Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Politikberatung ist in einer komplexen Umwelt nicht trivial. Versucht man mit theoretischen Modellen Politikfragen zu beantworten, sind die Modellvoraussetzungen entscheidend, aber oft nicht mit der Realität vereinbar. Der Sachverständigenrat setzt auf eine evidenzbasierte Politikberatung. Experimentelle Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik können eine gute Beratung sinnvoll ergänzen.

Politikberatung gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Wissenschaften, die sich als empirische Sozialwissenschaften mit zentralen Fragen moderner Gesellschaften befassen. Die Bedeutung der Politikberatung resultiert vor allem aus der Tatsache, dass durch die ökonomische, soziale und technologische Entwicklung der letzten 100 Jahre das gesellschaftliche Zusammenleben inzwischen eine Komplexität erreicht hat, die es immer schwieriger macht, Wirkungen politischer Maßnahmen ab- und einzuschätzen. Die zunehmende Internationalisierung von Handel, Politik und technologischer Entwicklung tut ihr Übriges, um die Zusammenhänge, die Politiker beachten müssten, weiter zu komplizieren. Ohne sachkundige und wissenschaftlich solide fundierte Beratung lassen sich die meisten politischen Entscheidungen heute kaum noch treffen. Das gilt jedenfalls dann, wenn solche Entscheidungen so getroffen werden sollen, dass sie in bestmöglicher Weise dem Gemeinwohl dienen – was als politisches Ziel im Folgenden unterstellt wird.

Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die ökonomischen Fragen, vor die sich die Politik heutzutage gestellt sieht. Wie soll der europäische Bankensektor reguliert werden? Welche Geldpolitik ist für den Euroraum die richtige? Welche Instrumente sollen in welcher Dosierung für die Klimapolitik eingesetzt werden und welche ökonomischen Konsequenzen ergeben sich aus diesem Instrumenteneinsatz? Ist es notwendig, die Einkommensverteilung über das Maß, das bereits erreicht ist, hinaus zu verändern, gleichmäßiger zu gestalten? Wie kann die Politik bestmöglich auf den demografischen Wandel reagieren und das Rentensystem und das Gesundheitswesen entsprechend reformieren? Das sind nur einige der Fragen, mit denen sich die Politik gegenwärtig befassen muss, und keine einzige davon kann „einfach“ beantwortet werden. Bedenkt man weiterhin, dass Politiker – insbesondere die Entscheidungsträger – keine Spezialisten sein können, weil sie eben universell zuständig sind, dürfte klar sein, dass politische Gestaltung ohne fundierte Beratung durch wissenschaftliche Spezialisten an Verantwortungslosigkeit grenzen würde.

Wie aber soll diese Beratung organisiert werden? Wie vollzieht sie sich und welche Voraussetzungen müssen auf der wissenschaftlichen Seite dafür erfüllt werden? Fragen dieser Art werden in der letzten Zeit verstärkt diskutiert1, und man kann dies mit Recht als Reaktion auf verschiedene dynamische Entwicklungen begreifen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen abgespielt haben. Eine dieser Entwicklungen ist Gegenstand dieser Arbeit. Die methodischen Grundlagen, auf denen die ökonomische Politikberatung stattfindet, haben sich in Deutschland in den letzten zwei bis drei Dekaden deutlich verändert und es stellt sich die Frage, ob dieser Prozess als abgeschlossen gelten kann oder ob er noch weitergeht. Gemeint ist die Entwicklung von einer primär auf Modellanalysen beruhenden Politikberatung hin zu einer evidenzbasierten Politikberatung. Eine eher allgemeine Bemerkung zur Methodik sei vorangestellt.

Kausale Zusammenhänge und empirische Relevanz

Um Politiker beraten zu können, bedarf es letztlich der Möglichkeit, auf gesicherte Erkenntnis über kausale Zusammenhänge zurückgreifen zu können. Das Aufdecken von Kausalzusammenhängen ist gewissermaßen die Königsdisziplin der empirischen Wissenschaften, die sich mit realen gesellschaftlichen Phänomenen auseinandersetzen. Es ist vor allem die Verbindung von empirischer Relevanz und Kausalität, die sich dabei als besonders problematisch herausstellt. Um zu verdeutlichen, warum der Rückgriff auf Kausalzusammenhänge für die Politikberatung im Grunde unverzichtbar ist, sei ein aktuelles Beispiel bemüht. Die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns von 8,50 Euro hat im Vorfeld zu intensiven Diskussionen geführt, die bis heute, anderthalb Jahre nach der Einführung, nicht abgerissen sind. Auch in der Zukunft wird diese Diskussion weitergehen und sie wird sich um die zentrale Frage drehen, welche Wirkungen von einem Mindestlohn ausgehen. Das ist aber nichts anderes als die Frage nach möglichen Kausalitäten. Ist der Mindestlohn kausal dafür verantwortlich, dass die Beschäftigung abnimmt oder dass sie langsamer steigt, als es ohne Mindestlohn möglich gewesen wäre? Geht vom Mindestlohn kausal eine Nachfragebelebung aus, die sich kurzfristig positiv auf die Konjunktur auswirkt? Fragen dieser Art müssen beantwortet werden, wenn man wissen will, welche gesellschaftlichen Wirkungen der Mindestlohn insgesamt hat. Nur, wenn man die Antworten kennt, nur, wenn die zugrundeliegenden Kausalitäten wirklich klar sind, kann man eine fundierte Entscheidung darüber treffen, ob die Einführung eines Mindestlohns im Interesse des Gemeinwohls liegt oder eher nicht.

In der ökonomischen Wissenschaft hat man schon vor mehr als 100 Jahren damit begonnen, die Frage nach den Kausalitäten auf eine methodisch radikale Weise zu beantworten. Die mathematische Wirtschaftstheorie bedient sich dazu axiomatischer Modelle, d.h., sie versucht erst gar nicht, die komplexe Wirklichkeit mit ihren vielen Interdependenzen direkt zu erfassen, sondern baut sich ein Modell, das durch Modellvoraussetzungen eine ganz eigene Welt schafft, die so konstruiert ist, dass sich in ihr zweifelsfrei Kausalitäten nachweisen lassen. Sie lassen sich in mathematischen Modellwelten nicht nur nachweisen, sie sind in einem mathematischen Sinne exakt beweisbar. Auf das angesprochene Beispiel des Mindestlohnes angewendet, lässt sich mit dieser Methode sehr genau voraussagen, welche qualitative Wirkung ein Mindestlohn hat. Natürlich kommt es dabei darauf an, wie das Modell konstruiert wird. In einem neoklassischen Arbeitsmarktmodell, in dem die Arbeitsnachfrage mit steigendem Lohn sinkt und Arbeitsanbieter und -nachfrager Preisnehmer sind, ist die Wirkung eindeutig: Ausgehend von einem Arbeitsmarktgleichgewicht verursacht die Einführung eines Mindestlohns unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Wird dagegen die Annahme benutzt, dass die Arbeitsnachfrager über Marktmacht verfügen, die Arbeitsanbieter aber nicht, erhält man ein Monopsonmodell, das die genau gegenteilige Wirkung eines Mindestlohnes kausal nachweist. Da im Monopson die Löhne geringer ausfallen als das Grenzprodukt der Arbeit und der Mindestlohn diese Differenz schließt, kommt es zu einem Anstieg der Beschäftigung.

Beide kausalen Effekte eines Mindestlohnes lassen sich zweifelsfrei in den jeweiligen Modellen nachweisen – was mit Sicherheit eine wichtige Errungenschaft der modelltheoretischen Methode ist. Allerdings wird damit das Entscheidungsproblem des Politikers nicht kleiner, denn mit beiden potenziellen Kausalitäten konfrontiert, ist ihm nach wie vor unklar, ob ein Mindestlohn sinnvoll ist oder nicht. Auch der ökonomische Politikberater ist angesichts der konkurrierenden Modelle nicht in der Lage, aus einer sicheren Position heraus Beratung anzubieten. In der Vergangenheit hat dies oft genug dazu geführt, dass sich Ökonomen in die Rolle des „two armed bandits“ gedrängt gesehen haben, in der ihnen nur die Möglichkeit blieb, „einerseits, andererseits“ zu argumentieren. Das hat ja angeblich zu dem berühmten Ausspruch des amerikanischen Präsidenten Hoover geführt, dass er sich einen einarmigen Ökonomen als Berater wünsche, der nicht mehr sagen kann „on the one hand, … but on the other hand“.

Auf den ersten Blick ist das Problem sehr einfach zu lösen. Die Frage, welches der beiden Modelle die Wirklichkeit besser beschreibt, ist ausschließlich empirisch zu klären. Es gilt also, die Wirklichkeit dahingehend zu untersuchen, ob Arbeitsmärkte, die vom Mindestlohn betroffen sind, eher wie ein Monopson funktionieren oder eher wie ein neoklassischer Arbeitsmarkt. Leider ist es nicht so einfach, denn diese Lösung würde voraussetzen, dass zweifelsfrei geklärt ist, dass es ausschließlich die unterschiedlichen Modellannahmen sind, die die Frage nach den kausalen Effekten eines Mindestlohnes entscheiden. Das würde wiederum bedeuten, dass andere Wirkungszusammenhänge, als die in den beiden Modellen abgebildeten, ausgeschlossen werden können. Das ist aber mit der modelltheoretischen Methode kaum zu leisten.

Evidenzbasierte Politikberatung

Die Hinwendung zu einer evidenzbasierten Politikberatung ist als Reaktion darauf zu verstehen, dass der bloße modelltheoretische Nachweis von Kausalitäten als nicht ausreichend für die Beratung von Politik angesehen werden muss. Rein theoretisch gewonnene Evidenz für einen Kausalzusammenhang ist zwar hilfreich, aber sie ist nicht hinreichend für einen wirtschaftspolitischen Rat. Dafür, so die Überzeugung, bedarf es des empirischen Nachweises, dass diese Kausalität auch in der Realität am Werke ist. Im heutigen Verständnis geht die Rolle der Empirie sogar noch weiter.2 Evidenzbasiert darf sich eine politische Empfehlung nur dann nennen, wenn der rein empirische Kausalitätsnachweis gelingt. Ließe sich beispielsweise empirisch zeigen, dass auf den relevanten Arbeitsmärkten die Nachfrager nicht über ausgeprägte Marktmacht verfügen, also eher die Bedingungen eines neoklassischen Arbeitsmarktes vorliegen, wäre damit ja noch nicht der Nachweis erbracht, dass damit auch die im neoklassischen Modell behauptete Kausalität in der Realität vorliegt, weil nicht auszuschließen ist, dass andere, im Modell nicht berücksichtigte Einflüsse existieren, die genau das verhindern.

Damit scheint der Königsweg wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung klar zu sein: Er besteht darin, Beratung auf empirisch nachgewiesene Kausalzusammenhänge zurückzuführen, die sich im Idealfall mit theoretischen Überlegungen unterfüttern lassen, die eine Intuition davon vermitteln, warum es zu der nachgewiesenen Kausalität kommt. Das Problem dabei ist, dass es sehr schwierig sein kann, rein empirische Kausalnachweise zu führen und in bestimmten, wichtigen Fällen sind sie per se ausgeschlossen. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn es um die Beurteilung von neu zu errichtenden Institutionen geht. Wenn erstmals eine europäische Bankenaufsicht eingerichtet werden soll, dann kann es dazu keine empirische Evidenz geben, auf der man Beratung begründen kann. Das Gleiche gilt für viele andere institutionelle Arrangements, die neu errichtet werden und deren zukünftige Wirkung kausal abzuschätzen ist.

„Difference in difference“-Methode

Aber selbst dann, wenn die Politikmaßnahme in der Vergangenheit liegt, ist die Evaluation ihrer Wirkungen mitunter schwierig. Auch hier liefert der Mindestlohn ein gutes Beispiel. Der Sachverständigenrat, der sich einer evidenzbasierten Politikberatung sehr stark verpflichtet fühlt, hat in seinem jüngsten Gutachten auch zum Mindestlohn Stellung bezogen und dabei sehr klar gemacht, dass es gegenwärtig (ein Jahr nach Einführung) und auch zukünftig schwierig ist, genaue Auskunft darüber zu geben, welche kausalen Effekte der Mindestlohn hat.3 Der Rat verweist darauf, dass die wichtigste Methode zur empirischen Identifikation von Kausaleffekten die „difference in difference“-Methode ist:4 Man betrachtet zwei Gruppen. In der ersten wird die Politikmaßnahme realisiert, in der zweiten nicht, das ist der einzige Unterschied zwischen den Gruppen. Dann beobachtet man in beiden Gruppen die Veränderung, die sich nach Einführung der Maßnahme ergeben und vergleicht die Differenzen miteinander. Die Änderungen, die sich in der ersten Gruppe einstellen, aber in der Kontrollgruppe ausbleiben, lassen sich kausal auf die politische Maßnahme zurückführen. Das Problem dabei ist, dass sich die notwendige Kontrollgruppe nur selten findet. Die empirische Methode der ersten Wahl ist deshalb bei Weitem nicht immer anwendbar. Eine Lösung sind kontrollierte Feldexperimente, die aktiv die beiden Gruppen erzeugen und eine vollständige Randomisierung der Zuteilung zu den Gruppen ermöglichen. Aber solche Experimente sind sehr aufwendig und werden bisher vergleichsweise selten eingesetzt.

Der Stand der Dinge lässt sich dadurch beschreiben, dass die Notwendigkeit einer empirisch basierten Politikberatung erkannt wurde, man auch versucht, dieser Rechnung zu tragen, aber dabei immer wieder auf Grenzen stößt, die sich zunehmend als sehr störend erweisen.5 Das ist der Hintergrund, vor dem sich die Frage stellt, ob die Entwicklung, die bisher zur evidenzbasierten Politik­beratung geführt hat, bereits abgeschlossen ist, oder ob sie noch weitergehen wird bzw. muss. Werden neben der theoretischen und den bisher verwendeten empirischen Quellen für wissenschaftliche Evidenz noch weitere benötigt? Muss das Methodenspektrum, das bei der Politikberatung zum Einsatz kommt, erweitert werden?

In Deutschland gibt es seit einigen Jahren eine Diskussion darüber, ob die Volkswirtschaftslehre nicht grundsätzlich darüber nachdenken müsste, „pluraler“ zu werden. Nicht zuletzt aus Kreisen der Studierenden ist die Forderung zu hören, neue Fragen mit anderen Methoden zu behandeln, in deren Mittelpunkt die „kritische Reflexion“ stehen solle. Dieser Forderung darf die Profession auf keinen Fall nachgeben. Eine kritische Reflexion, die sich nicht auf der Grundlage empirischer Befunde oder axiomatischer Modelle vollzieht, wird der elementaren Forderung nicht gerecht, dass wissenschaftliche Aussagen grundsätzlich intersubjektiv überprüfbare sein müssen. Die mitunter selbstreflexive, nicht empirische Methodik, die in Teilen der Geisteswissenschaften verwendet wird, verbietet sich deshalb für empirische Wissenschaften, wie sie die Ökonomik nun einmal ist.

Normative und spieltheoretische Modelle

Es wäre auch keine gute Idee zu schlussfolgern, dass die offensichtlichen Probleme, die sich bei empirischen Kausalitätsnachweisen stellen, dazu Anlass geben, sich wieder stärker auf die normative Theorie und vor allem spieltheoretische Modelle zu besinnen. So sinnvoll und notwendig diese Modelle auch sind, sie können nicht mehr als Idealtypen liefern, die wir als Benchmark und Orientierung benutzen können, die aber allein keine gute Grundlage für Beratung liefern.

Ein einfaches Beispiel mag diesen Punkt verdeutlichen. Stellen wir uns eine Verhandlungssituation vor, die mit dem berühmten Ultimatumspiel abgebildet wird.6 Zwei Akteure verhandeln über einen festen Surplus in Höhe von X. Die Verhandlung läuft nach folgender Regel ab: Einer der Akteure (der „Proposer“) macht einen Vorschlag, wie X aufgeteilt werden soll, der andere (der „Receiver“) kann diesen annehmen oder ablehnen. Letzteres hat zur Folge, dass der Surplus nicht generiert wird und beide bekommen eine Auszahlung von Null. Die spieltheoretische Lösung dieses Spiels ist simpel und eindeutig. Für den Receiver ist es die beste Antwort, jedes Angebot anzunehmen, das ihm eine Auszahlung liefert, die größer als Null ist. Die beste Antwort des Proposers darauf ist es, den kleinstmöglichen Anteil dem Receiver anzubieten und den größtmöglichen Rest für sich zu behalten.

Verhandlungssituationen dieser Art sind in der Realität gar nicht so selten anzutreffen. Welchen Rat soll der ökonomische Berater einem Politiker geben, der sich in der Rolle des Proposers befindet? Soll er auf das oben beschriebene teilspielperfekte Gleichgewicht verweisen und ihm raten, ein Angebot zu machen, dass ihn maximal begünstigt und den Verhandlungspartner mit dem Minimum abspeist? Das wäre fahrlässig, denn es würde mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass die Verhandlung scheitert. Dass dies so kommen wird, weiß man aus der experimentellen Forschung zum Ultimatumspiel.7 Im Experiment beobachtet man das Gleichgewicht so gut wie nie, dafür sieht man sehr häufig, dass auch vergleichsweise hohe Angebote abgelehnt werden, wenn sie als unfair empfunden werden. Ganz ähnlich würde es sich verhalten, wenn ein Entscheider die Spieltheorie danach befragt, wie er sich in einer Auktion verhalten soll. Auch hier ist keineswegs sicher, dass sich reale Bieter so verhalten, wie es in der Spieltheorie unterstellt wird.

Experimentelle Wirtschaftsforschung und Verhaltensökonomik: sinnvolle Ergänzung

Diese Überlegungen verweisen darauf, woher zusätzliche Evidenz kommen könnte, die das methodische Rüstzeug der ökonomischen Politikberatung geeignet ergänzen kann. Die experimentelle Wirtschaftsforschung und die Verhaltensökonomik sind durchaus geeignet, diese Ergänzung zu liefern. Gegen eine stärkere Berücksichtigung experimenteller Ergebnisse wird mitunter vorgebracht, dass die externe Validität ihrer Ergebnisse nicht gesichert sei. Es ist in der Tat fraglich, ob Beobachtungen, die man im Labor macht, ohne weiteres auf die Realität übertragen werden können. Zwar gilt das Gleiche auch für normative Modelle, aber das löst das Problem nicht. Es wäre allerdings sehr fragwürdig, wenn man mit dem pauschalen Verweis auf fehlende externe Validität experimentell gut belegte stilisierte Fakten menschlichen Verhaltens einfach außer Acht lassen würde. Viel besser wäre es, dort, wo experimentelle Ergebnisse für die Politikberatung relevant sein könnten, deren externe Validität einer genaueren Überprüfung zu unterziehen. Gute Beispiele dafür sind Experimente, die die Blasenbildung auf Kapitalmärkten untersuchen, oder die experimentelle Forschung zur Bereitstellung öffentlicher Güter und zur Organisation kollektiven Handelns. Mitunter zeigt sich auch, dass die externe Validität von Laborexperimenten deutlich höher ist, als man gemeinhin annimmt. Erst kürzlich haben Herbst und Mas gezeigt, dass Arbeitsmarktexperimente nicht nur qualitativ richtige Voraussagen machen, sondern sogar in einem engeren Sinne quantitativ bestätigt werden konnten, weil sie Elastizitäten punktgenau vorausgesagt haben.8

Weniger problematisch als die reine Laborökonomik ist die Verhaltensökonomik, denn viele ihrer Befunde lassen sich auch im Feld nachweisen, so dass sich die Frage nach der externen Validität bei weitem nicht in der Schärfe stellt, wie dies bei reinen Laborbefunden der Fall ist.9 Die Verhaltensökonomik verweist darauf, dass Menschen systematische Fehler begehen, die zu persistenten Abweichungen von rationalen Lösungen führen. Natürlich gilt dies nicht universell, sondern bezieht sich auf bestimmte, identifizierbare Situationen und Typen von Entscheidungen. Beispielsweise deutet die bisher vorliegende empirische und experimentelle Evidenz darauf hin, dass das Rationalmodell, das in der Neoklassik zum Einsatz kommt, das Verhalten auf Märkten sehr gut beschreibt. Es zeigt sich ebenso, dass die Grundannahme des Rationalmodells, dass Menschen Anreizen folgen, in vielen wichtigen Kontexten bestätigt werden kann. Aber die verhaltensökonomische Forschung der letzten 30 Jahre hat eben auch gezeigt, dass Menschen systematischen Verzerrungen unterliegen und dass sie Heuristiken benutzen, um komplexe Entscheidungen einfach zu handhaben. Beides führt zu Fehlern.

Eine für die Politikberatung sehr wichtige Verzerrung besteht darin, dass Menschen zu zeitinkonsistentem Verhalten neigen.10 Ebenfalls bedeutsam ist die experimentell wie empirisch sehr gut abgesicherte Beobachtung, dass Menschen eine ausgeprägte Verlustaversion aufweisen, d.h. sie bewerten Verluste stärker als gleich hohe Gewinne. Ein einfaches Beispiel macht deutlich, wie sich die Existenz von Verlustaversion in konkreten Fällen auswirken kann. Kreditkartenunternehmen in den USA berechnen eine Gebühr für ihre Dienste. Diese wird aber nicht als Preisaufschlag dem Kunden präsentiert, sondern als Rabatt bei Barzahlung. Ersteres wäre eine Verlustsituation, letzteres ist eine Gewinnsituation. Da ein Verlust stärker wahrgenommen wird als ein Gewinn, entschied man sich für den Barzahlungsrabatt.

Beides, Verlustaversion und zeitinkonsistentes Verhalten, spielt im Kontext einer politischen Debatte eine Rolle, die sich sehr gut eignet, um die potenzielle Rolle der Verhaltensökonomik in der Politikberatung zu beleuchten. Gemeint ist die gegenwärtig geführte Diskussion um die zukünftige Gestaltung des Rentensystems. Seit langem ist bekannt, dass der bevorstehende demografische Wandel in den Jahren zwischen 2020 und 2040 die umlagefinanzierte gesetzliche Rentenversicherung überfordern wird. Die Politik hat darauf mit einer Absenkung des Rentenniveaus reagiert, um den Anstieg der Rentenbeiträge zu begrenzen. Als Ausgleich wurden mit der Riester-Rente und der Förderung der Betriebsrente zwei weitere Säulen in das System eingezogen. Leider hat insbesondere die private Altersvorsorge die Erwartungen nicht erfüllt. Zu wenige Riester-Verträge bedeuten, dass der geplante Ausgleich der reduzierten Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung nicht im notwendigen Umfang funktioniert. Die Verhaltensökonomik kann erklären, warum – trotz staatlicher Förderung – die Nachfrage nach privater Vorsorge zu schwach ausfällt. Zwar dürfte die intransparente Ausgestaltung der Verträge durch die Versicherungswirtschaft eine gewisse Rolle spielen, aber die Erfahrungen aus anderen Ländern deuten darauf hin, dass Verlustaversion und Zeitinkonsistenz durchaus ihren Anteil haben dürften. Die empirische verhaltensökonomische Forschung hat Wege aufgezeigt, wie das Problem behoben werden kann. Beispielsweise bietet sich ein Übergang von einem Opt-in- zu einem Opt-out-Modell an: Treffen Arbeitnehmer keine andere Entscheidung, sind sie in einem privaten Versicherungsprogramm, aus dem sie allerdings ohne jedes Problem jederzeit austreten können. Diese Änderung des Defaults erweist sich als ausgesprochen wirksames Mittel, um den Anteil derer zu erhöhen, die eine private Altersvorsorge betreiben.11

Das Beispiel der Rentenpolitik zeigt, dass verhaltensökonomische Evidenz – die experimentelle Evidenz in aller Regel einschließt – eine bedeutende Rolle in der Politikberatung und der Politikgestaltung spielen kann. Gegenwärtig existieren dagegen sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft gewisse Vorbehalte. Es wird vor allem darüber gestritten, ob der „sanfte Paternalismus“, der mit dem Einsatz verhaltensökonomischer Instrumente (wie der Änderung des Defaults) verbunden ist, gerechtfertigt werden kann oder nicht. Unabhängig davon, wie diese Debatte weitergeführt wird, dürfte es unumgänglich sein, in Zukunft der neuen Evidenz, die aus den Laboren und von den Feldversuchen der Verhaltensökonomen kommt, die Tore zu öffnen und sie in den Politikberatungsprozess einzubeziehen. Eine solche Erweiterung des Methodenportfolios ist angesichts der Grenzen, an die die „konventionellen“ Methoden stoßen, dringend geboten.

  • 1 Vgl. z.B. K. Schneider, J. Weimann: Den Diebstahl des Wohlstands verhindern. Ökonomische Politikberatung in Deutschland. Ein Portrait, Heidelberg 2016; J. Weimann: Die Rolle von Verhaltensökonomik und experimenteller Forschung in Wirtschaftswissenschaft und Politikberatung, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 16. Jg. (2015), Nr. 3, S. 231-252.
  • 2 Vgl. z.B. C. Schmidt: Wirkungstreffer erzielen – Die Rolle der evidenzbasierten Politikberatung in einer aufgeklärten Gesellschaft, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 15. Jg. (2014), Nr. 3, S. 219-233.
  • 3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2015/16: Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt, Textziffer 533 f., S. 249 ff.
  • 4 Ebenda, S. 252.
  • 5 Ein weiteres Beispiel aus dem letzten SVR-Gutachten, bei dem sich empirisch kaum etwas ausrichten lässt, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wirtschaftswachstum. Vgl. ebenda, S. 238.
  • 6 W. Güth, R. Schmittberger, B. Schwarze: An experimental analysis of ultimatum bargaining, in: Journal of Economic Behavior & Organization, 3. Jg. (1982), Nr. 4, S. 367-388.
  • 7 Einen frühen Überblick über die Resultate dieser Forschung findet sich bei A. E. Roth: Introduction, in: J. Kagel, A. E. Roth (Hrsg.): Handbook of Experimental Economics, Princeton 1995.
  • 8 D. Herbst, A. Mas: Peer effects on worker output in the laboratory generalize to the field, in: Science, 350. Jg. (2015), Nr. 6260, S. 545-549. Zu diesem Beitrag vgl. auch E. Fehr, G. Charness: From the Lab to the real world, in: Science, 350. Jg. (2015), Nr. 6260, S. 512-513.
  • 9 Einen guten Überblick liefert S. DellaVigna: Psychology and Economics: Evidence from the Field, in: Journal of Economic Literature,
    47. Jg. (2009), Nr. 2, S. 315-372. Vgl. auch R. Chetty: Behavioral Economics and Public Policy: A Pragmatic Perspective, Discussion Paper, Harvard University and NBER, 2015; sowie J. Weimann, a.a.O.
  • 10 T. O’Donoghue, M. Rabin: Doing It Now or Later, in: American Economic Review, 89. Jg. (1999), Nr. 1, S. 103-24 liefern dazu ein Modell; und S. DellaVigna, U. Malmendier: Paying Not to Go to the Gym, in: American Economic Review, 96. Jg. (2006), Nr. 3, S. 694-719 zeigen, dass sich dieses Verhalten auch im Feld nachweisen lässt.
  • 11 Vgl. zu Details und zu der verhaltensökonomischen Literatur dazu: A. Knabe, J. Weimann: Ein sanft paternalistischer Vorschlag zur Lösung des Rentenproblems, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 10, S. 701-709. Ein fast deckungsgleicher Vorschlag aus dem politischen Raum wird unter der Bezeichnung „Deutschlandrente“ zurzeit diskutiert.

Title:Decision Theory Instruments for Political Consulting?

Abstract:The work of political advisers becomes more and more important for the political decision-makers in a world of growing complexity. In the past, economic advice was primarily based on theoretical considerations. In the last two decades this has changed and now there is a dominance of evidence-based policy advice. In this paper it is argued that it is necessary not only to rely on conventional empirical evidence but also to take experimental and behavioral evidence into account.

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-016-2025-x