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Prognosen über die zukünftige Entwicklung der Bevölkerung und ihrer Altersstruktur sind eine Voraussetzung für langfristige Planungen und deshalb auch ein unverzichtbarer Baustein für politische und ökonomische Entscheidungen. So sind die zukünftigen demografischen Gegebenheiten sowohl für die Gestaltung von Politikbereichen wie der Renten-, Steuer- oder Sozialpolitik als auch bei der Planung von Infrastrukturvorhaben eine bedeutende Einflussgröße. Für Deutschland werden von verschiedenen Institutionen Projektionen erstellt, wobei sich die Prognoseverfahren und auch die zugrunde gelegten Annahmen unterscheiden, sodass die Resultate teilweise deutlich voneinander abweichen.

Annahmen und Methodik von Bevölkerungsvorausberechnungen

Von besonderer Bedeutung sind die Prognosen des Statistischen Bundesamtes, das mit seiner 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung Projektionen für Deutschland insgesamt und die Bundesländer bis ins Jahr 2060 bereitstellt. Den Rahmen vieler regionalökonomischer Untersuchungen bilden hingegen die Raumordnungsprognosen (ROP) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), in denen die zukünftige Entwicklung der Bevölkerungs-, Haushalts- und Erwerbspersonenzahl abgebildet wird. Die aktuelle ROP stellt ausgehend vom Basisjahr 2012 Prognosedaten auf Kreisebene bis ins Jahr 2035 bereit. Alle Vorausberechnungen berücksichtigen die Ergebnisse des Zensus 2011 und basieren damit auf der aktuellen Bevölkerungszahl.

Sowohl die amtliche Statistik als auch das BBSR verwenden zur Bevölkerungsvorausberechnung ein Periodenmodell mit jährlichen kohortenweisen Fortschreibungen des Bevölkerungsstandes. Hierbei handelt es sich um ein deterministisches Prognosemodell, in dem grundsätzlich wie folgt vorgegangen wird: Ausgehend vom Bevölkerungsstand im Basisjahr werden die Geburten und Zuzüge eines Jahres hinzuaddiert, während die Sterbefälle und Fortzüge desselben Jahres subtrahiert werden, wodurch man die Bevölkerungszahl des Folgejahres erhält. Die Berechnungen erfolgen jeweils altersdifferenziert. Im Folgejahr rücken die Überlebenden jeder Altersgruppe ein Jahr auf.1

Ein Nachteil von deterministischen Modellen ist, dass bei ihnen im Gegensatz zu stochastischen Modellen keine Konfidenzintervalle bestimmt werden können. Stochastische Modelle bieten daher insbesondere den Vorteil, dass sie verschiedenen Szenarien Eintrittswahrscheinlichkeiten zuordnen können, wodurch die Unsicherheit in den Prognosen quantifizierbar wird.2 Um die Unsicherheit und Spanne der möglichen Entwicklungen im Rahmen von deterministischen Ansätzen aufzuzeigen, werden vom Statistischen Bundesamt verschiedene Szenarien erstellt, in denen unterschiedliche Annahmen zu den Wanderungsbewegungen abgebildet werden. Diese verursachen die größten Unsicherheiten in den Bevölkerungsvorausberechnungen, da sie erheblich größeren Schwankungen unterliegen als die Fertilitäts- und Mortalitätsraten, die – zumindest in der kurzen Frist – relativ konstant sind. Dies betrifft sowohl die Binnen-, aber insbesondere auch die Außenwanderung (vgl. Abbildung 1), die sich durch geopolitische oder ökonomische Krisen periodenhaft verändern kann.

Abbildung 1
Nettozuwanderung nach Deutschland
Personenzahl pro Jahr
31305.png

Quellen: Statistisches Bundesamt: Genesis-Online Datenbank, diverse Daten zu Bevölkerung und Wanderungen, 2016, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon, (2.5.2016); Economic Trends Research, 2016.

In Variante 1 des Statistischen Bundesamtes wird daher eine jährliche Nettozuwanderung von durchschnittlich 130 000 Menschen unterstellt, während Variante 2 von 230 000 Nettozuwanderern pro Jahr ausgeht.3 Das BBSR kalkuliert hingegen zwischen 2013 und 2035 mit einer Nettozuwanderung von jährlich 200 000 Menschen.4 Die Annahmen beziehen sich jeweils auf Durchschnittswerte über die gesamten Prognosezeiträume, wobei in der Regel bis etwa 2020 deutliche höhere Nettozuwanderungen angenommen werden, die sich nach diesem Zeitpunkt dauerhaft auf einem niedrigeren Niveau einpendeln. Weitere Bevölkerungsprognosen werden von Eurostat, der Bertelsmann Stiftung und verschiedenen Forschungsinstituten erstellt. Eine Extrem-Variante stammt beispielsweise von der Prognos AG. Hier wird Deutschland als Einwanderungsland, vergleichbar mit der Schweiz oder Kanada, betrachtet. Daher wird mit einer jährlichen Nettozuwanderung von 500 000 Personen gerechnet, aus der 2030 ein Bevölkerungsstand von 84,7 Mio. Menschen resultieren würde.5

Annahmen unterscheiden sich von tatsächlicher Zuwanderung

Vergleicht man die Wanderungsannahmen der Prognoserechnungen mit der tatsächlich erfolgten Nettozuwanderung, so dürfte die Variante 1 des Statistischen Bundesamtes (130 000 Nettozuwanderer pro Jahr) nach den aktuellen Entwicklungen deutlich zu niedrig ansetzen, während die Plausibilität der zweiten Variante (230 000) und der des BBSR (200 000) vom Vergleichszeitraum abhängt. In der jüngeren Vergangenheit hat insbesondere die verstärkte Wanderung innerhalb Europas, die sich einerseits durch die Wirtschafts- und Finanzkrise und andererseits durch die seit 2014 geltende vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit für Rumänien und Bulgarien ergeben hat, sowie die wachsende Zahl von Zuwanderern aus Asien (vor allem aus Syrien), zu erhöhten Wanderungssalden geführt. Der bisherige Spitzenwert der Nettozuwanderung aus dem Jahr 2014 beträgt über 550 000 Personen. Für 2015 geht das Statistische Bundesamt sogar von einem Wanderungssaldo von deutlich mehr als 1 Mio. Menschen aus.6 Betrachtet man das Wanderungsverhalten in Fünfjahreszeiträumen, so zeigt sich ein wellenförmiger Verlauf, mit großen Ausschlägen in beide Richtungen. Üblicherweise werden für die Prognoseannahmesetzung zu den Wanderungen Durchschnitte über bestimmte Zeiträume verwendet, die sich zum Teil erheblich unterscheiden (vgl. Abbildung 1). Ein Blick auf die Wanderungen seit 1990 würde durchaus die Annahme eines Wanderungssaldos von mehr als 250 000 Menschen pro Jahr rechtfertigen.

Prognoseergebnisse und ihre Aussagekraft

Die Vorausberechnungen legen eine Zuwanderung zwischen 130 000 und 230 000 Personen pro Jahr zugrunde. Dies führt zu den in Abbildung 2 dargestellten Verläufen.

Abhängig von der betrachteten Variante ist mit einem Rückgang der deutschen Bevölkerung bis 2035 zwischen 0,6% und 3,5% gegenüber 2012 zu rechnen. Besonders große Auswirkungen wird insbesondere das prognostizierte Schrumpfen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) bei gleichzeitigem Anstieg der über 64-jährigen Bevölkerung haben. Der Anteil der erwerbsfähigen Personen an der Gesamtbevölkerung wird zwischen 2012 und 2035 nach beiden Varianten des Statistischen Bundesamtes zwischen 8 und 9 Prozentpunkten zurückgehen, während der Anteil der über 64-Jährigen in derselben Größenordnung wachsen dürfte. Verlängert man den Prognosezeitraum weiter in die Zukunft, ist mit noch stärkeren Bevölkerungsverlusten, verbunden mit einem überproportionalen Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials, zu rechnen.

Abbildung 2
Ergebnisse verschiedener Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland
Personenzahl in Mio.
31294.png

Quellen: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Raumordnungsprognose 2035 nach dem Zensus, 2015; Statistisches Bundesamt: Genesis-Online Datenbank, diverse Daten zu Bevölkerung und Wanderungen, 2016, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/logon, (2.5.2016); Economic Trends Research, 2016.

Dieser ist in doppelter Hinsicht problematisch: Als direkter Effekt reduziert ein Rückgang der Erwerbspersonen das Arbeitskräftepotenzial, was insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden Qualifikationserfordernisse ein großes Problem darstellt und den Fachkräftemangel bedingt durch Humankapitalverlust weiter erhöht. Andererseits werden die Sozialversicherungssysteme zusätzlich belastet, indem immer weniger Nettozahlern immer mehr Empfänger gegenüberstehen. Das Statistische Bundesamt prognostiziert in seinen Vorausberechnungen, dass im Jahr 2060 zwischen 31,7% (Variante 2) und 33% (Variante 1) der Bevölkerung älter als 64 Jahre sein werden. Parallel dazu steigt die Lebenserwartung der Menschen kontinuierlich an, was die Rentenbezugsdauer und die Belastung anderer Sozialversicherungen, wie der Kranken- oder Pflegeversicherung, weiter steigert. Lag der Anteil der Personen, die 80 Jahre oder älter waren, an der Gesamtbevölkerung 2012 noch bei 5,4%, so dürfte er 2035 nach den betrachteten Projektionen bereits zwischen 8,5% (Variante 2) und 8,7% (Variante 1) betragen. Das BBSR geht sogar davon aus, dass der Bevölkerungsanteil der über 79-Jährigen bis 2035 auf 8,9% zunehmen könnte. Dieser Trend wird bis 2060 anhalten, wobei der entsprechende Anteil dann zwischen 12% und 13% liegen dürfte. Demnach wäre die Bevölkerungsgruppe der über 79-Jährigen diejenige, deren Bevölkerungsanteil im betrachteten Zeitraum am stärksten zugenommen hat.

Bei jeder Vorausberechnung ist jedoch zu berücksichtigen, dass diese lediglich eine Schätzung der zukünftigen Entwicklung darstellen kann, deren Aussagekraft in erheblichem Maße vom Eintreffen der zugrunde gelegten Annahmen abhängt. Die Genauigkeit der Projektionen ist umso geringer, je weiter der Prognosezeitpunkt in der Zukunft liegt. Dies ist einerseits auf die hohe Unsicherheit bezüglich der Wanderungsbewegungen zurückzuführen und andererseits auch darauf, dass sich das im Vergleich deutlich konstantere Fertilitätsverhalten ebenfalls nicht beliebig in die Zukunft fortschreiben lässt, da auch der Kinderwunsch von den sozioökonomischen Rahmenbedingungen abhängig ist und sich deshalb über mehrere Dekaden erheblich verändern kann. Darüber hinaus ist auch der Einfluss des stetigen medizinischen Fortschritts und eines immer gesünderen Lebenswandels auf die Mortalität über lange Zeiträume schwierig abzuschätzen.

Flüchtlinge können Bevölkerungsentwicklung stabilisieren

Neben den genannten Faktoren hat insbesondere auch der ausgeprägte Flüchtlingszuzug in der jüngeren Vergangenheit (2015 wurden über 1 Mio. Flüchtlinge im EASY-­System registriert)7 die Unsicherheit in den Bevölkerungsprognosen erhöht. In den bisherigen Projektionen ist diese Zuwanderung überhaupt nicht berücksichtigt. Da es sich bei den Flüchtlingen überwiegend um relativ junge Menschen handelt, haben sie schon rein quantitativ das Potenzial, den negativen demografischen Trend zu stabilisieren. Zusätzlich bleibt abzuwarten, ob gleichfalls eine Veränderung der durchschnittlichen Fertilität beobachtet werden kann. Diese Entwicklung zeigt, wie schwierig Vorausberechnungen sind, wenn geopolitische Ereignisse die modellhaften Annahmen obsolet werden lassen.

Fazit

Aufgrund der dynamischen Entwicklung der Zuwanderung in den letzten Jahren und der Betrachtung langfristiger Durchschnittswerte für die Wanderungssalden könnten die hier dargestellten Bevölkerungsprojektionen nur eine Untergrenze des tatsächlichen Bevölkerungsstandes im Jahr 2035 abbilden. So ist es unter anderem durch den noch nicht berücksichtigten Flüchtlingszuzug und den damit möglicherweise verbundenen Veränderungen der demografischen Determinanten möglich, dass die Bevölkerung sich dynamischer als prognostiziert entwickeln wird. In diesem Zusammenhang könnte sogar der bisher als gesichert geltende zukünftige Bevölkerungsschwund ausfallen und sich in einen Zuwachs umkehren. Diese Trends zeigen, dass Bevölkerungsvorausberechnungen sowohl von der Öffentlichkeit als auch von politischen Entscheidungsträgern nicht als die einzige absolute Wahrheit verstanden und interpretiert, sondern als Orientierungshilfe für die zukünftige Entwicklung betrachtet werden sollten.

  • 1 Vgl. B. Lux-Henseler: Wie zuverlässig sind unsere Bevölkerungsprognosen?, Stadt Nürnberg, Amt für Stadtforschung und Statistik für Nürnberg und Fürth, Nürnberg 2013.
  • 2 Vgl. P. Deschermeier: Die Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands bis 2030 – ein Methodenvergleich, in: Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 42. Jg., Nr. 2, Köln 2015.
  • 3 Vgl. O. Pötzsch, F. Rößger: Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2015.
  • 4 Vgl. C. Schlömer, H. Bucher, J. Hoymann: Die Raumordnungsprognose 2035 nach dem Zensus. Bevölkerung, private Haushalte und Erwerbspersonen, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Bonn 2015.
  • 5 Vgl. T. Koch, O. Ehrentraut: Wohnen in Deutschland 2045 – Wie entwickeln sich die Wohnungsmärkte in den nächsten 30 Jahren?, Studie der Prognos AG im Auftrag der Allianz, Berlin 2016.
  • 6 Vgl. Statistisches Bundesamt: Nettozuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern im Jahr 2015 bei 1,1 Millionen, Pressemitteilung Nr. 105 vom 21.3.2016, Wiesbaden 2016.
  • 7 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Registrierte Zugänge im EASY-System zwischen Januar und Dezember 2015, Nürnberg 2016.


DOI: 10.1007/s10273-016-1996-y