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Nach der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche konzentrierte sich die IG Metall weit mehr als ein Jahrzehnt vorrangig auf Lohnforderungen. Das kann Ökonomen nicht wirklich überraschen. Der Grenznutzen von Lohnzuwächsen liegt über dem weiterer Arbeitszeitverkürzungen, wenn man viele Jahre zugunsten kürzerer Arbeitszeit auf mehr Geld verzichten musste. Zudem waren die IG Metall und ihre Mitglieder vom Kampf um die 35-Stunden-Woche und den vielen unerwünschten Flexibilitätskompromissen bei der Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung erschöpft. Außerdem gab es andere Großprojekte, die lange vernachlässigt worden waren, wie die in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen gemeinsamen Entgelttarifverträge für Arbeiter und Angestellte in der Metallindustrie. Die Neueinstufung von mehreren Millionen Beschäftigten dauerte mehrere Jahre, über die auch die Kosten der Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten verteilt werden mussten.

Jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus. Die IG Metall will die Arbeitszeit wieder zum zentralen Thema der nächsten Tarifrunde machen. Dafür gibt es gute Gründe. Die 35-Stunden-Woche ist in vielen Betrieben ausgehöhlt worden. In ihrer gigantischen aktuellen Befragung von fast 700 000 Beschäftigten, kommt die IG Metall zu dem ernüchternden Ergebnis, dass mittlerweile nur noch weniger als die Hälfte der Metallbeschäftigten eine vertragliche Arbeitszeit von 35 Stunden hat. Das sind 6 Prozentpunkte weniger als noch in der Umfrage von 2013. Durch die Nutzung von Öffnungsklauseln oder die Flucht aus den Tarifen wurde in vielen Metallbetrieben die 40-, die 42- oder sogar die 44-Stunden-Woche wieder eingeführt. Hinzu kommt ein Anstieg der Überstunden. Ebenso ernüchternd ist das Ergebnis, dass nur noch 47% der Beschäftigten allgemeine Arbeitszeitverkürzungen in der Branche für wichtig halten.

Gleichzeitig zeigt die Befragung aber bei vielen Beschäftigten eine hohe Unzufriedenheit mit langen Arbeitszeiten, starren Schichtsystemen und ausgeprägte Wünsche nach mehr Gestaltungsmöglichkeiten, wie der vorübergehenden Verkürzung der Arbeitszeit. Auffällig ist auch der wachsende Kontrast zwischen den rigiden Schichtsystemen mit ihren unsozialen Arbeitszeiten in der Produktion und der zunehmenden Autonomie im Bürobereich mit Möglichkeiten, auch von zu Hause aus zu arbeiten.

Die Befragungsergebnisse wurden auf vielen Veranstaltungen mit den Mitgliedern diskutiert. Das Ergebnis ist ein Paradigmenwechsel in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik. Die Forderungen sind zwar noch nicht im Einzelnen beschlossen, aber die Richtung zeichnet sich schon ab. Die Beschäftigten sollen mehr Wahlmöglichkeiten haben, im Erwerbsverlauf ihre vertragliche Arbeitszeit zu ändern. Die IG Metall schlägt vor, dass man die Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden verkürzen kann mit einem Rückkehrrecht auf die alte Arbeitszeit. Dabei soll es einen Teillohnausgleich bei Arbeitsverkürzungen zur Kindererziehung oder Pflege geben. Dauerhafte Entlastungen – möglicherweise in Form von Arbeitszeitverkürzungen – werden für Schichtarbeiter diskutiert, die am unzufriedensten mit der Dauer und der Lage ihrer Arbeitszeit sind. Darüber hinaus bleiben die klassischen Arbeitszeitthemen relevant, wie der Schutz vor überlangen Arbeitszeiten oder die Bezahlung tatsächlich geleisteter Arbeitszeit, da viele Arbeitszeitguthaben verfallen.

Auch andere DGB-Gewerkschaften gehen in die gleiche Richtung. Zu nennen ist vor allem der letzte Tarifabschluss bei der Deutschen Bahn, der den Beschäftigten ermöglicht, die Tariferhöhung in Form von Geld, Urlaubstagen oder einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu nehmen.

Wie ist diese neue Arbeitszeitpolitik zu bewerten? Ich halte sie aus mehreren Gründen für zukunftsweisend. Erstens wünschen sich die Beschäftigten heute deutlich mehr Flexibilität im Erwerbsverlauf. Dazu hat nicht nur der häufig genannte Wertewandel beigetragen, sondern vor allem die wachsende Zeitknappheit in der Rush-Hour des Lebens mit kleinen Kindern, bei einer beruflichen Weiterbildung oder während der Pflege von Angehörigen. Die Zeitknappheit wird noch zunehmen, da mit dem Ausbau der Kinderbetreuung mehr und mehr Frauen erwerbstätig werden. Zweitens will die IG Metall die Teilzeitfalle der Vergangenheit vermeiden. Im Unterschied zur klassischen Teilzeitarbeit, die Beschäftigte oft von der internen Kommunikation, von Weiterbildung und Karriere abschneidet, bleibt man bei einer „kurzen Vollzeit“ von 28 Wochenstunden vollwertiges Belegschaftsmitglied. Drittens will sie den „Zeitdiebstahl“ durch den Verfall von Arbeitszeitguthaben der Unternehmen beenden, der anders als der „Lohndiebstahl“ durch Nichteinhaltung etwa der Tarife oder des Mindestlohns noch wenig thematisiert worden ist. Viertens will sie Belastungen vor allem für Schichtarbeiter abbauen. Für keine andere Arbeitsform liegen so belastbare Forschungsergebnisse zu den negativen Folgen auf die Gesundheit und die Lebensqualität vor. Schichtarbeiter haben eine signifikant kürzere Lebenserwartung und deutlich höhere Gesundheitsrisiken als andere Beschäftigte. In vielen Betrieben werden zudem die ergonomischen Erkenntnisse, dass eingestreute Nachtschichten weniger belastend sind als die übliche wochenweise Rotation, noch nicht umgesetzt. Fünftens schließlich ist mit der Rente mit 67 und der Diskussion über weitere Verlängerungen der Lebensarbeitszeit jedem klar geworden, dass man im Erwerbsleben mit seinen Kräften haushalten muss, wenn man die Altersgrenze erreichen will.

Die Arbeitgeberverbände haben die IG-Metall-Forderungen mit der Begründung zurückgewiesen, dass selbst vorübergehende Arbeitszeitverkürzungen nur den Fachkräftemangel erhöhen würden. Das überzeugt nicht. Durch flexible Arbeitszeiten kann man Fachkräfte binden, was ja viele Vorreiterunternehmen demonstrieren. Vor allem aber wird die zunehmende Erwerbstätigkeit qualifizierter Frauen gefördert, die bis heute oft in wenig zukunftsweisender Teilzeitarbeit oder gar in Minijobs landen. Zudem muss die Wirtschaft sowieso ihre starren Arbeitszeitnormen überdenken, wenn sie ihr Fachkräftepotenzial bis zur erhöhten Altersgrenze nutzen will. Die IG Metall kann also einen längst fälligen Modernisierungsschub in der Personalpolitik auslösen. Ohne Risiken ist der Ansatz allerdings nicht. Die Arbeitgeber werden natürlich mit der Forderung nach Optionen für vorübergehende Arbeitszeitverlängerungen kontern. Da sich viele Beschäftigte betrieblichem Druck kaum entziehen können, kann das auch zu Arbeitszeitverlängerungen führen. Dieses Risiko konnte im Tarifabschluss bei der Deutschen Bahn vermieden werden.

Schwierig ist auch der tarifliche Lohnausgleich, durch den die Betriebe je nach Beschäftigtenstruktur unterschiedlich belastet werden. Naheliegende Fondsmodelle zum Ausgleich der Belastungen sind von der IG Metall bislang noch nicht angedacht worden. Wahrscheinlich ist daher eine Vereinbarung von Höchstquoten der Inanspruchnahme, wie bei der Altersteilzeit, um die Kosten kalkulierbar zu halten. Es bleibt dann der Schönheitsfehler, dass die Wahlmöglichkeiten in den Betrieben sehr unterschiedlich ausfallen. Hier zeigen sich die Grenzen der Tarifpolitik. Der Lohnausgleich für gesellschaftlich gewünschte vor­übergehende Arbeitszeitverkürzungen bei Kindererziehung, Pflege oder Weiterbildung muss ein universelles Recht für alle Beschäftigten sein. Er müsste daher gesetzlich geregelt und über Steuern finanziert werden. Von dieser Aufgabe darf man den Staat auch nicht entlasten, wenn man bei diesen Rechten eine Zweiklassengesellschaft der Beschäftigten mit und ohne Tarifbindung verhindern will.


DOI: 10.1007/s10273-017-2173-7