Die Hartz-IV-Reformen werden immer wieder als deutsches Erfolgsmodell zur Senkung der Arbeitslosigkeit angeführt. Ist es daher sinnvoll, anderen Ländern der Währungsunion zu empfehlen, ähnliche Reformen durchzuführen? Peter Bofinger verneint das entschieden, da der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit Mitte der 2000er Jahre in Deutschland weniger auf die Hartz-Reformen, sondern vielmehr auf die weitgehend überwundene Transformation nach der Wiedervereinigung zurückzuführen sei.
Die unter der Regierung von Gerhard Schröder vorgenommenen Reformen gelten weithin als Ursache für die gute wirtschaftliche Verfassung der deutschen Wirtschaft und insbesondere der deutlichen Verbesserung der Lage am Arbeitsmarkt. Dementsprechend wird die Lösung für die wirtschaftlichen Probleme in den anderen Ländern des Euroraums darin gesehen, dem deutschen Vorbild folgend für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die wirtschaftliche Stärke Deutschlands tatsächlich auf die Agenda 2010 und dabei insbesondere auf die Hartz-Reformen zurückzuführen ist. Deshalb sollen im Folgenden die Effekte der durch Hartz IV vorgenommenen Absenkung der Leistungen für Langzeitarbeitslose näher analysiert werden, einer Maßnahme, die als Herzstück der Agenda 2010 angesehen wird. Zugleich soll die Rolle der deutschen Lohnmoderation diskutiert werden, die in einen engen Zusammenhang mit Hartz IV gestellt wird. Dabei wird das grundsätzliche Problem deutlich, dass Strategien, die auf Lohnsenkung setzen, im Kontext der Währungsunion auf ein Nullsummenspiel hinauslaufen. Je konsequenter die Lohnmoderation in anderen Mitgliedstaaten verfolgt wird, desto mehr verschlechtert sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
„Der kranke Mann Europas“: eine gravierende Fehldiagnose
Im Diskurs von Ökonomen und Politikern wird heute das Narrativ von Deutschland als „krankem Mann Europas“ zu Beginn der 2000er Jahre gepflegt, der schließlich durch die Reformen Gerhard Schröders geradezu eine Wunderheilung erfahren habe. Dieser Befund, der vor allem von Hans-Werner Sinn in seinem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ propagiert wurde, war jedoch schlichtweg falsch. Das zeigt sich schon an der von Sinn noch in der 2005 publizierten Taschenbuchausgabe seines Buches propagierten Therapie einer Lohnsenkung für ganz Deutschland von 10% bis 15%, wobei für die gering Qualifizierten „sicherlich eine Lohnsenkung um ein Drittel benötigt würde“1.
Ich habe dem Bild des „kranken Manns“ bereits 2004 in meinem Buch „Wir sind besser als wir glauben“ mit einer Fülle von Fakten widersprochen.2 Insbesondere habe ich darauf verwiesen, dass viele der damaligen Probleme auf die Wirtschaftstransformation in Ostdeutschland zurückzuführen seien. Bei der Anfang der 2000er Jahre transformationsbedingt noch immer sehr hohen Unterbeschäftigung in Ostdeutschland war es nicht überraschend, dass die Arbeitslosenzahlen auch für Deutschland insgesamt sehr ungünstig ausfielen und dass daraus erhebliche Finanzierungsschwierigkeiten für die sozialen Sicherungssysteme resultierten.
Bei der Diagnose des „kranken Mannes“ war man sich damals offensichtlich nicht mehr hinreichend der großen Herausforderungen bewusst gewesen, die sich für die westdeutsche Wirtschaft mit der deutschen Einheit gestellt hatten. Es war in erster Linie Ausdruck einer enormen Leistungsstärke Westdeutschlands, dass es mit seinen 61 Mio. Einwohnern den 16 Mio. DDR-Bürgern aus dem Stand ein sehr hohes Niveau an Sozialleistungen und eine rasche Modernisierung der gesamten Infrastruktur bieten konnte. Zudem waren von 1989 bis 2006 auch noch 2,8 Mio. Spätaussiedler nach Deutschland gekommen, die mit einer Arbeitslosenrate von rund 30% eine außergewöhnlich hohe Unterbeschäftigung aufwiesen. Sie erhielten mit der Einreise unmittelbar die deutsche Staatsbürgerschaft und wurden somit in der Beschäftigungsstatistik nie gesondert ausgewiesen.3
Direkte Arbeitsmarkteffekte der Hartz-IV-Reformen
Als erfolgreichste Therapie werden heute weithin die Hartz-Reformen eingeschätzt und dabei insbesondere der Teil der Reformen, der zu einer Absenkung der Leistungsansprüche vor allem für qualifizierte Langzeitarbeitslose führte. Auf den ersten Blick könnte für diese Sichtweise sprechen, dass es unmittelbar mit der Umsetzung der Reformen zu einem Trendbruch bei der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen gekommen ist. Nach einem über Jahrzehnte anhaltenden Anstieg der Unterbeschäftigung, der seinen Höhepunkt mit saisonbereinigt über 5 Mio. arbeitslos Gemeldeten im März 2005 erreicht hatte,4 verbesserte sich die Beschäftigungslage seitdem kontinuierlich auf zuletzt nur noch rund 2,5 Mio. Arbeitslose. Von 2005 bis 2016 sank die Zahl der Arbeitslosen in Westdeutschland um 1,3 Mio., in Ostdeutschland um 900 000.
Für die Beurteilung einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme sind jedoch strukturelle und konjunkturelle Effekte zu trennen. Es gilt also Jahre zu vergleichen, die durch eine ähnliche konjunkturelle Situation, ausweislich der Output-Lücke, gekennzeichnet sind.5 Verwendet man hierzu die Schätzungen der OECD, zeigt sich für das Jahr 2005 mit einer relativen Output-Lücke von -1,7% eine hohe konjunkturelle Unterauslastung. Für einen Vergleich mit 2016, das eine positive Output-Lücke von 1,1% aufweist, bietet sich daher das Jahr 2001 an, für das die OECD eine positive Output-Lücke von ebenfalls 1,1% ermittelt. Die konjunkturell besonders ungünstige Situation 2005 zeigt sich auch bei der Relation von Arbeitslosen und offenen Stellen. Diese lag Anfang der 2000er Jahre bei rund 10 und erreichte im Jahr 2005 einen Höchstwert von 22. Es gab also für 22 Arbeitslose nur eine offene Stelle, sodass in dieser Situation auch die Effekte des „Forderns“ äußerst begrenzt gewesen sein dürften. Im April 2017 kamen nur noch 3,6 Arbeitslose auf eine offene Stelle.
Ein um konjunkturelle Effekte bereinigter Vergleich der Arbeitslosenzahlen der Jahre 2001 und 2016 zeigt für Westdeutschland einen Rückgang um nur noch 350 000 Arbeitslose. Das „Hartz-Wunder“ hält sich also in engen Grenzen. Demgegenüber hat sich in Ostdeutschland die Zahl der Arbeitslosen auch bei dieser Vergleichsbasis mit 820 000 deutlich reduziert. Diese unterschiedliche Entwicklung zwischen Ost- und Westdeutschland spricht dafür, dass der Rückgang im Osten weniger auf die Effekte der Arbeitsmarktreformen zurückzuführen ist als auf das Auslaufen der transformationsbedingten Beschäftigungsverluste.
Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Langzeitarbeitslosigkeit. Hier wird häufig behauptet, dass von Hartz IV besonders starke Effekte ausgegangen seien. Bezieht man sich wieder auf den Vergleich der Jahre 2001 und 2016, zeigt sich für Westdeutschland ein Rückgang der Langzeitarbeitslosen von 817 000 auf 727 000, also um rund 90 000 Personen. Für Ostdeutschland sind es demgegenüber 270 000 Personen, was einer Halbierung entspricht und wiederum die spezifischen Effekte der Wirtschaftstransformation deutlich macht. Dieses auf den ersten Blick überraschende Ergebnis wird gestützt durch detailliertere Studien zur Dauer der Arbeitslosigkeit von Langzeitarbeitslosen. So kommen Fehr und Vobruba zu dem Befund, dass sich seit der Hartz-Reform die Arbeitslosigkeitsepisoden der Sozialtransferbezieher nicht verkürzt haben.6 Bei Berücksichtigung soziodemografischer Effekte und der Arbeitsmarktsituation verweilten Bezieher von Arbeitslosengeld II eher länger in Arbeitslosigkeit als Sozial- und Arbeitslosenhilfebezieher vor der Einführung des SGB II.
Für diese Befunde gibt es eine einfache Erklärung. Man findet sie in einer Studie von Launov und Wälde, die zu dem Ergebnis kommt, dass Hartz IV zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit um weniger als 0,1 Prozentpunkte geführt habe.7 Die Autoren führen das darauf zurück, dass für Geringqualifizierte der Unterschied zwischen den Unterstützungsleistungen vor Hartz IV (Arbeitslosenhilfe) und nach Hartz IV (Arbeitslosengeld II) vergleichsweise gering ausgefallen ist und für Familien mit Kindern sogar häufig eine Besserstellung eingetreten ist.8 Der Anreizeffekt ist also sehr gering oder sogar negativ. Dies ist anders bei hochqualifizierten Arbeitnehmern, für die Hartz IV in der Regel eine eindeutige finanzielle Verschlechterung mit sich brachte. Diese Gruppe weist jedoch grundsätzlich weitaus geringere Arbeitslosenquoten auf als die Geringqualifizierten: 2005 betrug die Arbeitslosenquote bei Personen ohne Ausbildung 26,0%, bei Personen mit abgeschlossener Ausbildung 8,6%. Launov und Wälde gehen deshalb davon aus, dass Qualifizierte in der Regel einen neuen Arbeitsplatz finden können, bevor sie als Langzeitarbeitslose unter das Regime von Hartz IV fallen. Es ist nicht überraschend, dass Studien, die diese Differenzierung nicht treffen und von einer generellen Absenkung der Unterstützungsleistungen ausgehen, deutlich höhere Beschäftigungseffekte von Hartz IV errechnen.9
Für eine zurückhaltende Einschätzung der Arbeitsmarkteffekte von Hartz IV spricht letztlich auch, dass die dabei gewährten Leistungen trotz der Einschränkungen gegenüber der Arbeitslosenhilfe, die sich im Rückgang der deutschen Werte von 2004 auf 2005 zeigen, im internationalen Vergleich noch immer recht hoch sind (vgl. Abbildung 1). Wären möglichst niedrige Leistungen für Langzeitarbeitslose die Voraussetzung für eine dynamische Beschäftigungsentwicklung, müsste der Arbeitsmarkt in Griechenland und Italien in vollster Blüte stehen, da Langzeitarbeitslose dort überhaupt keine finanzielle Unterstützung durch den Staat erhalten.
Abbildung 1
Lohnersatzleistungen (einschließlich Wohngeld) für einen langzeitarbeitslosen Alleinstehenden1
1 Mit früherem Arbeitseinkommen in Höhe von 67% des Durchschnittslohns.
Quelle: OECD: Benefits and Wages.
Indirekte Effekte von Hartz IV
Häufig wird argumentiert, dass es wegen der Hartz-Reformen und dem davon ausgehenden Druck auf Arbeitslose zu einer zurückhaltenden Lohnpolitik und zur Herausbildung eines Niedriglohnsektors gekommen sei, was sich positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und damit auf die Beschäftigungslage in Deutschland ausgewirkt habe. Zudem sei es zu einer höheren Teilzeitbeschäftigung gekommen.
Für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands hat die sogenannte Lohnmoderation eine wichtige Rolle gespielt.10 In der Literatur wird der Beitrag der zurückhaltenden Lohnpolitik zur Stärkung der deutschen Wirtschaft ebenfalls deutlich höher eingeschätzt als die Effekte der Hartz-Reformen.11 Eine Lohnmoderation lässt sich daran ablesen, dass der Anstieg der Lohnstückkosten hinter der tatsächlichen Entwicklung der Verbraucherpreise zurückbleibt oder aber im Kontext der Währungsunion daran, dass er geringer ausfällt als das Ziel der Europäischen Zentralbank für Preisstabilität von unter, aber nahe bei 2% (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Lohnstückkosten, Inflationsrate und Inflationsziel der EZB
Quelle: Destatis.
Es zeigt sich, dass der Prozess der Lohnmoderation lange vor der Umsetzung der Hartz-IV-Reformen begonnen hat. Er lässt sich auf die zweite Hälfte der 1990er Jahre datieren und die in dieser Phase von den deutschen Gewerkschaften bewusst eingeschlagene Strategie Arbeitsplätze durch den Verzicht auf Reallohnerhöhungen zu schützen. Bereits 1995 forderte der damalige IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel, ein entsprechendes „Bündnis für Arbeit“ zur Schaffung von Arbeitsplätzen.12 Das führte 1998 zum „Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit“ unter der Regierung von Gerhard Schröder. Am 9. Januar 2000 beschlossen die Bündnispartner für die Tarifrunde 2000 „eine beschäftigungsorientierte und längerfristige Tarifpolitik“13. Der sich am Produktivitätszuwachs orientierende, zur Verfügung stehende Verteilungsspielraum sollte vorrangig für beschäftigungswirksame Vereinbarungen genutzt werden. Ein weiterer wichtiger Beitrag der Gewerkschaften zur Lohnzurückhaltung war das Pforzheimer Abkommen, das am 12. Februar 2004 in Pforzheim zwischen den Tarifpartnern für die Metall- und Elektrobranche geschlossen wurde. Sein Kern bestand darin, die Möglichkeit zur Abweichung von flächentariflichen Standards unter Mitwirkung der Tarifpartner zu eröffnen.
Bei dieser äußerst kompromissbereiten und im internationalen Vergleich wohl einzigartigen Haltung der deutschen Gewerkschaften ist es mehr als erstaunlich, wenn sich Hans-Werner Sinn darüber beklagt, dass den deutschen Gewerkschaften die Bereitschaft fehle, „die Gesetze der Ökonomie zur Kenntnis zu nehmen“14 und sogar von einer „hemmungslosen Kartellpolitik der Gewerkschaften“15 spricht. Es hätte also nicht der Hartz-Reformen bedurft, um in Deutschland eine zurückhaltende Lohnpolitik zu erzwingen. Dies gilt auch für die Herausbildung eines Niedriglohnsektors. Nach den Berechnungen von Kalina und Weinkopf erhöhte sich der Anteil der im Niedriglohnbereich Beschäftigten von 1995 bis 2004 von 18,7% auf 22,6%.16 Nach der Einführung von Hartz IV hat sich dieser Trend verlangsamt fortgesetzt und der Anteil lag 2013 bei 24,4%. Gleiches gilt für die zunehmende Teilzeitbeschäftigung. Die Teilzeitquote, d.h. der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an allen Beschäftigten, die 1991 noch 17,9% betragen hatte, lag 2004 bei 33,3%. Seitdem ist sie bis 2016 deutlich verlangsamt auf 39% angestiegen.
Deutsche Reformen als Vorbild für andere Länder?
Die hier vorgenommene Analyse zeigt nicht nur, dass sich der Effekt der Hartz-IV-Reform für die deutsche Wirtschaft in äußerst engen Grenzen hält, sie verdeutlicht zugleich, dass viele der Problemländer Europas seit langem deutlich geringere Lohnersatzleistungen für Langzeitarbeitslose aufweisen als Deutschland. Fraglich ist die vermeintliche Vorbildfunktion Deutschlands auch bei der Flexibilität des Arbeitsmarktes. Der Sachverständigenrat für Wirtschaft hat in seinem Jahresgutachten 2013/14 festgestellt, dass der deutsche Arbeitsmarkt zu „den am stärksten regulierten der Welt“ zähle.17 Ausweislich des von der OECD fortlaufend erhobenen Index zur „Employment Protection Regulation“ gilt das auch heute noch.
Im Kern lässt sich somit die Verbesserung der deutschen Wirtschaftslage in den vergangenen 15 Jahren auf das Auslaufen der durch die Deutsche Einheit bedingten Belastungen zurückführen, wodurch die traditionelle Wettbewerbsstärke deutscher Unternehmen nun auch für oberflächlichere Betrachter wieder sichtbar geworden ist. Positiv dürfte sich für die deutsche Industrie vor allem die ausgeprägte Lohnzurückhaltung ausgewirkt haben. Wenn man diese Strategie von deutscher Seite anderen Ländern in Europa empfiehlt, gerät man jedoch in ein nicht aufzulösendes Dilemma. Je konsequenter sich die anderen Mitgliedstaaten an diese Empfehlung halten, desto mehr verschlechtert sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen innerhalb der Währungsunion. Natürlich ließe sich das gleiche Ergebnis erzielen, wenn die Löhne in Deutschland eine Zeit lang über den Verteilungsspielraum hinaus angehoben würden.
Offen ist dabei natürlich, wie sich solche Anpassungsprozesse auf den Wechselkurs des Euro gegenüber Drittländern auswirken. Unterstellt man mittelfristig die Gültigkeit der Kaufkraftparitätentheorie, wären die Drittlandeffekte für den Euroraum insgesamt zu vernachlässigen. Bei einer deflatorischen Entwicklung aufgrund einer Lohnzurückhaltung der anderen Mitgliedstaaten, ergäbe sich eine Aufwertung des Euro, welche die Vorteile der geringen Lohnkosten gegenüber dem Rest der Welt kompensieren würde. Entsprechendes gilt mit umgekehrtem Vorzeichen für eine inflatorische Anpassung. Deutschland würde bei beiden Varianten aber nicht um die Notwendigkeit herumkommen, eine gewisse Verschlechterung seiner preislichen Wettbewerbsfähigkeit innerhalb des Euroraums hinzunehmen.
Dies führt zur einfachen Einsicht, dass jeder Versuch, die nationale Wettbewerbsfähigkeit über Lohnsenkungen zu verbessern, die Natur eines Nullsummenspiels aufweist. Für Deutschland hat das solange funktioniert wie sich die anderen Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht völlig passiv verhalten haben. Unter dem Eindruck hoher Arbeitslosenquoten ist dies aber nicht mehr der Fall. Deshalb ist es für deutsche Politiker so reizvoll, ganz pauschal Reformen in den anderen Ländern zu fordern. Aber es ist unredlich dies zu tun, wenn man weiß, dass sich die Effekte vieler Reformen in engen Grenzen halten. Und es ist inkonsequent, wenn es sich um Maßnahmen handelt, die direkt oder indirekt zu einer Absenkung der Lohnkosten führen, solange man nicht bereit ist, die sich daraus am Ende ergebende Verschlechterung der eigenen preislichen Wettbewerbsfähigkeit hinzunehmen.
Braucht Michigan Strukturreformen?
Damit stellt sich die Frage, was geschehen soll, um einem Land wie Italien wieder zu mehr Wachstum zu verhelfen. Nach dem vorherrschenden Narrativ ist die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes primär Ausdruck eines gravierenden Politikversagens und der deshalb fehlenden Bereitschaft zu „Reformen“. Aber könnte es nicht auch sein, dass es im Prozess der Globalisierung zwangsläufig Regionen gibt, die zu den Verlierern zählen? Für die USA haben Autor et al. die negativen Konsequenzen des „China-Schocks“ auf lokale Arbeitsmärkte verdeutlicht.18
Es bietet sich daher an, die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten des Euroraums mit der der Bundesstaaten in den USA von 1999 bis 2015 anhand der durchschnittlichen Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts zu vergleichen (vgl. Abbildung 3). Es zeigt sich wie erwartet, dass Italien dabei sehr schlecht abschneidet. Der US-Bundesstaat Michigan weist aber eine noch ungünstigere Entwicklung auf. Doch während man geneigt ist, Italien als Schuldigen anzusehen, der es versäumt hat, Reformen voranzubringen, würde man Michigan, das letztlich über die gleichen institutionellen Rahmenbedingungen verfügt wie die erfolgreichen Bundesstaaten der USA, eher als Opfer des globalen Strukturwandels betrachten. Für die Haltung Deutschlands gegenüber Italien hätte ein solcher Perspektivenwechsel erhebliche Konsequenzen. Wir könnten uns nicht mehr nur zurücklehnen und das Politikversagen in Italien kritisieren. Als offensichtliche Gewinner im Globalisierungsprozess und in der Währungsunion müssten wir uns überlegen, inwieweit wir eine Kompensation des Verlierers vornehmen sollten. Es bestünde sonst die Gefahr, dass sich Italien aus dem Euro verabschiedet, was für uns sehr wahrscheinlich die deutlich teurere Lösung wäre.
Abbildung 3
Durchschnittliche jährliche Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts in EU- und US-Bundesstaaten, 1999 bis 2015
Quelle: Bureau of Economic Analysis and Ameco.
- 1 H.-W. Sinn: Ist Deutschland noch zu retten?, Berlin 2015, S. 113.
- 2 P. Bofinger: Wir sind besser als wir glauben, Hallbergmoos 2014.
- 3 A. Brück-Klingberg, C. Burkert, H. Seibert, R. Wapler: Spätaussiedler mit höherer Bildung sind öfter arbeitslos, IAB-Kurzbericht, Nr. 8, 2.4.2007.
- 4 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es durch die Einführung von Hartz IV allein aus statistischen Gründen zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um rund 500 000 Personen gekommen ist. Arbeitsfähige Bezieher von Sozialhilfe, die bis dahin nicht als arbeitslos registriert waren, wurden durch Hartz IV in die Arbeitslosenstatistik aufgenommen. Umgekehrt dürften viele Arbeitslose auf die Arbeitslosmeldung nach der Einführung von Hartz IV verzichtet haben, wenn sie aufgrund der familiären Situation keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld II hatten.
- 5 Die mangelnde Berücksichtigung der konjunkturellen Situation kennzeichnet nicht nur die populärwissenschaftliche Debatte, sondern auch wissenschaftliche Studien. So gehen Krause und Uhlig davon aus, dass die Arbeitslosenquote des Jahres 2005 nahezu der gleichgewichtigen Arbeitslosenrate entsprochen habe. Sie verwenden für ihre Analyse jedoch ein Modell, bei dem es weder eine konjunkturelle noch eine transformationsbedingte Arbeitslosigkeit geben kann. Vgl. M. U. Krause, H. Uhlig: Transitions in the German labor market: Structure and crisis, in: Journal of Monetary Economics, 59. Jg. (2012), H. 1, S. 64-79.
- 6 S. Fehr, G. Vobruba: Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-IV-Reform, in: WSI Mitteilungen, Nr. 5/2011.
- 7 A. Launov, K. Wälde: Estimating Incentive and Welfare Effects of Non-Stationary Unemployment Benefits, in: International Economic Review, 54. Jg. (2013), H. 4, S. 1159-1198.
- 8 Dies bestätigt H. Goecke, J. Niehus: Verteilungswirkungen der Agenda 2010. Eine Mikrosimulationsanalyse der Hartz-IV-Reform, Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln, 11.12.2014. Dabei werden Verteilungseffekte für 2011 errechnet. Für die Verteilungseffekte bis 2010 ist zu berücksichtigen, dass es bis dahin einen befristeten Zuschlag zum Arbeitslosengeld II gab. Dieser wurde für die ersten zwei Jahre in Höhe von maximal 160 Euro für Alleinstehende und 320 Euro für Verheiratete pro Monat geleistet. Für jedes Kind kamen 60 Euro hinzu. Der Zuschlag betrug zwei Drittel des Unterschiedsbetrags zwischen dem von dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zuletzt bezogenen Arbeitslosengeld (und dem nach dem Wohngeldgesetz erhaltenen Wohngeld) und dem an den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Angehörigen zu zahlenden Arbeitslosengeld II.
- 9 T. Krebs, M. Scheffel: Macroeconomic Evaluation of Labor Market Reform in Germany, International Monetary Fund Working Paper, Nr. WP/13/42, 2013.
- 10 P. Bofinger: German wage moderation and the EZ Crisis, VoxEU, 30.11.2015.
- 11 C. Dustmann, B. Fitzenberger, U. Schönberg, A. Spitz-Oener: From Sick Man of Europe to Economic Superstar: Germany’s Resurgent Economy, in: Journal of Economic Perspectives, 28. Jg. (2014), H. 1, S. 167-188.
- 12 M. Wolf: Von der „Konzertierten Aktion“ zum „Bündnis für Arbeit“, in: UTOPIE kreativ, H. 117, Juli 2000, S. 669-680.
- 13 Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, Gemeinsame Erklärung zu den Ergebnissen des Spitzengesprächs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 2/2000, S. 250-252, https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2000/februar/buendnis-fuer-arbeit-ausbildung-und-wettbewerbsfaehigkeit.
- 14 H.-W. Sinn, a.a.O., S. 106.
- 15 Ebenda, S. 523.
- 16 T. Kalina, C. Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2013: Stagnation auf hohem Niveau, IAQ-Report, Nr. 2015-03.
- 17 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, Ziffer 453.
- 18 D. H. Autor, D. Dorn, G. H. Hanson: The China Shock: Learning from Labor-Market Adjustment to Large Changes in Trade, in: Annual Review of Economics, 8. Jg. (2016), Nr. 1, S. 205-240.