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Als Reaktion auf die Eskalation des Konflikts zwischen Russland, der Ukraine und der EU verhängten die EU und andere westliche Länder in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 Wirtschaftssanktionen gegen Russland, auf die Russland wiederum mit Gegensanktionen reagierte. Neben der Beschränkung von Finanztransaktionen setzte die EU vor allem Ausfuhrverbote für Waffen und sogenannte Dual-Use-Güter, die für militärische Zwecke verwendet werden können, sowie für Maschinen und Zubehör zur Öl- und Gasförderung in Kraft. Die russischen Gegensanktionen betreffen insbesondere Einfuhrverbote für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel. Das Handelsembargo verstärkte die bereits abwärts gerichtete Tendenz der Lieferungen aus Deutschland nach Russland, die der krisenhaften Gesamtsituation in Russland geschuldet ist. Die Effekte der Sanktionspolitik im Bereich der Realwirtschaft auf die Produktion und Beschäftigung in der deutschen Wirtschaft werden im Folgenden geschätzt.

Deutsche Exporte nach Russland auf Talfahrt

Im Vergleich zu anderen Ländern der EU pflegt Deutschland intensive Handelsbeziehungen zu Russland. 2013 entfielen beispielsweise rund 30% aller Exporte der EU nach Russland auf Deutschland. Die relativ schnelle wirtschaftliche Erholung nach der Finanzkrise brachte die deutschen Exporte nach Russland 2012 auf ein Rekordniveau von fast 37 Mrd. Euro. Der Rückgang 2013 resultiert unter anderem aus der schleppenden Entwicklung der russischen Wirtschaft im Gefolge der Abwertung des Rubel und der sinkenden Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft.1 Nach der Einführung bilateraler Sanktionen Mitte 2014 brachen die deutschen Ausfuhren nach Russland zusätzlich ein (vgl. Abbildung 1). Sie gingen 2014 um 6,5 Mrd. Euro und 2015 um 7,5 Mrd. Euro zurück.

Abbildung 1
Deutsche Exporte weltweit und nach Russland
Index 2000 = 100
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Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.

Betrachtet man die deutschen Exporte weltweit, rangierte Russland 2015 als Absatzmarkt für Deutschland erst an 16. Stelle.2 Im Jahr 2014 stiegen die deutschen Exporte insgesamt um fast 40 Mrd. Euro (+3,4% gegenüber dem Vorjahr) und 2015 nochmals um fast 74 Mrd. Euro (+6,6%). Im gleichen Zeitraum sanken die deutschen Exporte nach Russland, so dass sich der Anteil seit 2013 kontinuierlich verringerte und 2015 bei weniger als 2% lag.

Auch wenn Russland als Absatzmarkt für die deutsche Wirtschaft an Bedeutung verloren hat, zieht der Exportrückgang spürbare Folgen für Produktion und Beschäftigung nach sich. Diese betreffen nicht nur die von den Exporteinbrüchen unmittelbar betroffenen Sektoren wie z.B. die im Russlandgeschäft aktiven Hersteller von Kraftwagen und -teilen,3 sondern auch deren Zulieferer, d.h. die gesamte Wertschöpfungskette. Um die realwirtschaftlichen Verluste umfassend zu schätzen, müssen diese Lieferverflechtungen mit in die Analyse eingehen.

Die Liste der sanktionierten Produkte ist zwar überschaubar, den Akteuren wird aber ein großer Ermessensspielraum gelassen. Die Modellberechnungen beschränken sich deshalb nicht allein auf die ausgewählten von der EU und von Russland sanktionierten einzelnen Gütergruppen. Da außerdem der Absatz der mit den sanktionierten Gütergruppen eng verbundenen nicht-sanktionierten Güter infolge der Sanktionspolitik Einbußen erleidet, werden alle Produktionsbereiche mit ihren jeweiligen Verlusten in die Berechnungen einbezogen. Eine ausschließliche Betrachtung der sanktionierten Sektoren griffe nicht nur aufgrund der Kettenreaktionen zu kurz. Deshalb wird bei der Berechnung der Sanktionseffekte von einem breiteren als dem direkt sanktionierten Güterspektrum ausgegangen.

Analyseansatz: offenes, statisches Leontief-Modell

Um die Verluste aus den realwirtschaftlichen Sanktionen des EU-Russland-Konflikts für die deutsche Volkswirtschaft zu quantifizieren, werden zunächst (a) die Auswirkungen aus dem Exportrückgang nach Russland (2014 bis 2015) insgesamt betrachtet. Er umfasst sanktionsbedingte und nicht-sanktionsbedingte Einbußen. Anschließend werden (b) die auf die Sanktionen zurückzuführenden Exportverluste (2014 bis 2015) analysiert. Dabei gilt es, gestützt auf Erfahrungswerte aus „Nicht-Sanktionszeiten“, die gesamten Exportverluste um die nicht-sanktionsbedingten Verluste statistisch zu bereinigen. Danach gehen (c) die für 2016 zu erwartenden Exporteinbußen in die Berechnungen ein. Für (b) und (c) sind Schätzungen (Simulationen) erforderlich. Als Grundlage für die Schätzung dienen Trendberechnungen auf Basis der quartalsweisen Veränderung der Exporte 2013 und in der 1. Hälfte 2014, d.h. während des Zeitraums vor den Sanktionen. Damit kann der Export für die 2. Hälfte 2014 und 2015, d.h. den Zeitraum mit Sanktionen, unter Ausschluss der Sanktionen abgeleitet werden. Da für 2016 mit einer Aufhebung der Sanktionen kaum zu rechnen ist, wird für die Schätzung der Sanktionseffekte von zwei alternativen Annahmen ausgegangen: 1. die Talsohle der Effekte ist erreicht und es kommt nicht zu zusätzlichen negativen Effekten der Sanktionen; 2. der Exportrückgang setzt sich in gleicher Höhe wie im Vorjahr fort (Exportrückgang 2016 = Exportrückgang 2015 = -7,5 Mrd. Euro). Für die Berechnungen der für 2016 zu erwartenden Effekte wird von einem mittleren Weg ausgegangen (-4,9 Mrd. Euro).

Der auf die Sanktionen zurückzuführende Exportrückgang (b) betrug 353 Mio. Euro (2014) und 4 Mrd. Euro (2015). Nach der Modellrechnung werden die Verluste 2016 (c) 2,6 Mrd. Euro betragen. Um die Effekte dieses „negativen Impulses“ auf die Produktion in Deutschland zu ermitteln, wird ein offenes, statisches Leontief-Modell verwendet (vgl. Kasten 1). Diese Herangehensweise erlaubt sowohl die direkten als auch die indirekten Effekte entlang der Wertschöpfungsketten zu analysieren.4

Kasten 1
Offenes statisches Leontief-Modell

Produktionsoutput xex = (I - A)-1 * yex

Bruttowertschöpfung (BWS) vaex = xex * v

Beschäftigung lex = xex * b

(I-A)-1 = Matrix der totalen Input-Koeffizienten (Leontief-Inverse) xex = Vektor des Produktionsoutputs nach Produktionsbereichen yex= Vektor des Exports nach Güterbereichen vaex = Vektor der exportgebundenen BWS nach Produktionsbereichen v = Vektor der BWS-Anteile am gesamten Produktionswert nach Produktionsbereichen (Wertschöpfungsquote) lex = Vektor der exportgebundenen Beschäftigten nach Produktionsbereichen (in 1000 Personen) b = Vektor des Arbeitsinputs pro 1 Mio. Produktionswert nach Produktionsbereichen

Quelle: Eigene Darstellung.

Realwirtschaftlicher Einfluss der Sanktionspolitik

Die Berechnungen für Deutschland unter Verwendung der aktuellen nationalen Input-Output-Tabelle für 2011 weisen auf einen Verlust der Produktion infolge des gesamten Exportrückgangs nach Russland in den Jahren 2014 und 2015 in Höhe von fast 40 Mrd. Euro bzw. 13,5 Mrd. Euro (sanktionsbedingter Produktionsrückgang) hin. Die abgeleiteten Beschäftigungseffekte entsprechen einem Verlust an Arbeitsplätzen für fast 60 000 Personen. Dies sind ca. 0,14% aller Erwerbstätigen in Deutschland5 (vgl. Tabelle 1). Zudem wirken die Exportverluste der sanktionierten Gütergruppen wegen der intensiveren Produktionsverflechtungen stärker über die Wertschöpfungsketten auf die Gesamtwirtschaft durch als die Exporte nach Russland im Durchschnitt. Der Produktions- bzw. Beschäftigungsmultiplikator ist deutlich größer. Nach dem Mittelweg-Szenario für 2016 kann der Produktionsverlust fast 7,8 Mrd. Euro erreichen und die Einbußen an Bruttowertschöpfung betragen 2,6 Mrd. Euro, was einem BIP-Verlust von ca. 0,09% entspricht. Der kumulierte BIP-Verlust über den gesamten Betrachtungszeitraum (2014 bis 2016) beläuft sich auf 0,23%.

Tabelle 1
Effekte des Exportrückgangs nach Russland mit faktischen Zahlen
2014 bis 2015 % der gesamten Verluste
gesamt sanktionsbedingt
Produktionseffekt (in Mio. Euro)
Direkt (Primärimpuls) -14 058 -4 416
Indirekt -25 923 -9 130
Insgesamt -39 982 -13 546 33,9
Beschäftigungseffekt (1000 Beschäftige)
Direkt (Primärimpuls) -50,9 -13,5
Indirekt -141,4 -45,7
Insgesamt -192,3 -59,2 30,8
Multiplikatoren (Verhältnis Gesamteffekt zu Primärimpuls) 
Produktion 2,84 3,07 107,9
Beschäftigung 3,78 4,37 115,8

Quelle: Eigene Berechnungen.

Tabelle 2
Effekte des simulierten Exportrückgangs nach Russland
2016 2014 bis 2016
gesamt sanktionsbedingt gesamt sanktions­bedingt
Produktionseffekt (in Mio. Euro)
Direkt (Primärimpuls) -4 891 -2 641 -18 949 -7 057
Indirekt -8 736 -5 142 -34 659 -14 272
Insgesamt -13 627 -7 782 -53 609 -21 329
Beschäftigungseffekt (1000 Beschäftige)
Direkt (Primärimpuls) -18,8 -9,5 -69,8 -23,0
Indirekt -47,8 -26,9 -189,2 -72,6
Insgesamt -66,7 -36,4 -259 -95,6
Multiplikatoren (Verhältnis Gesamteffekt zu Primärimpuls) 
Produktion 2,79 2,95 2,83 3,02
Beschäftigung 3,54 3,84 3,71 4,16

Quelle: Eigene Berechnungen.

Sektorale Effekte

Die Berechnungen zeigen, dass die exportorientierten Sektoren mit starken sektoralen Verflechtungen wie beispielsweise die Automobilindustrie, der Maschinenbau sowie die Elektrotechnik- und Elektronikindustrie besonders betroffen sind. So verloren die Hersteller von Kraftwagen und Kraftwagenteilen im ersten Sanktionsjahr 2014 Produktion in Höhe von ca. 949 Mio. Euro, die sonstigen Fahrzeugbauer sogar ca. 1023 Mio. Euro. Im zweiten Sanktionsjahr erlitt der sonstige Fahrzeugbau6 mit 1816,5 Mio. Euro, der Maschinenbau mit 1617 Mio. Euro und die Hersteller von Eisen und Stahl mit 1212 Mio. Euro die stärksten Verluste. Im dritten Sanktionsjahr verlieren Hersteller von Kraftwagen und Kraftwagenteilen 2046 Mio. Euro an Output, die Maschinenbauer etwas über 1700 Mio. Euro und die Hersteller von chemischen Erzeugnissen fast 1053 Mio. Euro. Der Nahrungsmittelsektor weist zwar einen erheblichen Exportrückgang in Höhe von über 30% im Jahr 2014 auf, der Produktionsverlust kann aber im Vergleich zu den oben genannten Sektoren als moderat eingestuft werden.

Fazit: nachhaltiges Schadenspotenzial durch Sanktionen

Der wirtschaftliche Schaden der realwirtschaftlichen Sanktionen ist weitaus größer als das allein die Exportrückgänge Deutschlands nach Russland ausdrücken. Die indirekten Effekte auf Produktion und Beschäftigung sind durchweg höher als die direkten Effekte. Dabei sind die Multiplikatoren der auf die Sanktionen zurückzuführenden Effekte deutlich größer als im Durchschnitt. Das hängt damit zusammen, dass stärker verflochtene Sektoren (z.B. Automobilindustrie, Maschinenbau, Metallbranche) von der Sanktionspolitik in höherem Maße betroffen sind.

Mit der Dauer der Sanktionspolitik steigen die Belastungen. So konnten 2014 8,7% des Output-Verlusts infolge des Exportrückgangs nach Russland auf die Sanktionen zurückgeführt werden, während der Anteil 2015 bereits 56% erreichte. 2016 kann dieser Anteil 50% überschreiten. Auch wenn einige Annahmen getroffen werden mussten, um solche Berechnungen zu ermöglichen, und die Ergebnisse in der Realität in der einen oder anderen Richtung abweichen können, unterstreichen sie doch den Schaden für die deutsche Wirtschaft. Außerdem bergen anhaltende Sanktionen das Risiko, Märkte auf lange Zeit an die Konkurrenz zu verlieren und auch die nicht-sanktionierten Bereiche sowie die Energieversorgungs- und die Direktinvestitionsbeziehungen mit Russland zu belasten.

  • 1 Vgl. z.B. G. Kolev: Strukturelle Schwäche der russischen Wirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, 96. Jg. (2016), H. 5, S. 357-363.
  • 2 Vgl. Statistisches Bundesamt: Außenhandel. Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2016, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Aussenhandel/Handelspartner/Tabellen/RangfolgeHandelspartner.pdf?__blob=publicationFile (14.6.2016).
  • 3 Ihr Anteil an den Exporten nach Russland verringerte sich 2015 um etwas mehr als 4 Prozentpunkte gegenüber 2013.
  • 4 Analysen weisen darauf hin, dass die indirekten Effekte stärker sein können als die direkten, vgl. z.B. E. Christen, O. Fritz, G. Streicher: Effects of the EU-Russia Economic Sanctions on Value Added and Employment in the European Union and Switzerland, Austrian Institute of Economic Research, Wien 2015.
  • 5 Die Erwerbstätigenzahl in Deutschland (Inlandskonzept) betrug im Dezember 2015 43,32 Mio., vgl. Statistisches Bundesamt: Erwerbstätigenrechnung, Wiesbaden 2016, https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Erwerbstaetigkeit.html (14.6.2016).
  • 6 Zum „Sonstigen Fahrzeugbau“ gehören z.B. Güter, die unmittelbar sanktioniert wurden: Schwimmende, tauchende Bohr-/Förderplattformen und Feuerlöschschiffe, Schwimmkräne, Seeschiffe, vgl. Verordnung (EU), Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren.


DOI: 10.1007/s10273-016-2008-y