Aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung steht Deutschland erst am Anfang eines langfristigen Abeitskräftemangels.1 Dabei besteht nicht nur ein Fachkräftemangel, sondern ein grundlegendes Problem, eine ausreichende Zahl von Arbeitskräften zu gewinnen. Die aktuelle Rezession und der Transformationsprozess haben zwar zu einem Rückgang der Arbeitsnachfrage geführt. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich der Arbeitskräftemangel fortsetzen wird. Selbst wenn unterstellt wird, dass sich die Erwerbsbeteiligung inländischer Personen künftig erhöht, wäre rechnerisch ein Wanderungssaldo von 400.000 Personen erforderlich, um das Erwerbspersonenpotenzial konstant zu halten (Fuchs et al., 2021).
Entwicklung des Arbeitsvolumens
Das Arbeitsvolumen ist in Deutschland in den letzten 20 Jahren – mit Ausnahme der Coronaphase – aufgrund der Zunahme an Erwerbstätigen stetig gestiegen (Abbildung 1). Von 2005 bis 2023 nahm das Arbeitsvolumen von 58,6 Mrd. Stunden bis auf 61,7 Mrd. Stunden zu. Dabei ist zum einen die Erwerbstätigenquote2 von Frauen von 63 % (2000) auf 75 % (2022) gestiegen. Zum anderen ist heute ein weitaus höherer Anteil älterer Personen erwerbstätig. In der Altersgruppe ab 60 Jahren hat sich die Erwerbstätigenquote sogar von über 20 % auf über 60 % erhöht. Damit ist es gelungen, das Erwerbspotenzial der Älteren in einem hohen Maße zu mobilisieren.
Abbildung 1
Erwerbstätige, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen
2005 = 100


Dargestellt ist die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen, die mindestens eine Stunde pro Woche arbeiten, das Arbeitsvolumen, also das Produkt aus Erwerbstätigen- und Stundenzahl, sowie die jährliche Arbeitszeit pro erwerbstätiger Person in Stunden.
Quelle: IAB-Arbeitszeitrechnung (Wanger, 2023).
Neben der Zahl der Erwerbstätigen bestimmt sich das Arbeitsvolumen auch nach dem Erwerbsumfang, also der Arbeitszeit. Ergebnisse aus der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass sich die jährliche Arbeitszeit seit dem Jahr 2000 bei den Männern deutlich vermindert hat. Bei den Frauen dagegen ist sie auf bereits niedrigem Niveau in geringerem Maße noch weiter zurückgegangen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: geänderte Arbeitszeitwünsche, die Zunahme von Teilzeitbeschäftigung und tarifvertragliche Arbeitszeitverkürzungen.
Der Sachverständigenrat (2024, S. 70) geht davon aus, dass das inländische Arbeitsvolumen bis zum Ende des Jahrzehnts zurückgehen wird. Dies liegt am erwarteten weiteren Rückgang der Arbeitszeit, aber besonders auch an der sinkenden Erwerbstätigenquote bei einem höheren Anteil von Personen im fortgeschrittenen Erwerbsalter. Maßnahmen zur besseren Ausschöpfung des Arbeitskräftepotenzials sind daher für das künftige wirtschaftliche Wachstum von kaum zu überschätzender Bedeutung.
Die Potenziale
Deutschland gehört im internationalen Vergleich des Arbeitsvolumens pro Person im erwerbsfähigen Alter zu den Ländern mit dem niedrigsten Arbeitsvolumen (Stiftung Familienunternehmen, 2024, S. 19). Zu untersuchen ist deshalb, bei welchen Gruppen Potenziale zu einer Ausweitung des Beschäftigungsumfangs, also insbesondere der wöchentlichen Arbeitszeiten, und zu einer Erhöhung der Erwerbstätigenquote vorhanden sind. Im Fokus stehen Frauen mit Kindern bis unter 14 Jahren und Frauen allgemein, Personen mit Migrationshintergrund, Personen ohne berufliche Ausbildung und Ältere. Der Mikrozensus 2019, der hier als Datenquelle verwendet wird, bietet ausreichende Fallzahlen, um diese Teilgruppen auch im Hinblick auf ihre Altersstruktur repräsentativ zu erfassen.
Die Potenziale werden durch eine Vergleichsgruppenanalyse ermittelt. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Unterschied in der Arbeitszeit oder der Erwerbstätigkeit zu einer geeigneten Vergleichsgruppe auf die Hälfte reduziert wird. Zum Verständnis: Die Veränderung in diesem Ausmaß ist keine Vorhersage, sondern eine Setzung, die als realistische Zielmarke zu verstehen ist.
Auswertungen der Arbeitszeiten mit dem Mikrozensus ergeben, dass nur bei Frauen Potenziale in der Verlängerung der Wochenarbeitszeit bestehen, während sich die anderen Gruppen in der Arbeitszeit kaum von den Benchmarks unterscheiden. Bei den Personen mit Migrationshintergrund, gering Qualifizierten und Älteren bestehen die Potenziale also in erster Linie in einer möglichen Erhöhung der Erwerbstätigkeit.
Wie sind die Potenziale zu erreichen? Hierfür wurde eine Ursachenanalyse auf der Basis vorwiegend quantitativer Studien durchgeführt. Daraus ergaben sich Handlungsansätze, die in Expertenrunden mit Personen aus Familienunternehmen und Stakeholdern aus der öffentlichen Verwaltung sowie Verbänden konkretisiert wurden.
Frauen mit Kindern bis unter 14 Jahren
Abbildung 2 zeigt den Anteil der Erwerbstätigen mit mindestens einer Stunde in der Woche bei Frauen nach Altersjahrgängen in Abhängigkeit davon, ob Kinder bis unter 14 Jahren im Haushalt leben. Frauen mit Kindern bis unter 14 Jahren sind deutlich seltener erwerbstätig als andere Frauen. Dies gilt vor allem für die Altersspanne bis 35 Jahre, in der diese Kinder zumeist deutlich jünger als 14 Jahre sind. Die Lücke schließt sich erst nach einem Lebensalter von 40 Jahren, wenn die Kinder nicht mehr so intensiv betreut werden müssen.
Abbildung 2
Anteil erwerbstätiger Frauen nach Alter


Quelle: Mikrozensus 2019, eigene Auswertungen.
Für die Bestimmung der Größe des Potenzials wird die Schließung der Lücke im Anteil der Erwerbstätigen zu Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren zur Hälfte definiert, also die Hälfte des vertikalen Abstands zwischen den beiden Kurven. Die Berechnung erfolgt für jeden Altersjahrgang. Beispielsweise sind 69 % der 35-jährigen Mütter von Kindern bis unter 14 Jahren erwerbstätig, in der Benchmark-Gruppe der Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren in diesem Alter sind es dagegen 86 %. Die Schließung der Lücke zur Hälfte bedeutet damit einen Anstieg der Erwerbstätigenquote um 8,5 Prozentpunkte. Genauso wird in den anderen Altersjahrgängen vorgegangen. Nach diesem Szenario wären insgesamt 477.000 Personen zusätzlich erwerbstätig.
Auch zur Abschätzung des Potenzials längerer Arbeitszeiten werden Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren als Benchmark verwendet. Es ergeben sich deutliche Unterschiede, beispielsweise haben 35-jährige Mütter von Kindern bis unter 14 Jahren durchschnittlich eine wöchentliche Arbeitszeit von 27 Stunden, in der Benchmark-Gruppe der Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren in diesem Alter sind es 37 Stunden. In Abbildung 3 zeigt sich vor allem die weite Verbreitung von Teilzeittätigkeiten im Umfang von 20 bis 24 Stunden wöchentlich.
Im Szenario, dass der Unterschied in der wöchentlichen Arbeitszeit um die Hälfte reduziert werden kann, würden 984 Mio. Arbeitsstunden zusätzlich geleistet. Das entspricht 717.000 zusätzlichen Arbeitskräften umgerechnet mit der durchschnittlichen Stundenzahl der Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren von 1.373 Arbeitsstunden.
Abbildung 3
Arbeitszeiten von Frauen mit und ohne Kinder


Lesebeispiel: Der hellblaue Punkt in der senkrechten Verlängerung von „20 bis 24“ meint, dass gut 20 Prozent aller berufstätigen Frauen eine wöchentliche Arbeitszeit von 20 bis 24 Stunden haben.
Quelle: Mikrozensus 2019, eigene Auswertungen.
Die Handlungsempfehlungen
Wo können Handlungsempfehlungen zur Realisierung des Potenzials ansetzen? Die im Mikrozensus befragten Mütter von Kindern im Alter bis unter 14 Jahren geben zu 68 % die Betreuung der Kinder als Hauptgrund für ihre Teilzeitbeschäftigung an, weitere 13 % der Befragten nennen persönliche und familiäre Verpflichtungen (Stiftung Familienunternehmen 2024, S. 26). Die Ausweitung der institutionellen Kinderbetreuung ist daher der Schlüssel für eine längere Arbeitszeit und damit auch für die Erhöhung der Erwerbstätigkeit. So weisen Bauernschuster und Schlotter (2015) nach, dass eine Erhöhung der Betreuungsquote durch Kitas um 10 Prozentpunkte zu einem Anstieg der Beschäftigungswahrscheinlichkeit von Frauen mit drei- oder vierjährigen Kindern um knapp 4 Prozentpunkte führt.
Die Ausweitung der Kinderbetreuung erfordert eine Mehrzahl von Maßnahmen:
- Die Betreuungszeiten sollten flexibler gestaltet, erweitert und verlässlicher werden. Der ab 2026 geltende Rechtsanspruch auf Ganztagesbetreuung für Kinder im Grundschulalter sollte vollständig umgesetzt werden.
- Die gesetzlichen Anforderungen für Betriebs-Kitas sollten vereinfacht werden. Hier sind die Bundesländer gefordert, die z. B. im Rahmen von Erprobungsklauseln Anforderungen versuchsweise lockern können.
- Die Gründung von Betriebs-Kitas sollte durch Beratung und Unterstützung bei der Planung und Einrichtung von Kitas (auch in der Kommunikation mit Behörden) erleichtert werden.
- Eine steuer- und abgabenfreie Betreuung in Ferienzeiten für schulpflichtige Kinder würde es Unternehmen erleichtern, derartige Leistungen zu erbringen.
Beispiele von Unternehmen zeigen, dass eine entlastende „Gesamtkoordination“, eine „erweiterte Familie am Arbeitsplatz“ sowie Vereine, Seniorenclubs und Netzwerke für Familien hilfreich sind. Diese können einspringen, wenn Engpässe bei der Betreuung aufkommen.
Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren
Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren unterscheiden sich in der Erwerbsteilnahme nur unwesentlich von Männern, aber deutlich im Hinblick auf die wöchentliche Arbeitszeit. Denn auch diese Frauen arbeiten häufig in Teilzeitbeschäftigung (Abbildung 3), während dies noch immer nur für wenige Männer gilt. Das Szenario fragt danach, wie viele Stunden in der Gesamtwirtschaft realisiert würden, wenn die Lücke zwischen der Arbeitszeit von Männern und Frauen ohne Kinder bis unter 14 Jahren zur Hälfte geschlossen würde. Die Berechnungen ergeben, dass in diesem Szenario über 2,3 Mio. Arbeitsstunden zusätzlich geleistet würden. Dies entspricht umgerechnet mit der durchschnittlichen Stundenanzahl der Männer knapp 1,7 Mio. Arbeitskräften. Damit ist das in diesem Szenario ermittelte Potenzial höher als das aller anderen Potenziale.
Ein wesentlicher Grund für den hohen Teilzeitanteil besteht nach vorliegenden Studienergebnissen darin, dass die finanziellen Anreize für eine Vollzeittätigkeit zu gering sind (z. B. Bick & Fuchs-Schündeln, 2018). Um den Beschäftigungsumfang von teilzeitbeschäftigten Frauen ohne betreuungspflichtige Kinder zu erhöhen, sollten vor allem die steuerlichen und sozialrechtlichen Rahmenbedingungen geändert werden. Auch die steuerlichen Vorteile für verheiratete Paare müssten sich ändern. Dadurch würde es für viele Frauen attraktiver, mehr Stunden zu arbeiten. Um mehr reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, sollten die Regelungen für Minijobs eingeschränkt werden. Manchmal fehlt aber auch ein Problembewusstsein dafür, welche finanziellen Einbußen besonders im Fall einer Scheidung oder im Alter mit Teilzeit einhergeht. Die Deutsche Rentenversicherung sollte da-her in den jährlichen Renteninformationsschreiben die finanziellen Vorteile einer Erhöhung der Arbeitszeit auf die künftigen Rentenzahlungen sichtbar machen.
Teilzeittätigkeiten im späteren Lebensalter sind vielfach in früheren Phasen der Erwerbstätigkeit angelegt. Die Anreize für eine Vollzeittätigkeit sind höher, wenn Erwerbsunterbrechungen nicht mit Nachteilen für die spätere berufliche Entwicklung verbunden sind. Daher sollten Frauen nach der Familienphase nicht nur in ihre vorherigen Tätigkeiten zurückkehren, sondern vermehrt auch beruflich aufsteigen können.
Zugewanderte und Personen mit Migrationshintergrund
Zugewanderte und andere Personen mit Migrationshintergrund haben eine geringere Erwerbsbeteiligung als Personen ohne Migrationshintergrund. Abbildung 4 zeigt die Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung nach dem Migrationsstatus bei Frauen, bei denen die Unterschiede besonders ausgeprägt sind. Die geringste Erwerbsbeteiligung haben Personen, die im Jahr 2010 oder später nach Deutschland eingereist sind. Es folgen vor 2010 Zugewanderte und Personen, die einen Migrationshintergrund haben, aber in Deutschland geboren sind, d. h. Zugewanderte der zweiten oder dritten Generation. Diese Abfolge besteht auch bei den Männern.
Die Berechnung der Arbeitsmarktpotenziale geht von dem Szenario aus, dass die Lücke zum jeweils nächsten Migrationsstatus (z. B. Zugewanderte bis 2010 statt Zugewanderte seit 2010) zur Hälfte geschlossen wird. Insgesamt könnten danach 432.000 Personen zusätzlich erwerbstätig sein, davon entfallen allein 194.000 Personen auf die Gruppe der seit 2010 Zugewanderten.
Besonders niedrig ist die Erwerbstätigkeit von zugewanderten Frauen. Ein wichtiger Grund ist, dass Kinder weniger häufig eine Kita besuchen, wenn beide Eltern einen Migrationshintergrund haben oder zu Hause vorwiegend kein Deutsch gesprochen wird (Spieß, 2022). Um Zugewanderte über die Möglichkeiten und den für alle geltenden Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz aufzuklären, sollten die Beratungsangebote verbessert werden. Zudem sollten Unternehmen Informationsmaterialien für ihre zugewanderten Fachkräfte bereitstellen. Bei den Unternehmen gibt es erfolgreiche Beispiele für Dual Career-Netzwerke, die Partner:innen von zugewanderten Fachkräften neue berufliche Perspektiven in Deutschland aufzeigen.
Abbildung 4
Erwerbstätigenquote von Frauen mit Migrationshintergrund


Quelle: Mikrozensus 2019, eigene Auswertungen.
Bei den Zugewanderten steht einer Erwerbstätigkeit häufig entgegen, dass Integrations- und Berufssprachkurse überwiegend in Vollzeit angeboten werden und daher schlecht mit einer Erwerbstätigkeit kombiniert werden können. Daher sollten im Bereich der Sprachkurse mehr Teilzeitangebote geschaffen werden, vor allem sollte das Erlernen der deutschen Sprache in Unternehmen gefördert werden. Zugleich müssen die Verfahren für die berufliche Anerkennung in reglementierten Berufen entbürokratisiert und damit beschleunigt werden.
Personen ohne Berufsabschluss
Bei den Erwerbstätigenquoten bestehen erhebliche Unterschiede nach Qualifikationen. Unterschieden wird zwischen Personen ohne Berufsabschluss, mit beruflichem Ausbildungsabschluss, mit einer fortgeschrittenen beruflichen Qualifikation (insbesondere Meister- oder Technikerabschlüsse) sowie mit Hochschulabschluss.
Je höher die Qualifikation, desto höher die Erwerbstätigenquote, aber nirgendwo sind die Unterschiede so groß wie zwischen Gering- und beruflich Qualifizierten (Abbildung 5). Dies gilt für Männer ähnlich wie für Frauen, wobei die Unterschiede vor allem bei den jüngeren Frauen noch einmal größer sind.
Als Szenario wird untersucht, wie viele Erwerbstätige zusätzlich gewonnen werden könnten, wenn die Lücke in der Erwerbstätigenquote zur jeweils folgenden Qualifikationsgruppe zur Hälfte geschlossen würde. Der errechnete Zuwachs der Erwerbstätigkeit ist erheblich: Insgesamt ergeben sich knapp 1,2 Mio. Erwerbstätige zusätzlich. Davon geht mehr als die Hälfte (609.000 Beschäftigungsverhältnisse) auf die Gruppe der Personen ohne Berufsabschluss zurück.
Abbildung 5
Erwerbstätigenquoten von Frauen nach Qualifikation


Quelle: Mikrozensus 2019, eigene Auswertungen.
Anders als im Szenario unterstellt, steigt seit mehr als zehn Jahren der Anteil der Ausbildungslosen, also derjenigen, die dauerhaft ohne einen beruflichen oder Studienabschluss verbleiben (Stiftung Familienunternehmen, 2024, S. 20). Ausbildungslosigkeit führt zu Arbeitslosigkeit, wenn mangelnde Arbeitsanreize bei geringen Löhnen die Betroffenen daran hindern, eine Beschäftigung aufzunehmen. Dies gilt insbesondere, wenn das erzielbare Einkommen im Vergleich zur Unterstützung in der Familie oder dem Transferbezug gering ist (Blömer & Peichl, 2020).
Ausbildungslosigkeit zu vermeiden, ist ein Ziel, das auf unterschiedlichen Stufen des Bildungs- und Übergangsverlaufs ansetzen muss. Im Berufswahlprozess müssen Jugendliche noch besser über Ausbildungsberufe, Karrieremöglichkeiten und Förderungen informiert werden. Bei aller Schwierigkeit, hier wirksame Lösungen zu finden, gibt es durchaus erfolgreiche Beispiele, wenn eine Direktansprache gelingt (z. B. „Talent Company“ der Strahlemann-Stiftung) und Jugendliche mit Ausbildungsbetrieben zusammengebracht werden können (z. B. auch durch Praktika). Bei Jugendlichen mit besonderen schulischen oder familiären Schwierigkeiten sind in der Regel eine individuelle Begleitung und ein Mentoring notwendig.
Vielen nicht beruflich qualifizierten Personen gelingt es auf Dauer nicht, Zertifikate und Qualifikationen oder nachträglich Abschlüsse zu erwerben, auch wenn die erforderlichen Fähigkeiten und die nötige Motivation vorhanden sind. Teilqualifizierungen sollten in größerem Umfang als bisher angeboten und die Finanzierungsmöglichkeiten verbessert werden.
Ältere Personen
Die Erwerbstätigkeit hat in Deutschland zwischen 2010 und 2020 bei den älteren Personen erheblich zugenommen. Dies gilt für Frauen noch stärker als für Männer. Doch die Erwerbstätigenquote geht ab einem Alter von 60 Jahren relativ schnell zurück.
Im letzten Szenario wird unterstellt, dass der Unterschied in der Erwerbstätigenquote jedes Altersjahrgangs ab 50 Jahre zum nächstjüngeren Altersjahrgang zur Hälfte reduziert werden kann. Beispiel: Mit 62 Jahren arbeiten noch 66,8 % des Altersjahrgangs, mit 63 Jahren 53,7 %. Das Szenario basiert darauf, dass die Erwerbstätigkeit mit 63 Jahren um die Hälfte der Differenz zwischen 66,8 % und 53,7 % steigt, also auf 60,2 %. Insgesamt ergibt das Szenario 414.000 Erwerbstätige zusätzlich, davon 250.000 in der Altersgruppe der 61- bis 65-Jährigen. Aber auch bei den Älteren bis 70 ergibt sich ein Potenzial von 78.000 Erwerbstätigen.
Die Gründe für einen frühen Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit sind vielfältig, aber maßgeblich sind in erster Linie die finanziellen Anreize durch das Rentenversicherungssystem. Reformen zur Minderung dieser Anreize haben in der Vergangenheit die Erwerbstätigenquoten deutlich erhöht (Geyer & Welteke, 2021). Durch die Einführung der abschlagsfreien Altersrente für besonders langjährig Versicherte („Rente mit 63“) wurde die Erwerbsbeteiligung jedoch wieder reduziert (Dolls & Krolage, 2023). Ähnlich wie in Österreich sollte diese Rentenart auf besonders belastete Berufe begrenzt werden.
Einer Weiterbeschäftigung nach dem regulären Rentenalter steht oft entgegen, dass die Möglichkeiten dazu, z. B. das seit 2017 bestehende Flexirentengesetz, kaum bekannt sind. Auf der Seite der Arbeitgeber stehen einer Weiterbeschäftigung gesetzliche (im öffentlichen Dienst) oder tarifvertragliche Gründe entgegen. Auch die Neueinstellung von Beschäftigten, die das Rentenalter schon erreicht haben, ist nicht ohne Probleme. Betriebe scheuen häufig eine unbefristete Beschäftigung. Ein befristeter Arbeitsvertrag lässt sich aber oft nicht rechtssicher schließen.
Fazit
Die größten Potenziale für den Arbeitsmarkt liegen der Analyse zufolge in der Ausweitung des Arbeitsumfangs und der Reduzierung von Teilzeit- und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Besonders die nicht genutzten Potenziale bei Frauen, die keine Kinder (mehr) betreuen, fallen ins Auge. Umgerechnet in Beschäftigtenzahlen, ließen sich knapp 1,7 Mio. zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse realisieren (Abbildung 6). Hier liegen nicht allein Potenziale für wirtschaftliche Wertschöpfung, sondern es geht zugleich um ein wichtiges gleichstellungspolitisches Thema.
Abbildung 6
Übersicht über die Beschäftigungspotenziale


Zu berücksichtigen ist, dass sich die Potenziale überlappen – zugewanderte Frauen sind beispielsweise zugleich häufig Mütter von Kindern bis unter 14 Jahren. Daher können die in der Abbildung dargestellten Zahlen nicht zu einem Gesamtpotenzial addiert werden.
Quelle: Mikrozensus 2019, eigene Auswertungen.
Frauen mit Kindern bis unter 14 Jahren sind häufig durch mangelnde Betreuungsmöglichkeiten daran gehindert, ihren Arbeitsumfang zu erhöhen und dadurch ihre beruflichen Pläne zu verwirklichen. Dies hat vielfach nachteilige längerfristige Folgen für die berufliche Entwicklung. Mit umgerechnet über 700.000 zusätzlichen Beschäftigungsverhältnissen ist dies eines der größten nicht verwirklichten Potenziale am Arbeitsmarkt. Das Arbeitsvolumen ließe sich zudem deutlich steigern, wenn Personen, die bisher nicht am Arbeitsmarkt partizipieren, mehr Chancen für eine Erwerbstätigkeit eröffnet würden. Hierunter fallen Personen mit geringen beruflichen Qualifikationen, denen bessere Perspektiven zu vollwertigen beruflichen Tätigkeiten eröffnet werden sollten, Zugewanderte und darunter besonders zugewanderte Frauen sowie – trotz großer Erfolge bei der Steigerung der Erwerbsbeteiligung – ältere Erwerbsfähige, deren Potenziale noch immer nicht realisiert werden.
Die Ursachen für die Nichtausnutzung der Potenziale sind gut erforscht. Ein Thema von erstrangiger Bedeutung ist die Betreuung von Kindern in Kitas, aber auch von schulpflichtigen Kindern außerhalb von Ganztagsschulen sowie in Ferienzeiten. Hinsichtlich der zu erwartenden Wirkungen von Reformen beim Ehegattensplitting, bei der geringfügigen Beschäftigung oder der Rente für besonders langjährige Versicherte liegen umfangreiche Forschungsergebnisse vor. Jenseits der großen Vorhaben gibt es viele zunächst weniger ambitioniert scheinende Vorhaben, die ebenfalls wichtige Beiträge leisten können. Vielfach fehlen den Zielgruppen Informationen, beispielweise über die gesetzlichen Rahmenbedingungen wie bei den Möglichkeiten der Flexirente oder über vorhandene Ressourcen und Anlaufstellen. Der Informationsaustausch und die Interaktion – „Onboarding“, „Outboarding“, „Tandems“ und viele weitere Formate – sind zentral dafür, dass sich die Beteiligten über die Möglichkeiten klar werden. Viele der entsprechenden Handlungsoptionen gehen auf Unternehmen zurück, die diese Formate bereits erfolgreich praktizieren.
- 1 Die hier dargestellten Ergebnisse basieren auf einer Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen, München (Stiftung Familienunternehmen, 2024).
- 2 Die Erwerbstätigenquote ist definiert als Anteil der tatsächlich erwerbstätigen Personen an der Zahl der Personen im Alter von 15 bis 64 Jahren.
Literatur
Bauernschuster, S., & Schlotter, M. (2015). Public child care and mothers‘ labor supply. Evidence from two quasi-experiments. Journal of Public Economics, 123, 1–16.
Bick, A. & Fuchs-Schündeln, N. (2018). Taxation and Labor Supply of Married Couples across Countries: A Macroeconomic Analysis. Review of Economic Studies, 85(3), 1543–1576.
Blömer, M. & Peichl, A. (2020). Für wen lohnt sich Arbeit? Partizipationsbelastungen im deutschen Steuer-, Abgaben- und Transfersystem. Bertelsmann Stiftung.
Dolls, M. & Krolage, C. (2023). ‘Earned, Not Given’? The Effect of Lowering the Full Retirement Age on Retirement Decisions. Journal of Public Economics, 223(C), Elsevier.
Fuchs, J., Söhnlein, D. & Weber, B. (2021). Demografische Entwicklung lässt das Arbeitskräfteangebot stark schrumpfen. IAB-Kurzbericht, 25/2021. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Geyer, J. & Welteke, C. (2021). Closing Routes to Retirement for Women: How Do They Respond? Journal of Human Resources, 56(1), 311–341.
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2024). Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren. Jahresgutachten 2024/25.
Spieß, C. K. (2022). Kita-Ökonomik – eine Perspektive für Deutschland. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 23(1), 25–37.
Stiftung Familienunternehmen. (2024). Arbeitskräftepotenziale in Deutschland besser ausschöpfen, 60 Handlungsempfehlungen für Verwaltung, Politik und Praxis, erstellt vom Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung.
Wanger, S. (2023). Erwerbstätigkeit, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen von Frauen und Männern – Entwicklungen seit der Covid-19-Pandemie. IAB-Forschungsbericht, 18/2023. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung.
Title: If More People Worked: Potential of the German Labour Market
Abstract: The significant labour shortage in Germany could be alleviated if the domestic labour potential was better utilised. The most significant potential is found in part-time working women without children under the age of 14. If 50% of this group worked full time in the corresponding age groups, an additional 1.7 million full-time workers would be added to the labour market. Further potential lies in the targeted promotion of professional qualifications among mothers of children under the age of 14 and among older employees.