changes in the composition of the workforce. As an interesting phenomenon, the rise in the inequality indicators did not continue after 2010. The pattern is similar for male and female workers as well as for the eastern and western parts of the country. In some sub-samples we even find a marked decline. This is especially true for females. Hence there are some indications of a hiatus or even a trend reversal. At the time being it is still unclear whether the phenomenon is caused by sectoral minimum wages, a more egalitarian stance on wage policy, technological or structural developments favouring the low-skilled or other causes.

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DOI: 10.1007/s10273-016-1949-5