Die deutsche Konjunktur insgesamt ist 2019 um eine technische Rezession herumgekommen, die Industrie steckt dagegen schon seit einiger Zeit mittendrin. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat nach einem leichten Rückgang im 2. Quartal im folgenden Quartal wieder geringfügig zugenommen. Die außenwirtschaftlichen Störfaktoren haben sich nicht weiter verschärft, sodass die großteils solide Verfassung der Binnenkonjunktur wieder an Dominanz gewann. Gleichwohl strahlen von außenwirtschaftlicher Seite noch bremsende Effekte auch auf die Binnenwirtschaft aus, so auf die Unternehmensinvestitionen und die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen. Der zuletzt spürbare Rückgang der Ausrüstungsinvestitionenen war allerdings in erster Linie auf Sondereffekte bei den staatlichen zurückzuführen, die um ein Drittel gegenüber dem Vorquartal sanken. Die privaten Ausrüstungsinvestitionen nahmen hingegen ebenso wieder zu wie auch die anderen inländischen Nachfrageaggregate, der private und der staatliche Konsum wie auch die Bauinvestitionen und die Investitionen in sonstige Anlagen. Auch wenn in den letzten Monaten des Jahres 2019 der deutsche Export wohl weiter geschwächelt hat, so dürfte die mit Ausnahme der Unternehmensinvestitionen feste Inlandsnachfrage bei geringeren negativen Vorratsveränderungen zumindest für einen leichten Anstieg des realen BIP im 4. Quartal sorgen. Im Gesamtjahr 2019 wird das Wirtschaftswachstum dann 0,6 % betragen (vgl. Abbildung 1). Für die Inflationsrate zeichnet sich ein Anstieg von knapp 1 ½ % ab.
Die Grundverfassung der deutschen Wirtschaft ist nicht schlecht. Die Binnennachfrage, insbesondere der private Konsum, die Konsumausgaben des Staates und die Bauinvestitionen werden weiter zunehmen. Die Entwicklung am Arbeitsmarkt ist zwar ins Stocken geraten, aber nicht umgeschlagen, sodass die Kaufkraft der privaten Haushalte hoch bleibt. Belastet werden die Konjunkturperspektiven noch durch außenwirtschaftliche Faktoren, insbesondere offene politische Entscheidungen in den USA und in Großbritannien. Dabei scheint die Gefahr eines ungeordneten Brexit nun aber verringert. Die Gefahr möglicher Strafzölle der USA, insbesondere auf deutsche Autos, ist zwar nicht gebannt, doch besteht die Erwartung, dass die 2020 anstehenden Wahlen in den USA die dortige Regierung von wirtschaftsschädlichen Maßnahmen eher abhält. Das würde bedeuten, dass sich die außenwirtschaftlichen Risiken tendenziell vermindern. Es besteht folglich die Hoffnung, dass sich die globale Lage eher wieder verbessert. Das dürfte sich auch auf das binnenwirtschaftliche Wirtschaftsklima, insbesondere die Investitionsneigung sowie die Einstellungsbereitschaft der Unternehmen positiv auswirken. Es bestehen insofern berechtigte Aussichten, dass sich die Wirtschaftsentwicklung in Deutschland 2020 weiter stabilisiert und festigt.
Unter den Bedingungen, dass die außenwirtschaftspolitischen Risiken an Bedeutung verlieren und sich die ohnehin relativ robusten binnenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen noch etwas verbessern, ist mit einer moderaten Aufwärtsentwicklung der deutschen Konjunktur im kommenden Jahr zu rechnen. Im Jahresdurchschnitt 2020 würde das Wirtschaftswachstum dann, wobei die überdurchschnittliche Zahl an Arbeitstagen rein rechnerisch zu einem zusätzlichen Anstieg von 0,4 % des realen BIP beiträgt, knapp 1 ½ % erreichen. Ebenso würde sich die Beschäftigungsentwicklung wieder verbessern. Der Arbeitsmarkt würde folglich wieder entlastet, auch wenn sich das noch nicht in den Jahresdurchschnittszahlen entsprechend niederschlägt. Die Inflationsrate der Verbraucherpreise wird im Gesamtjahr etwa 1 ½ % betragen.
Abbildung 1
Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt in Deutschland
1 Veränderung gegenüber dem Vorquartal in %, auf Jahresrate hochgerechnet. 2 Zahlenangaben: Veränderung gegenüber dem Vorjahr in %.
Quellen: Statistisches Bundesamt; ab 4. Quartal 2019 Prognose des HWWI.
Diese Wirtschaftsprognose geht von einer Verringerung der außenwirtschaftlichen Risiken aus. Zunächst jedoch bleiben die aktuellen Risiken bestehen, und würden diese doch virulent, würden sich die globalen Rahmenbedingungen weiter verschlechtern. Rezessionstendenzen, nicht nur in Deutschland als Exportnation, könnten dann die Folge sein. Und das in einer Zeit, in der geldpolitisch und in den meisten Ländern auch finanzpolitisch kaum Handlungsspielraum besteht, um dem entgegenzusteuern.
Wenngleich sich die Konjunktur wieder stabilisieren könnte, besteht weiterhin große Unsicherheit über die mittelfristige Entwicklung. Zwei Themen beherrschen die Diskussion. Es existieren zum einen deutliche Signale einer Strukturkrise, die einem mehrfachen Strukturwandel geschuldet sind. Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung stellen wesentliche Herausforderungen für das Potenzialwachstum dar. Zum anderen werden die Schwarze Null und die Schuldenbremse immer häufiger als Hemmnis für eine aktive Wachstumspolitik angesehen. Der Ruf nach höheren öffentlichen Investitionen wird lauter, weniger aus konjunktur- als vielmehr aus strukturpolitischen Gründen. Die längerfristig niedrigen Zinsen würden für langfristig finanzierte Investitionsprogramme ein gutes Umfeld bieten. Niedrige Zinsen bei Vollbeschäftigung können gleichwohl private Investitionen verdrängen. Von Weizsäcker und Krämer sehen das folgendermaßen: Die Zinsen sind aus strukturellen Gründen sehr niedrig, weil die Investitionsnachfrage eher gering (wegen zunehmend intangibler Unternehmensvermögen etc.)1 und die Ersparnis hoch sind. Gerade in Zeiten großer Transformationsprozesse braucht es – wie etwa von Acemoglu argumentiert2 – komplementäre öffentliche und private Investitionen. Es gäbe dann weniger ein Crowding-out als ein Crowding-in privater durch öffentliche Investitionen. In diesem Zusammenhang werden digitale Infrastruktur und „grüne“ Investitionen genannt.
Höhere Staatsausgaben werden derzeit auch deshalb gefordert, weil sie der Geldpolitik zu höherer Wirksamkeit verhelfen können. Die „Schwarze Null“ der Fiskalpolitik würde „Schwarze Löcher“ der Geldpolitik erzeugen: Die Liquidität verschwindet in den Vermögenspreisen, führt aber nicht zu höherer wirtschaftlicher Aktivität und steigender Inflation. Damit ist zugleich ein gravierendes Problem der Zentralbanken beschrieben: Die Transmission der Geldpolitik funktioniert nicht mehr über die klassischen Kanäle. Das Inflationsziel von „unter, aber nahe zwei Prozent“ ist unter den gegebenen Umständen womöglich gar nicht zu erreichen, so dass man einem Phantom hinterherjagen würde. Die Folge könnte ein japanisches Szenario sein: eine Mischung aus niedrigen Zinsen, deflationären Tendenzen, unzureichender Nachfrage und steigender Staatsverschuldung zum Ausgleich der Unterkonsumption, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Weniger Evidenz indes gibt es für das Phänomen der „Zombifizierung“, also das Überleben von unrentablen Unternehmen unter den Bedingungen sehr niedriger Zinsen. Wie Bindseil von der EZB dazu unlängst feststellte, spricht wenig dafür, dass solche Unternehmen bei gleichen Zinskonditionen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen haben könnten.3
So droht neben einer weiterhin möglichen Rezession, zu deren Bekämpfung es keine allzu großen fiskal- und geldpolitischen Spielräume gäbe, eine säkulare Stagnation, also eine längere Phase niedrigen Wachstums. Damit würden sich das makroökonomische Umfeld und wichtige konjunkturpolitische Zusammenhänge verschieben. Es sind bereits die Anfänge einer grundlegenderen Diskussion um theoretische und empirische Konzepte zu erkennen. Wenn der Zins nicht mehr die Bedeutung in der Transmission zwischen monetärem und realem Sektor einer Ökonomie hat, wird das Inflationsziel womöglich obsolet. Es wäre dann prinzipiell kaum noch erreichbar, weshalb eine gleichwohl darauf ausgerichtete Geldpolitik zunehmend Kollateralschäden in Form von Vermögenspreisblasen und Verteilungseffekten verursachen würde. Fast zeitgleich ist ebenfalls eine Diskussion über die Messung der Output-Lücke entstanden. Abweichungen vom Inflationsziel und die Output-Lücke sind die wichtigsten Bestimmungsgründe für den natürlichen Zins. Dieser ist in den letzten Jahren nach dem gängigen Konzept empirisch gesunken, womöglich aber auch deshalb, weil die empirischen Konzepte ernsthafte methodische Fragen aufwerfen.4
Diese Diskussion ist weit weniger rein akademischer Natur, als sie auf den ersten Blick scheint. Für die Zentralbanken sind sie vor dem Hintergrund, dass Helikoptergeld und MMT (Modern Monetary Theory) immer näher rücken, von zentraler Bedeutung. Mandat und Unabhängigkeit der Zentralbanken könnten davon betroffen sein. Die Geldpolitik hat sich innerhalb weniger Jahre vom „only Game in Town“ ins eigene Endspiel um die Deutungshoheit gebracht.
Jörg Hinze, Henning Vöpel
hinze@hwwi.org, voepel@hwwi.org
- 1 Vgl. C. C. von Weizsäcker, H. Krämer: Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert: Die Große Divergenz, Wiesbaden 2019.
- 2 D. Acemoglu: Darum ist Deutschlands Wirtschaftswachstum gefährdet, Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.5.2019.
- 3 U. Bindseil, J. Schaaf: Die Zombie-Kritik an der EZB ist einfach nur abwegig, Gastbeitrag in der WELT vom 25.11.2019.
- 4 Vgl. z. B. L. Summers: Global economy is at risk from a monetary black hole, Gastbeitrag in der Financial Times vom 11.10.2019; E. Bartsch, J. Boivin, S. Fischer, P. Hildebrand: Dealing with the next downturn: From unconventional monetary policy to unprecedented policy coordination, SUERF Policy Note, Nr. 105, 2019.