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Europa muss sich entscheiden, ob es die gewachsene Zusammenarbeit vertiefen oder aber reduzieren will. Unter Ökonomen dominiert Skepsis. Viele würden das Euro-Rad am liebsten zurückdrehen. Was dagegen fehlt, ist eine plausible Vision, wie es vorangehen könnte. Kernelemente sollten finanzielle Ausgleichszahlungen zwischen den Ländern der EU sowie die demokratische Legitimierung durch ein „echtes“ Europäisches Parlament sein, das mit Budgetrechten – insbesondere der Kompetenz zur Besteuerung von Kapital – ausgestattet wird.

Es ist an der Zeit, die europäische Integration vom Kopf auf die Füße zu stellen. Über Generationen war die Annäherung der Nationen zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“, wie es in den Römischen Verträgen von 1957 heißt, ein von technokratischen Eliten vorangetriebenes Projekt. Die Entwicklung der politischen Institutionen hinkte dabei stets der wirtschaftlichen Integration hinterher. Dieser Prozess steht nun vor hohen Hindernissen, die sich nur mit einem mutigen Sprung überwinden lassen. Konkret braucht die Europäische Union ein vollwertiges Parlament, das eigene Einnahmen erheben kann und das sich aus eigener Legitimation souverän daranmacht, die EU in einen föderalen Bundesstaat umzubauen. Mögliche Einwände gegen einen solchen Vorschlag liegen auf der Hand. Weil es aber der einzig gangbare Weg sein könnte, der ein endgültiges Scheitern Europas zu verhindern mag, sollte nicht länger nur das Ob, sondern verstärkt auch das Wie diskutiert werden.

Altes Vertiefungsmodell nicht überzeugend

60 Jahre nach dem Aufbruch in Rom zeigt der europäische Einigungsprozess unübersehbare Symptome von Erosion. Der Entschluss der Briten, aus der EU auszusteigen, belegt eindrücklich die Fliehkräfte, die die europäischen Staaten auseinandertreiben. Risse sind auch auf dem Kontinent erkennbar: zwischen Nord und Süd in der Geld- und Finanzpolitik, zwischen West und Ost in der Flüchtlingspolitik. Nationalpopulistische Bewegungen verschieben in vielen Mitgliedstaaten das politische Spektrum und machen Einigungen zwischen den Regierungen auf EU-Ebene zusehends schwieriger.

Immerhin setzt die politische Rhetorik im Kern der EU inzwischen auf Vertiefung. Emmanuel Macron ist mit dem Versprechen verstärkter europäischer Integration zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel beschwört angesichts der transatlantischen Entfremdung unter US-Präsident Donald Trump inzwischen wieder deutlicher ihren Willen, zur Stärkung der EU beitragen zu wollen. Die EU-Kommission bemüht sich mit einer Reihe von Weißbüchern, die Debatte voranzutreiben. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass Europa seine Geschicke selbst in die Hand nehmen muss und dass es sich nicht mehr unbedingt auf die USA als starken Bündnispartner verlassen kann.

Doch all die Vorstöße bleiben letztlich in zwei Fragen vage: Was bedeutet mehr europäische Integration konkret? Und welche Voraussetzungen müssten dafür geschaffen werden? Dass diese Fragen im politischen Diskurs unbeantwortet bleiben, dürfte eine Folge des Scheiterns der europäischen Verfassungsinitiative sein, die in Frankreich und den Niederlanden bei Referenden durchfiel. Seitdem gilt die Idee einer europäischen Verfassung als tot, ohne dass allerdings hinreichend geklärt wäre, warum die Initiative scheiterte. Der Schluss, dass Europa für eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit noch nicht reif sei, könnte falsch sein. Das Scheitern von 2005 könnte auch damit zu erklären sein, dass das seinerzeit angestrebte Vertiefungsmodell die Bürger nicht zu überzeugen vermochte.

In der öffentlichen Wahrnehmung ist die EU eine Bühne, die den beteiligten Mitgliedstaaten den Raum gibt, die jeweiligen nationalen Interessen möglichst wirksam zu vertreten. Im Ergebnis prägen nächtliche Verhandlungsmarathons und bürokratische Prozesse das Erscheinungsbild. Daran kann auch das Europäische Parlament wenig ändern. Das Bild von nationaler Interessenwahrnehmung wird eher noch verstärkt. Die Zusammensetzung des Parlaments orientiert sich an nationaler Herkunft und nicht etwa an der urdemokratischen Regel, dass jede Wahlstimme gleich viel zählt (one man, one vote). Kleine Staaten werden relativ bevorzugt. Nicht Europa wird im Parlament repräsentiert, sondern die Gemeinschaft der Mitgliedstaaten. Daran hätte auch der vereinbarte, aber nicht in Kraft getretene Verfassungsvertrag für Europa wenig geändert. Die relative Bevorzugung von Stimmen aus kleinen Staaten sollte nicht aufgegeben werden. Eine eigene Steuerquelle der EU war nicht vorgesehen. Über die Einnahmen der EU sollte nach wie vor der Europäische Rat entscheiden. Und bei den Ausgaben sollten zwar die Mitwirkungsrechte des Europaparlaments ausgeweitet werden, aber wichtige Bereiche wie etwa die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sollten in der alleinigen Kompetenz des Europäischen Rates verbleiben.

Der Verfassungsvertrag von Europa war nicht darauf ausgelegt, die offensichtlichen Strukturprobleme, die nächtliche Verhandlungsmarathons und bürokratische Prozesse hervorbringen, zu überwinden. Die Bevölkerungen, die dem Vertrag in Referenden ihre Zustimmung verweigerten, dürften das gespürt haben. Jedenfalls muss man ihnen rückblickend danken, dass sie Europa davor bewahrten, mit einer falsch konzipierten Vertiefung von Zusammenarbeit quälende Erfahrungen zu sammeln. Denn wenn eine Lehre aus den bisherigen Erfahrungen zu ziehen ist, dann die, dass sich eine vertiefte Zusammenarbeit souveräner Staaten, die wesentlich über Markt- und Handelsfragen hinausgeht, auf intergouvernementaler Basis nicht organisieren lässt. Der Staatenbund als politische Regierungsform leidet an einem unübersehbaren Legitimierungs- bzw. Demokratiedefizit, als dessen Symp­tome Verhandlungsmarathons und Bürokratie zu begreifen sind.

Diese Erkenntnis mag nicht originell sein, Europa kann es sich aber auch nicht länger leisten, sie einfach zu ignorieren. Die Gefahr ist (zu) groß, dass sich die Erosion des politischen Einigungsprozesses beschleunigt, und zwar mit unabsehbaren Konsequenzen für den Bestand der EU. Die ökonomischen Kosten eines Auseinanderbrechens des Binnenmarkts und/oder der Eurozone lassen sich seriös kaum beziffern. Sicher ist, dass dies Ereignisse wären, die einen Strukturbruch ungewissen Ausgangs darstellten. Nicht nur der Brexit oder das Scheitern der Bemühungen, der Flüchtlingsproblematik gemeinsam zu begegnen, sind besorgniserregende Zeichen. Besorgniserregend ist auch, wie sich in Europa der Eindruck verfestigt, dass die Verträge zwischen den Mitgliedstaaten nicht das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben wurden. Das Misstrauen in die politische Bindungskraft von Verträgen breitet sich epidemisch aus. Zurückführen kann man das darauf, dass der Bruch von Verträgen sanktionslos hingenommen wurde. Beispiele liefern der Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie der Fiskalpakt. Seitdem wächst die Gefahr, dass die Missachtung der Verbindlichkeit von Verträgen von der europäischen auf die nationale Ebene überspringt. Der Rechtsstaat, die größte kulturelle Leistung der Menschheit, könnte unabsehbaren Schaden nehmen.

Was ist zu tun?

In einem ersten Schritt gilt es, sich Klarheit über die politischen Optionen zu verschaffen. Europa sollte sich eingestehen, dass sich eine Zusammenarbeit von Staaten, die wesentlich über Markt- und Handelsfragen hinausgeht, nicht rein intergouvernemental gründen lässt. In der Konsequenz hätte die europäische Integrationspolitik zwischen einem „Voran“ und einem „Zurück“ zu wählen. Die Vorstellung eines „dritten“ Weges zwischen diesen beiden noch zu erläuternden Optionen erscheint indessen nicht tragfähig. Zurück bedeutet: Die politische Zusammenarbeit würde eingeschränkt auf jene Bereiche, in denen sich alle Mitgliedstaaten Vorteile versprechen. Das betrifft in erster Linie den Handel. Zurück bedeutet insbesondere den Verzicht auf nennenswerte Nettotransferzahlungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU und als Folge die Abschaffung des Euro. Voran bedeutet: Der EU, oder der Eurozone als Kern der Union, gelingt der Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat. Wesentliche Elemente eines Bundesstaates sind ein echtes Parlament, das nach der Regel „one man, one vote“ gewählt wird sowie die Übertragung von Budgetkompetenzen.

Gemeinsame Währung

Für den Status quo ist die Existenz einer gemeinsamen Währung prägend. Sie macht institutionelle Konsequenzen notwendig, die vor allem in Deutschland unzureichende Anerkennung finden und daher kurz begründet werden. Mit der Hoheit über eine Währung ist die geldpolitische Kompetenz untrennbar verknüpft. Zwar ist Geldpolitik der Zielsetzung nach nicht auf Umverteilung angelegt, sie bewirkt aber in der Anwendung Umverteilung. Der typische Umverteilungskonflikt besteht zwischen Gläubigern und Schuldnern. Diesen erleben wir derzeit. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) bedeutet eine schleichende Entwertung von Ersparnissen. Die Gläubiger leiden, die Schuldner profitieren. Neben diesen typischen Verteilungskonflikt tritt beim Euro jener zwischen dem wirtschaftlichen Zentrum und der wirtschaftlichen Peripherie. Die EZB kann nur eine einheitliche Geldpolitik verfolgen. Aktuell ist sie zu expansiv für Deutschland, das zum wirtschaftlichen Zentrum des Euroraums gehört, und sie ist möglicherweise nicht expansiv genug für Länder wie Italien, Griechenland und Portugal, die zur wirtschaftlichen Peripherie gehören.

Geldpolitik funktioniert dann zufriedenstellend, wenn sie von den Regierungen unterstützt und nicht konterkariert wird. Solange ungewollte Verteilungswirkungen der Geldpolitik auf ein Land beschränkt bleiben, kann die Regierung diese im Prinzip neutralisieren und damit helfen, Widerstände gegen das geldpolitisch Gebotene zu überwinden. Eine demokratisch legitimierte Regierung kann politisch nicht tolerablen Verteilungswirkungen der Geldpolitik entgegenwirken. Bei Verteilungswirkungen, die zwischen unabhängigen Ländern auftreten, geht das aber nicht. Es fehlt dort die demokratische Legitimierung für eine Politik der Neutralisierung.

In den Anfangsjahren des Euro fehlte das Bewusstsein für länderübergreifende Verteilungswirkungen. Man hielt sie für nicht substanziell. Sie sind es aber, wie der Gegensatz von Deutschland und Griechenland oder Portugal zeigt. Die EZB kann noch so bemüht sein, eine Geldpolitik zu verfolgen, die auf Dauer neutral wirken soll. Sie wird es kaum schaffen. Die wirtschaftliche Bedeutung der Länder ist zu unterschiedlich. Auf Dauer wird die Geldpolitik der EZB sich stärker an den wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland ausrichten müssen und weniger an den wirtschaftlichen Bedingungen in kleinen Ländern wie Griechenland und Portugal. Um die gemeinsame Währung aufrechtzuerhalten, wären dann Transferzahlungen zugunsten der Peripherie ökonomisch gerechtfertigt. Daher ist auch der Vorschlag des Sachverständigenrats für Wirtschaft, zum Vertrag von Maastricht mit „no bail out“ zurückzukehren, keine überzeugende Lösung. Es ist zwar richtig, budgetpolitische Solidität von den Mitgliedstaaten des Euroraums einzufordern, man muss aber auch eine institutionalisierte Ausgleichslösung für die asymmetrischen Verteilungswirkungen der Geldpolitik anbieten.

Keine Besteuerung ohne demokratische Mitsprache

Bislang setzt die EU auf intergouvernemental vereinbarte Transferzahlungen. Das bedeutet, dass die Bürger eines Landes besteuert werden und die Regierungen bestimmen, wessen Landes Bürger am Aufkommen partizipieren. Die Geschichte lehrt nun, dass die Erhebung von Steuern und deren Verausgabung bei den Betroffenen ohne demokratische Mitsprache nicht die notwendige Akzeptanz finden. So begann der amerikanische Unabhängigkeitskrieg mit der Boston Tea Party und dem Schlachtruf „no taxation without representation“; Auslöser war die Einführung von Steuern, die die nordamerikanischen Kolonien nach London transferieren sollten, ohne darüber mitbestimmen zu dürfen. Diese und andere Erfahrungen zeigen: Ohne demokratische Mitsprache kann es keine nennenswerten Nettotransferzahlungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU geben.

Diese Einsicht stellt den Euroraum vor eine fundamentale Richtungsentscheidung: Entweder soll es weiterhin keine nennenswerten Nettotransferzahlungen geben. Dann müsste indessen auch – im Sinne des Zurück – der Ausstieg aus dem Euro-Experiment gesucht werden. Oder aber der Euro soll nicht aufgegeben werden. Dann müssten aber auch – im Sinne des Voran – die demokratischen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Ausgleichszahlungen zu legitimieren, ohne die Geldpolitik nicht wirksam betrieben werden kann. Konkret müsste ein echtes Parlament nach der Regel „one man, one vote“ gewählt werden, dem jene Budgetkompetenzen zugestanden werden, mit denen sich regionalen Verteilungswirkungen der Geldpolitik entgegenwirken lässt.

Steuerkompetenz an das Europäische Parlament

Budgetkompetenzen erstrecken sich auf Einnahmen und Ausgaben, wobei letztere Ausdruck von Aufgabenwahrnehmung sind. Verbreitetem Denken würde es entsprechen, sich zunächst über die Aufgaben zu verständigen, die auf europäischer Ebene wahrgenommen werden sollten. Nur wenn sich der Bedarf an Mitteln zur Erledigung vereinbarter Aufgaben beziffern lässt, scheint es vertretbar, eine Einigung über Einnahmequellen zu suchen. Man muss indessen die Gefahr sehen, dass die Interessen zwischen den Staaten Europas zu heterogen sind, als dass es aussichtsreich erschiene, sich mit intergouvernementalem Verhandeln auf nennenswerte Aufgaben zu verständigen. Die Flüchtlingskrise hat dies nachdrücklich vor Augen geführt. Die Frage nach den bundesstaatlichen Aufgaben sollte daher hintangestellt werden. In einem ersten Schritt gilt es, eine Verständigung hinsichtlich der Frage anzustreben, welche Steuerkompetenz dem neuen Europäischen Parlament übertragen werden sollte. Dieser Vorschlag resultiert aus der historischen Erfahrung, dass sich in der Politik leichter Aufgaben zu Einnahmen finden lassen als Einnahmen zu Aufgaben.

Die Radikalität unseres Vorschlags reicht indessen weiter. Die eigenen Einnahmen des neuen Europäischen Parlaments sollten in der umfassenden Besteuerung von Kapital bestehen. Bisherige Diskussionen weisen in eine andere Richtung. So hat die Monti-Gruppe die Mineralölsteuer, eine Stromsteuer, die Körperschaftsteuer, die Finanztransaktionssteuer, eine Bankenabgabe und die Mehrwertsteuer als mögliche Steuern für Europa diskutiert. Diese Vorschläge eint die Erwartung, dass eine steuerliche Harmonisierung Effizienzgewinne für die Staaten verspricht. Diese müssten nicht nur auf Einnahmen zugunsten der europäischen Ebene verzichten, sie würden im Gegenzug auch zurechenbare Vorteile haben. Konkret darf man bei Befolgung der Vorschläge erwarten, dass die Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte weniger als heute durch national unterschiedliche Steuerregeln verzerrt werden. Das sollte das Wachstum in Europa positiv beeinflussen.

Die Vorschläge der Monti-Gruppe zeichnet also der Fokus auf Länderinteressen aus. Deren Befolgung legt auch eine intergouvernementale Zusammenarbeit nahe. Personelle Umverteilungswirkungen stehen nicht im Fokus. Sie wird es zwar wie bei jeder Steuer geben, sie sind aber eher die unbeabsichtigte Begleiterscheinung einer Politik, die Effizienzgewinne heben will. So zielen die Europäisierung der Mineralölsteuer und die Einführung einer Stromsteuer auf die effiziente Nutzung fossiler Energieträger. Die Finanztransaktionssteuer und die Bankenabgabe sollen helfen, eine Wiederholung der Finanzkrise von 2008 zu vermeiden und die Kosten ihrer Bewältigung den vermeintlichen Verursachern anzulasten. Die Europäisierung der Körperschaftsteuer zielt darauf, den internationalen Konzernen die steuersparende Gewinnverlagerung zu erschweren. Und der Vorschlag, Europa am Aufkommen der Mehrwertsteuer stärker zu beteiligen, unterstreicht die Bemühung, die herkömmliche intergouvernementale Zusammenarbeit lediglich behutsam weiterzuentwickeln. Schon heute wird 1 Prozentpunkt des Mehrwertsteueraufkommens an die EU abgeführt. Personelle Umverteilungswirkungen sind bei keinem der Monti-Steuervorschläge beabsichtigt.

Besteuerung von Kapital auf europäischer Ebene

Hinter unserem Vorschlag, die Besteuerung von Kapital in Europa der bundesstaatlichen Ebene zuzuweisen, steht ein anderes Rational: Die Realisierung dieses Ansatzes würde die europäische Ebene bewusst nicht länger von der politischen Mitverantwortung personeller Verteilungswirkungen von Besteuerung ausschließen wollen. Im Zentrum der personellen Umverteilung durch Steuern steht weltweit die Besteuerung von Arbeits- und Kapitaleinkommen. Dabei konkurrieren zwei Ansätze. Nach dem einen soll Kapitaleinkommen wie Arbeitseinkommen gleichmäßig und progressiv besteuert werden. Dieses Modell der „synthetischen Einkommensbesteuerung“ galt in der Zeit vor der Globalisierung als Ideal. Für die meisten Menschen ist es ein naheliegendes Gebot der Gerechtigkeit, Einkommen gleicher Höhe mit dem gleichen Steuersatz zu belasten, unabhängig davon, ob dieses Einkommen aus dem Einsatz von Arbeit oder von Kapital resultiert. Die Globalisierung hat diesem Ideal jedoch praktische Grenzen aufgezeigt.

Die skandinavischen Länder haben es Ende der 1980er Jahre als erste erfahren. Hoch mobiles Kapital drohte, sich dem steuerlichen Zugriff zunehmend durch Abwanderung zu entziehen. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung drohte, zur leeren Formel zu werden. Die skandinavischen Länder haben politische Konsequenzen gezogen und die sogenannte duale Einkommensteuer erfunden, unter der Arbeit und Kapital unterschiedlich (dual) besteuert werden. Nur Erwerbseinkommen wird wie gewohnt progressiv besteuert. Das Ausmaß der Steuerprogression wird weiterhin von Gerechtigkeitsvorstellungen bestimmt. Kapitaleinkommen wird dagegen unter Verzicht auf Progressivität getrennt besteuert, und zwar auf einem Niveau, das international wettbewerbsfähig sein soll. Zwar verletzt die unterschiedliche Besteuerung von Arbeit und Kapital die herkömmliche Vorstellung von Gerechtigkeit. Verteidiger weisen indessen darauf hin, dass es bei der Verwirklichung von Gerechtigkeit weniger auf das Gewollte ankommt, sondern mehr auf das Erreichte. Vom ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück stammt die Feststellung: „Besser 25 Prozent von x als 42 Prozent von nix“. Mit diesen Worten hatte er für die Abgeltungsteuer auf Zinsen und Dividenden geworben, die 2009 in Deutschland eingeführt wurde.

Die duale Einkommensteuer geht über die Abgeltungsteuer insoweit hinaus, als sie die Besteuerung von Unternehmen umfassend und konsistent einbezieht. Alle Gewinnanteile, die sich als Verzinsung von Kapital deuten lassen, werden wie Zinsen besteuert. Darüber hinausgehende Gewinnanteile werden dagegen wie Erwerbseinkommen progressiv besteuert. Auch der Sachverständigenrat für Wirtschaft hatte schon 2006 zusammen mit anderen Experten der Bundesregierung die Einführung der dualen Einkommensbesteuerung empfohlen.

Unser Vorschlag geht allerdings über das Konzept des Sachverständigenrats hinaus. Die Besteuerung von Arbeit und Kapital soll unterschiedlichen staatlichen Ebenen zugeordnet werden: Arbeit soll wie bisher auf der mitgliedstaatlichen Ebene besteuert werden. Das Niveau der Steuersätze und deren Progression soll sich zwischen den Ländern unterscheiden dürfen. Kapital sollte dagegen auf europäischer Ebene besteuert werden, und zwar zu einem festen Satz, der von dem noch zu wählenden echten Parlament festzulegen wäre. Die Aufteilung der Steuerkompetenzen würde sich damit an der ökonomisch überzeugenden Regel orientieren, dass hoch mobiles Kapitaleinkommen gemeinschaftlich besteuert wird, weniger mobiles Arbeitseinkommen dagegen in nationalstaatlicher Verantwortung. Die europäische Ebene erhielte also eine echte Kompetenz im Bereich der Besteuerung, die auf personelle Umverteilung zielt.

Die Auswirkungen wären weitreichend. Es reicht nicht, lediglich einen Steuersatz für Kapitaleinkommen festzulegen. Es bedarf auch einer Verständigung darüber, was alles als Kapitaleinkommen zu gelten hat. In der Praxis sind mit der Beantwortung dieser Frage tiefe Eingriffe ins Unternehmenssteuerrecht verbunden. Mit der Verlagerung der Kompetenz für die Kapitaleinkommensbesteuerung auf die europäische Ebene würde zwangsläufig eine Verlagerung der Regelungskompetenz im unternehmerischen Rechnungswesen einhergehen. Es ist uns bewusst, dass die Umsetzung viele Jahre in Anspruch nehmen würde. Die Materie ist kompliziert. Auch wenn konkrete Ergebnisse nicht binnen kurzem zu erzielen wären, stünde Europa vor einer zukunftsweisenden Aufgabe. Es würde eine Harmonisierung in unternehmerischen Belangen und damit in einem Bereich, in dem Europa durch die Globalisierung besonders gefordert ist, suchen.

Verwendung der Steuereinnahmen

Der Vorschlag lenkt den Blick auf zwei verbleibende Fragen: Die erste ist, für welche Aufgaben die Einnahmen aus der Kapitaleinkommensteuer verwendet werden sollten, und die zweite, was ein echtes Europäisches Parlament ausmacht und von dem etablierten unterscheidet.

Was die Übertragung von Aufgaben betrifft, erlauben wir uns den radikalen Vorschlag zu machen, auf jede Eingrenzung zu verzichten. Wir wollen es vielmehr der europäischen Willensbildung überlassen, in demokratischen Wahlen die von den Menschen meist präferierte Verausgabung des Kapitalsteueraufkommens zu ermitteln. So könnten europäische Parteien von sich aus auf die Idee kommen, dafür zu werben, die Mittel für die Außen- und Verteidigungspolitik, für die Grenzsicherung, für die Forschung etc. zu verwenden. Vielleicht würden sie die Mittel auch für personelle und regionale Verteilungszwecke verwenden. Solange das Parlament nach der Regel „one man, one vote“ gewählt ist, wäre dagegen wenig einzuwenden. Es könnte aber zu einer Ausgabenkonkurrenz zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Ebene kommen, etwa während des Aufbaus einer europäischen Verteidigung. Der Bevölkerung würde eine solche Dopplung kaum zu vermitteln sein. Hinzukäme, dass nach der Übertragung von Steuerquellen auf die europäische Ebene die Steuermittel in den Mitgliedstaaten knapper denn je sein würden. Zu erwarten wäre also, dass die Bevölkerung Druck macht, die mitgliedstaatlichen Ausgaben in all jenen Bereichen zurückzufahren, in denen auf der europäischen Ebene Ausgaben getätigt werden. Das System würde in einem Prozess des Suchens und Findens aus der Ausgabenkonkurrenz hinauswachsen. Die konkrete Übertragung von Aufgaben auf die europäische Ebene ist also das weniger dringliche Problem. Das weitaus größere Problem stellt die Übertragung einer Besteuerungskompetenz dar.

Ein echtes Europäisches Parlament

Die politische Akzeptanz einer europäischen Steuer mit personellen Verteilungswirkungen steht und fällt mit der Legitimität der Erhebung, die nur ein Parlament begründen kann, das aus demokratischen Wahlen hervorgegangen ist. Das jetzige Europäische Parlament erfüllt diese Voraussetzung nicht. Die Zahl der Stimmen, die ein einzelnes Land im Parlament hat, ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Die Stimmen eines kleinen Landes werden weit höher gewichtet als die Stimmen eines großen. Europaabgeordnete aus kleinen Mitgliedstaaten wie Malta oder Luxemburg repräsentieren rund 80 000 Bürger; ihre Kollegen aus großen Ländern wie Deutschland repräsentieren mehr als zehnmal so viele Einwohner.

Der Grund für dieses Missverhältnis liegt darin, dass sich die EU-Länder hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl stark unterscheiden. Daraus ergibt sich ein Dilemma: Wenn alle Staaten im Parlament vertreten sein sollen, können die Unionsbürger nicht gleichmäßig repräsentiert sein (jedenfalls solange die Zahl der Sitze auf eine arbeitsfähige Größe beschränkt bleibt). Es kann allerdings gar nicht darum gehen, im Parlament die Mitgliedstaaten zu repräsentieren. Mit dem Rat der EU gibt es bereits eine Länderkammer, analog zum deutschen Bundesrat, in der alle Staaten vertreten sind. Das Parlament hingegen ist jener Ort, an dem sich die Vertreter der europäischen Bevölkerung versammeln sollten, gewissermaßen der Europäische Bundestag. Wie heute schon im Rahmen des „gewöhnlichen Gesetzgebungsverfahrens“ geregelt, bedürfen Gesetze der Zustimmung beider Kammern: des Parlaments und des Rates. In einem echten Parlament hingegen besäßen beide Kammern jedoch ein originäres Budgetrecht sowie das Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen. Beides ist Resultat der erhöhten Legitimität des Parlaments, das nun nach dem Grundsatz „one man, one vote“ zusammengesetzt wäre. Damit könnte erstmals auf europäischer Ebene eine echte parlamentarisch demokratische Dynamik entstehen und gestalterisch wirksam werden.

Bei der konkreten Ausgestaltung wird es darauf ankommen, die Regeln so zu formulieren, dass grenzübergreifende Wahllisten aufgestellt werden, die Stimmen aus mehreren Mitgliedstaaten benötigen, um im Parlament vertreten zu sein. Dies sollte einer Fragmentierung des Parlaments durch nationales Lagerdenken entgegenwirken. Grenzübergreifende Wahllisten wiederum könnten die Bildung transnationaler Parteien fördern. Daneben gilt es, Institutionen zu fördern, die das Entstehen einer lebendigen transnationalen europäischen Öffentlichkeit fördern, ohne die sich eine demokratische Willensbildung nach gängigem Demokratieverständnis nicht vollziehen kann. So wäre es denkbar, ein EU-weites öffentlich-rechtliches System zu etablieren, das gewissermaßen als Infrastruktur der europäischen Demokratie angesehen werden kann.

Unsere Überlegungen laufen auf eine Art europäisches „supra-nation building“ hinaus. Dies ist ein Ansatz, der darauf vertraut, dass die Schaffung von gemeinsamen Institutionen die politische Dynamik so verändert, dass sie dazu beiträgt, nationale Gegensätze zu überwinden. Unsere Überlegungen mögen auf den ersten Blick als illusionär, wenn nicht gar weltfremd erscheinen. Wir halten sie eher für eine plausible Vision. Wir meinen auch, dass das Verharren im Status quo oder das Suchen nach einem dritten Weg zwischen dem Voran und dem Zurück viel eher Politikoptionen beschreiben, die Realitätssinn vermissen lassen. Wer die politischen Chancen für ein Voran als zu klein erachtet, sollte konkreten Überlegungen für ein geordnetes Zurück nähertreten.

Title:Europe at the Crossroads – a Proposal for Political Progress

Abstract:The European Union is approaching a point where it has to decide between two options: deepening political integration or reducing it. Economists tend to be sceptical. Many would prefer to reduce the scale of integration while returning more competences to member states. The debate, though, lacks a plausible vision for the path forward. Every stable currency union needs some kind of transfer mechanism. Once this notion is accepted, the installation of a “real” European Parliament with the power to raise taxes, particularly on capital income, should be considered.

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DOI: 10.1007/s10273-017-2165-7