Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Im Dezember 2022 verkündete die Deutsche Rentenversicherung einen geschätzten Überschuss von 2,1 Mrd. Euro für das vergangene Jahr. Präsidentin Roßbach erklärte diese Bilanz teilweise mit der “Corona-Pandemie, die zu einem Anstieg der Sterblichkeit gerade bei älteren Menschen geführt hat” (Tagesschau, 2022). Das lässt aufhorchen – drängt sich doch der zynische Gedanke auf, dass die Pandemie eine Verjüngungskur für die Rentenkasse war. Wie hoch ist also ein eventuelles Bevölkerungsdefizit unter Rentner:innen durch deren unerwartet frühes Ableben während der Pandemie und ändert sich unter pandemischen Bedingungen grundsätzlich etwas an den Herausforderungen des Rentensystems? Wir schauen auf die demografische Ausgangslage.

Im Jahr 2020 rechnete das Statistische Bundesamt für die jungen Rentner:innen der Geburtskohorte 1955 mit einer Restlebenserwartung von 22,42 Jahren für Frauen und 19,17 Jahren für Männer1 (Statistisches Bundesamt, 2020). Solche Kohortensterbetafeln bilden auch die Grundlage für die Berechnung der durchschnittlichen Verweildauer im Rentensystem. Eine übliche Annahme ist, dass sich der über viele Jahrzehnte beobachtete Trend zu steigender Lebenserwartung kontinuierlich fortsetzen wird. So ging auch das Statistische Bundesamt im September 2020 von weiterhin sinkender Sterblichkeit aus. Stand Februar 2023 wissen wir, dass diese Annahme für Deutschland mit Beginn der COVID-19-Pandemie drei Jahre infolge verletzt wurde.

Mit dem Jahr 2020 kam es europaweit zu einem pandemiebedingten Einbruch der Lebenserwartung, der in dieser geografischen Breite und demografischen Schwere einmalig in der Nachkriegszeit ist (Schöley, 2022). Mit wenigen Ausnahmen gingen die Verluste in der Lebenserwartung von 2020 bis 2021 vor allem auf eine erhöhte Sterblichkeit in der Altersgruppe der über 60-Jährigen zurück, so auch in Deutschland. Es sind also in den Jahren 2020 bis 2021 in Deutschland mehr Menschen im Rentenalter gestorben, als unter der Fortsetzung vorpandemischer Trends zu erwarten gewesen wäre. Die erhöhte Sterblichkeit setzte sich im Jahr 2022 fort (Statistisches Bundesamt, 2023a).

Kommt es über Jahre hinweg zu einer unerwartet hohen Sterblichkeit im Rentenalter, so ist die Gruppe der Rentner:innen kleiner als ursprünglich angenommen. Dieses Bevölkerungsdefizit kann ungefähr beziffert werden, indem die Entwicklung der Zahl über 65-Jähriger vom Januar 2020 bis zum Dezember 2022 unter zwei verschiedenen Szenarien projiziert wird:

  1. unter Annahme weiterhin sinkender Sterblichkeit und steigender Lebenserwartung;
  2. unter Anwendung der tatsächlich beobachteten Sterblichkeit während der Pandemiejahre 2020 bis Ende 2022.

Unter Fortsetzung der Trends steigender Lebenserwartung wären 18.989.000 Personen in der Altersgruppe ab 65 Jahre zum Ende 2022 zu erwarten gewesen. Demgegenüber stehen 18.840.000 Personen über 65 Jahre, wenn die erhöhte Sterblichkeit während der Pandemie berücksichtigt wird. Für Deutschland lässt sich also über die drei Jahre 2020 bis 2022 ein durch Übersterblichkeit bedingtes Bevölkerungsdefizit in der Altersgruppe ab 65 Jahren von rund 149.000 Personen oder 0,8 % feststellen.2 Im europäischen Vergleich ist dies ein geringes Defizit und vergleichbar mit jenem Frankreichs und Finnlands (vgl. Abbildung 1). In Osteuropa sind die Bevölkerungseffekte der Pandemie deutlicher ausgeprägt. Ohne die pandemische Übersterblichkeit wären zum Dezember 2022 in Bulgarien schätzungsweise 3,4 % mehr Menschen in der Altersgruppe ab 65 Jahren noch am Leben – das höchste Defizit eines EU-Landes. Diese Zahlen verdeutlichen einmal mehr, was durch weltweite Studien (Schöley, 2022; Msemburi, 2023) bereits belegt wurde: Es wurde seit 2020 außergewöhnlich viel und verfrüht gestorben, was sich Ende 2022 europaweit in einem Defizit in der Zahl der über 65-Jährigen widerspiegelt. Dieses Defizit änderte aber nicht den grundsätzlichen Trend zur Bevölkerungsalterung. So ist der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands seit 2019 weiter gewachsen. Die Bevölkerungsalterung schreitet auch unter pandemischen Bedingungen rapide voran, da sie maßgeblich durch den jetzigen Altersaufbau vorherbestimmt ist. Wie aber verhält es sich mit der Bevölkerungsalterung, sollte die Lebenserwartung durch eine dauerhaft erhöhte Sterblichkeit stagnieren?

Abbildung 1
Pandemisches Bevölkerungsdefizit Ende 2022 in der Altersgruppe 65+
Pandemisches Bevölkerungsdefizit Ende 2022 in der Altersgruppe 65+

90 % Vorhersageintervalle.

Quelle: eigene Berechnung auf Basis von UN-WPP22 (UN Population Division, 2022), HMD-STMF (HMD Collaborators, 2023) und Eurostat (2023) Daten. Replikationsmaterialien zur Abbildung sind archiviert unter DOI 10.5281/zenodo.7640700.

Was, wenn die Lebenserwartung stagniert?

Die mittelfristigen Effekte der Pandemie auf die Sterblichkeit und Lebenserwartung werden lebhaft diskutiert. Gingen Versicherungsmathematiker in Großbritannien Anfang 2022 noch davon aus, dass es keine langfristigen Effekte der Pandemie auf die Lebenserwartung gibt (Institute and Faculty of Actuaries, 2022), so änderte sich diese Position Anfang 2023 und die Lebenserwartung eines heute 65-Jährigen wurde um sechs Monate reduziert (Institute and Faculty of Actuaries, 2023). Auch das statistische Bundesamt berücksichtigt einen durch die Pandemie verlangsamten Anstieg der Lebenserwartung in ihrer jüngsten Bevölkerungsvorausberechnung (Statistisches Bundesamt, 2023b), wenngleich nur als pessimistisches Szenario.

Von einem Anstieg in der Lebenserwartung ist in Deutschland allerdings seit 2020 nichts mehr zu sehen. Im europäischen Vergleich gehört Deutschland zwar zu den Ländern mit niedriger Übersterblichkeit über die Pandemiejahre, da es gelungen ist, extreme Spitzen während der COVID-19-Wellen zu vermeiden, allerdings stagniert die Lebenserwartung seit 2019 auf relativ hohem Niveau. Wie würde sich der Anteil der über 65-jährigen Bevölkerung in Deutschland entwickeln, wenn die Lebenserwartung mittelfristig stagniert? Die UN Population Division (2022) hat jüngst Berechnungen zu diesem sehr pessimistischen, aber aufschlussreichen Szenario angestellt.

Der Anteil der Bevölkerung ab 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung in Deutschland steigt laut Vereinten Nationen unter dem wahrscheinlichsten Szenario von 22,4 % im Jahr 2022 auf 26,3 % im Jahr 2030 an – das deckt sich mit den Prognosen des Statistischen Bundesamtes. Unter dem Szenario einer auf ein Jahrzehnt stagnierenden Lebenserwartung würde der Bevölkerungsanteil ab 65 Jahren ebenfalls bis zum Jahr 2030 steigen – leicht reduziert auf 25,6%.

Ob der jahrzehntelange Anstieg der Lebenserwartung durch die Pandemie nur unterbrochen, verlangsamt oder gar gebremst wird, ist relevant für unser Verständnis von Fortschritt. Im Detail spielt die zukünftige Entwicklung der Lebensspanne sicher auch eine Rolle im Haushalt der Rentenversicherung. Der Blick auf die Demografie zeigt jedoch, dass das Rentensystem in Deutschland im Jahr 2023 vor derselben Herausforderung steht wie vor der Pandemie: einer mechanisch voranschreitenden Bevölkerungsalterung deren Grundlagen lang genug zurückreichen, dass gegenwärtige Bedingungen diesen Prozess kaum beeinflussen.

  • 1 Restlebenserwartung im Alter von 65 Jahren nach Variante 1.
  • 2 Basis dieser Projektionen sind die Bevölkerungszahlen und Fertilitätsschätzungen für die Jahre 2000 bis 2022 der UN Population Division (2022), die Sterbefallzahlen der Short Term Mortality Fluctuations Database des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung (Jdanov et al., 2021; HMD Collaborators, 2023) und die Nettomigrationsprojektionen über 2020 bis 2022 der Eurostat EUROPOP 2019 Projektion (Eurostat, 2023). Vorpandemische Trends in der Sterblichkeit wurden mit der Lee-Carter Methode über die Jahre 2020 bis 2022 extrapoliert. Die absoluten Bevölkerungszahlen können sich aufgrund der Datenbasis und der getroffenen Annahmen von jenen des Statistischen Bundesamtes unterscheiden. Für den Vergleich der beiden Szenarien sind jedoch nur Annahmen über die Sterberaten relevant.

Literatur

Eurostat (2023), Assumptions for net migration by age, sex and type of projection, Table PROJ_19NANMIG, Online, Februar 2023.

HMD Collaborators (2023), The Short-Term Mortality Fluctuations database, Online, Februar 2023.

Institute and Faculty of Actuaries (2022), CMI Model shows small drop in cohort life expectancy, News and Insights.

Institute and Faculty of Actuaries (2023), CMI Mortality Projections Model 2022 consultation, CMI Working Paper, 168.

Jdanov, D. A., A. A. Galarza, V. M. Shkolnikov, D. Jasilionis, L. Németh, D. A. Leon, C. Boe und M. Barbieri (2021), The short-term mortality fluctuation data series, monitoring mortality shocks across time and space, Scientific Data, 8(235).

Msemburi, W., A. Karlinsky, V. Knutson, S. Aleshin-Guendel, S. Chatterji und J. Wakefield (2023), The WHO estimates of excess mortality associated with the COVID-19 pandemic, Nature, 613, 130-137.

Schöley, J., J. M. Aburto, I. Kashnitsky, M. S. Kniffka, L. Zhang, H. Jaadla, J. B. Dowd und R. Kashyap (2022), Life expectancy changes since COVID-19, Nature Human Behavior, 6(12), 1649-1659.

Statistisches Bundesamt (2020), Kohortensterbetafeln für Deutschland – Ergebnisse aus den Modellrechnungen für Sterbetafeln nach Geburtsjahrgang 1920-2020.

Statistisches Bundesamt (2023a), 1,06 Millionen Sterbefälle im Jahr 2022, Pressemitteilung, 012, 10. Januar.

Statistisches Bundesamt (2023b), 15. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Annahmen und Ergebnisse.

Tagesschau.de (2022), Rentenversicherung macht dickes Plus, tagesschau.de, 28. Dezember.

UN Population Division (2022), 2022 Revision of World Population Prospects, Online, Februar 2023.

Title:Population Aging Under Pandemic Conditions

Abstract:In December 2022, the German Pension Insurance announced an estimated surplus of €2.1 billion for the past year. President Roßbach partly explained this balance was due to the “Corona Pandemic, which has led to an increase in mortality, especially among older people”. Here, the author takes a closer look at the demographics behind that statement and calculates the pandemic-related population deficit among ages 65 and above across Europe. The article also looks at population aging under conditions of continuously reduced life expectancy.

Beitrag als PDF

© Der/die Autor:in 2023

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2023-0038