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Bereits zu Beginn des Jahres 2019 verkündete Finanzminister Olaf Scholz, dass er „keine unvorhergesehenen Mehreinnahmen“ mehr erwarte. So seltsam dieser Ausspruch klingt, so sehr trifft er doch das, was in den vergangenen Jahren Finanzpolitiker erlebt haben und sich im Gegensatz dazu 2019 abzeichnet. Die Ergebnisse der zweimal im Jahr stattfindenden Steuerschätzung wurden Mal für Mal übertroffen. Von Frühjahr 2015 bis November 2018 wurden die Einnahmeerwartungen fast durchgängig nach oben korrigiert (vgl. Abbildung 1). Gründe für die Aufwärtsrevisionen sind vielfältig. Der starke Beschäftigungsaufschwung wurde lange Zeit unterschätzt, ebenso der Boom des Jahres 2017. Zudem stiegen z. B. im Jahr 2016 die Einnahmen der Körperschaftsteuer mit 40 % nochmal deutlich stärker, als es selbst die stärkste Konjunktur hätte vermuten lassen. Vor diesem Hintergrund konnte stets spielend die Schuldenbremse und sogar die „schwarze Null“ eingehalten werden.

Im Mai 2019 musste dann der Ausblick auf die Steuereinnahmen das erste Mal seit 2014 merklich nach unten korrigiert werden. Die aktuelle Steuerschätzung kann trotz des nochmals verschlechterten konjunkturellen Umfelds hingegen als Bestätigung der Perspektive aus dem Mai gewertet werden. Im Vergleich zum Frühjahr stehen moderate Mehreinnahmen für das laufende Jahr dabei einer etwas schwächeren Dynamik in den kommenden Jahren entgegen. Die konjunkturelle Schwächephase hat allerdings die Debatte um die Haushaltsziele des Bundes nochmals verschärft. Viele Stimmen stellen die Schuldenbremse infrage und nochmal mehr die „schwarze Null“. Angesichts niedriger Zinsen und steigender Konjunktursorgen gibt es Forderungen, der Bund solle Defizite eingehen. Und genau das ist für die kommenden Jahre der Plan, wenn auch moderate, aber so doch Defizite im Finanzierungssaldo zu machen, und zugleich die „schwarze Null“ einzuhalten. Wie passt das zusammen?

„Schwarze Null“ und Schuldenbremse

Die „schwarze Null“ und die Schuldenbremse beziehen sich beide auf den Bundeshaushalt in Abgrenzung der Finanzstatistik. Während die „schwarze Null“ eigentlich die Nettokreditaufnahme gänzlich ausschließt, findet bei der Anwendung der Schuldenbremse eine Konjunkturbereinigung statt und zudem ist eine strukturelle Nettokreditaufnahme von 0,35 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt erlaubt. Die beiden Konzepte sind folglich nicht identisch.1 Insbesondere in konjunkturellen Schwächephasen, sofern diese von dem Konjunkturbereinigungsverfahren als solche gemessen werden, erlaubt die Schuldenbremse eine merkliche Inanspruchnahme der Nettokreditaufnahme.2

Abbildung 1
Schätzabweichung der Steuerschätzung für den Bund, 2014 bis 2019
Schätzabweichung der Steuerschätzung für den Bund, 2014 bis 2019

Anmerkung: Summe der Differenz zwischen den Schätzterminen für die bei beiden Terminen geschätzten Jahre.

Quelle: Bundesfinanzministerium, eigene Berechnungen.

Bei der Bewertung der aktuellen Situation ist es allerdings wesentlich darauf zu verweisen, dass sich beide Konzepte auf die Nettokreditaufnahme und nicht auf den Finanzierungssaldo beziehen. Letzterer wird in Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für die fiskalische Überwachung des Gesamtstaats, also inklusive Länder, Kommunen und Sozialversicherungen, auf europäischer Ebene herangezogen (laut Fiskalvertrag liegt die Obergrenze für den strukturellen Fehlbetrag bei 0,5 % in Relation zum Bruttoinlandsprodukt). Die Nettokreditaufnahmen und der Finanzierungssaldo unterscheiden sich in einiger Hinsicht. Der Finanzierungssaldo stellt grob gesprochen die Ausgaben gegen die Einnahmen, während die Nettokreditaufnahme vereinfacht gesagt auf die Veränderung des Bruttoschuldenstands abzielt. Allerdings sind dabei zeitliche „Verschiebungen“ erlaubt, denn das Haushaltsrecht sieht vor, dass z. B. Rücklagen gebildet werden können, die das Verhältnis zwischen Veränderung des Bruttoschuldenstands und Nettokreditaufnahme bezogen auf das einzelne Haushaltsjahr verzerren können. Rücklagen müssen nämlich nicht unbedingt als Einlagen auf den Konten des Staates oder als Geldbündel in den Tresoren des Finanzministeriums liegen. Bei Auflösen der Rücklage können im gleichen Umfang Kredite aufgenommen werden wie bei Bildung der Rücklage Kredite getilgt oder weniger Kredite als eigentlich bewilligt aufgenommen wurden. Der Begriff Nettokreditaufnahme im Bundeshaushalt bezieht sich somit auch nicht auf die jährliche Veränderung der ausstehenden Schuldtitel, sondern vielmehr auf die im betreffenden Haushaltsjahr „neu“ entstandene Kreditbewilligung. Beim Konzept des Finanzierungssaldos wie er in den Europäischen Haushaltsüberwachungen genutzt wird, sind Rücklagen hingegen ohne Bedeutung.

Die Rücklagen von 2014 bis 2018 erlauben jetzt zusätzliche Kredite unter der „schwarzen Null“

Durch Rücklagen können somit Kreditbewilligungen zwischen den Jahren verschoben werden. Und genau dies ist in den vergangenen Jahren in beachtlichem Umfang geschehen. Als der Bund ab 2014 das jeweilige Haushaltsjahr mit einem Überschuss abschloss, stand man vor der Wahl, eine negative Nettokreditaufnahme auszuweisen, also effektiv und „endgültig“ Schulden zu tilgen oder Rücklagen zu bilden. Letzteres wurde getan. Anstatt der Überschüsse wies der Bundeshaushalt immer wieder die „schwarze Null“ aus und inzwischen sind Rücklagen von 35,2 Mrd. Euro aufgelaufen. Die Überschüsse von gestern sind somit der Kreditrahmen von heute, ohne dabei die „schwarze Null“ anzutasten.

In der Finanzplanung des Bundes, die mit dem Haushaltsentwurf im Juni bzw. mit dem Finanzbericht 2020 im August 2019 vorgelegt wurde, wird nun damit gerechnet, dass die Rücklagen bis 2022 vollständig aufgebraucht werden. Aus Sicht des Finanzierungssaldos sind also von Seiten des Bundes Defizite geplant. Dies war schon für das Jahr 2019 anvisiert. Doch dürften niedrigere Zinsausgaben und die im laufenden Jahr noch robusten Steuereinnahmen den Bund davor bewahren, bereits auf die Rücklagen zurückzugreifen. Im Jahr 2020 soll sich der Abbau der Rücklagen laut Finanzbericht 2020 dann auf über 9 Mrd. Euro belaufen und somit nahe an die 0,35 % heranreichen, die aus Sicht der Schuldenbremse als strukturelle Nettokreditaufnahme erlaubt wären.

Abbildung 2
Geplante investive Ausgaben des Bundes nach Planungsjahr
Geplante investive Ausgaben des Bundes nach Planungsjahr

Quelle: Bundesfinanzministerium: Finanzberichte 2016 bis 2020.

Mit dem bereits im August 2019 vorgelegten Finanzbericht 2020 ist vorgezeichnet, dass das Aufbrauchen der Rücklagen bis 2022 eine Hürde für das Jahr 2023 impliziert. Die „schwarze Null“ muss dann wieder ohne Rückendeckung der Rücklage erreicht werden, was bedeutet, dass der negative Finanzierungssaldo der Vorjahre ausgeglichen werden muss, um die „schwarze Null“ beizubehalten. Für die Planzahlen 2023 bedeutet dies, dass trotz eines im Finanzplan erwarteten Anstiegs der Steuereinnahmen von rund 3 % die Ausgaben nur um 0,8 % zulegen werden. In realer Rechnung sollen die Ausgaben des Bundes sinken. In den Zahlen des Finanzberichts fehlen zudem noch die Mehrausgaben durch die Grundrente, auch könnten mit dem neuen Finanzrahmen der EU ab 2022 nach einem möglichen Brexit zusätzliche Ausgaben anfallen. Die „schwarze Null“ ist über den mittelfristigen Finanzplanungshorizont somit nur durch einen Sparkurs zu konservieren. Der Abbau der Rücklagen ist dabei eine Art vorübergehender Schluck aus der Pulle, der im kommenden Jahr die Konjunkturdelle ausgleicht und in der Folge die Mehrausgaben und Mindereinnahmen zunächst abfedert. Doch nachdem die Rücklagen aufgebraucht sein werden, ist, sofern weiter mit der „schwarzen Null“ geplant wird, mit Konsolidierungsmaßnahmen zu rechnen.

Die Erfahrung lehrt, dass Konsolidierung oft zuerst bei den investiven Ausgaben ansetzt. Die Forderung nach zusätzlichen Defiziten werden auch deshalb häufig im Zusammenhang mit der Investitionstätigkeit gestellt.3 Bereits in der mit dem aktuellen Finanzbericht vorliegenden Finanzplanung werden die investiven Ausgaben, die nicht nur die direkten Investitionsausgaben des Bundes, sondern auch Fördermaßnahmen für andere Teile des Staates und Private umfassen, in der mittleren Frist „nur“ konstant gehalten. In realer Rechnung ist somit ein Absinken geplant. Die bereits genannten und als wahrscheinlich geltenden zusätzlichen Ausgaben für Grundrente und die EU dürften die investiven Ausgaben zusätzlich unter Druck setzen.

Abbildung 3
Geplante Zinsausgaben des Bundes nach Planungsjahr
Geplante Zinsausgaben des Bundes nach Planungsjahr

Quelle: Bundesfinanzministerium: Finanzberichte 2016 bis 2020.

Dazu ist anzumerken, dass in der Mittelfrist in den vergangenen Jahren immer wieder mit konstanten oder sogar sinkenden nominalen Investivausgaben geplant wurde (vgl. Abbildung 2). Allerdings wurden diese Planungen in den vergangenen Jahren immer wieder überholt. Zum Absinken der investiven Ausgaben, wie es im Plan schon so oft angelegt wurde, ist es in jüngerer Zeit nie gekommen. Das hat wiederum mit überplanmäßigen Steuereinnahmen und unterplanmäßigen Zinsausgaben zu tun (vgl. Abbildung 3), die ein ums andere Mal zusätzliche Spielräume im Bundeshaushalt eben auch für investive Ausgaben geschaffen haben.

Perspektive der „schwarzen Null“

Die scheinbar immer wiederkehrenden Aufwärtsrevisionen der Steuereinnahmen haben in den Jahren vor 2019 zu einem Anschwellen der Rücklagen unter Einhaltung der „schwarzen Null“ geführt.4 Nun plant der Bund die Rücklagen abzubauen, also vorübergehend Defizite im Finanzierungssaldo zuzulassen. Zugleich soll aber an der „schwarzen Null“ festgehalten werden. Die aktuelle Steuerschätzung hat die Sicht auf die öffentlichen Haushalte nicht groß verändert. Allerdings scheint bestätigt, dass zunächst nicht mehr „unvorhergesehene“ Mehreinnahmen Engpässe in der Finanzplanung überwinden dürften. Es wird absehbarer, dass die „schwarze Null“ wenn nicht im kommenden Jahr, so doch nach dem Jahr 2021 – insbesondere sofern die derzeitigen Pläne bezüglich der Grundrente und zusätzlicher Zahlungen an die EU nach dem Brexit Realität werden – nur mit einem Konsolidierungsprogramm erreicht werden kann. Schließlich gilt es, nicht nur den neuen dauerhaften Ausgaben und Mindereinnahmen hinterherzukommen, zugleich müssen die Defizite im Finanzierungssaldo, die mit dem Abbau der Rücklagen geplant sind, wettgemacht werden. Die Anpassungslast dürfte über das Vehikel des Rücklagenabbaus in die Zeit nach der Bundestagswahl 2021 geschoben werden. Die finanzpolitische Situation dürfte bis dahin ungemütlicher werden. Diskussionen um finanzpolitische Ziele wie die „schwarze Null“ und vermutlich auch die Schuldenbremse werden sich dann wohl nochmals intensivieren.

In Hinblick auf die Finanzpolitik des Bundes möchte ich dafür plädieren, die „schwarze Null“ schon jetzt aufzugeben.5 Die Defizite, die in den kommenden Jahren auch konjunkturbedingt auflaufen, sollten als solche benannt werden und nicht mit dem Abbau der Rücklagen bemäntelt weiter als „schwarze Null“ firmieren. Nach jetzigem Stand würde die Vorgaben der Schuldenbremse inklusive Konjunkturkomponente eine Nettokreditaufnahme in den Jahren 2020 bis 2023 von 55 Mrd. Euro erlauben. Diese Mittel könnten dazu dienen, zumindest einen Teil der Rücklagen von derzeit 35 Mrd. Euro zu schonen und damit die Finanzpolitik des Bundes und insbesondere seine investiven Ausgaben über das Jahr 2021 hinaus zu verstetigen.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2533-6