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Daseinsvorsorge gilt in Deutschland als eine wesentliche Grundlage für gleichwertige Lebensverhältnisse an jedem Ort. Der Blick auf die demografische Situation und die Gestaltbarkeit der Daseinsvorsorge in den Regionen zeigt jedoch Vielfalt, Uneindeutigkeit und Unübersichtlichkeit. Sicher scheint hingegen die besondere Verantwortung der Kommunen.

Daseinsvorsorge prägt die Lebenswirklichkeit und Lebensqualität der Menschen vor Ort, heißt es im aktuellen Raumordnungsbericht 2017.1 Auch die Enquete-Kommission zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen des Bayerischen Landtages sieht in einer räumlichen Grundsicherung eine wesentliche Voraussetzung für räumliche Gerechtigkeit.2Noch Anfang der 1990er Jahre war der Begriff der Daseinsvorsorge in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Erst mit der öffentlichen Diskussion um den demografischen Wandel und seine Folgen für die regionalen Lebensverhältnisse wurde die gesellschaftliche Relevanz von technischer und sozialer Versorgung mehr und mehr deutlich. Spätestens mit der Rede von Bundespräsident Köhler im September 20043 zu den großen Unterschieden in den Lebensverhältnissen, die sich nicht ohne ungleiche Schuldenlast ausgleichen ließen, war die Debatte in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Daseinsvorsorge wird seitdem eng mit demografischen Veränderungen und der Spreizung in Wachstums- und Schrumpfungsregionen verbunden. Sie wird vielfach als Schlüssel für die Entwicklung bzw. Stabilisierung strukturschwacher, ländlicher Regionen angesehen. Wenn das tatsächlich so ist, müsste dann die Sicherung und Anpassung der Daseinsvorsorge nicht viel stärker zu einem zentralen Teil der Regionalpolitik für strukturschwache Regionen werden? Zunächst wäre aber zu klären, wie Daseinsvorsorge zu verstehen ist und welche Bedeutung die Daseinsvorsorge tatsächlich für die Entwicklung von Regionen hat?

Daseinsvorsorge

Daseinsvorsorge umfasst die öffentlichen Güter und Dienstleistungen, die dem Gemeinwohl und der Lebensentfaltung der Menschen dienen. Dazu zählen etwa die Wasserversorgung, die Abwasser- und Abfallentsorgung, die Elektrizität oder auch soziale Dienste in den Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung. Bereits im 19. Jahrhundert dienten die öffentlichen Dienstleistungen der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion.4 Ein differenziertes Konzept der Daseinsvorsorge fehlt allerdings genauso wie eine eindeutige Zuordnung von konkreten Diensten und Leistungen zur öffentlichen Daseinsvorsorge und eine klare gesetzliche Verankerung. Die Gesetzgebung beschränkt sich in bundes- und landesrechtlichen Regelungen oft auf die Feststellung, dass eine Aufgabe zur Daseinsvorsorge gehört. Vieles wie z. B. Schulversorgung, Kinderbetreuung, Pflegeversorgung oder Brandschutz ist spezialgesetzlich geregelt. Der Begriff Daseinsvorsorge bleibt unscharf und vieldeutig, mit den damit verbundenen Stärken und Schwächen.

Am deutlichsten beziehen die Raumordnung und das Raumordnungsgesetz Stellung. Aus Sicht der räumlichen Planung ist Daseinsvorsorge die flächendeckende Versorgung mit vom Gesetzgeber als lebensnotwendig eingestuften Gütern und Dienstleistungen zu sozial verträglichen Preisen und mit angemessener Erreichbarkeit.5 Das Raumordnungsgesetz (ROG) fordert entsprechend, die Versorgung mit Dienstleistungen und Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, insbesondere die Erreichbarkeit von Einrichtungen und Angeboten der Grundversorgung, für alle Bevölkerungsgruppen in den Teilräumen in angemessener Weise zu gewährleisten (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 ROG). Damit soll die Chancengerechtigkeit insbesondere in dünn besiedelten Räumen gesichert werden. Es geht also um eine raumbezogene Gerechtigkeit unter dem Leitbild der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 ROG). Damit wird impliziert, dass durch die Sicherung einer räumlichen Grundausstattung an Daseinsvorsorge, der räumliche Zusammenhalt und die Teilhabechancen des Einzelnen gewährleistet sind, und im besten Fall weitere Entleerungs- und Peripherisierungsprozesse gestoppt werden können.

Im Prinzip kommt der Daseinsvorsorge damit eine doppelte strategische Bedeutung zu: Zum einen bestimmt sie für den Einzelnen ganz wesentlich die Rahmenbedingungen zum Leben, seine Chancen zur Selbstverwirklichung und seine Lebensqualität. Zum anderen beeinflusst die Qualität der Daseinsvorsorge ebenso wesentlich die Standortqualitäten und damit die Zukunftschancen eines Ortes oder einer Region im interkommunalen Vergleich. Verlieren die Angebote und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge ihre Tragfähigkeit und werden brüchig, wirkt das verstärkend auf Peripherisierungsprozesse und verschlechtert die Lebensbedingungen insbesondere für vulnerable Bevölkerungsgruppen. Gerne wurde und wird in diesem Zusammenhang das Bild von sich entleerenden Regionen in der Abwärtsspirale bemüht, die gesellschaftlich und ökonomisch marginalisiert und abgekoppelt werden. Im Folgenden soll geklärt werden, wie der Zusammenhang zwischen Demografie, Daseinsvorsorge, Entwicklungschancen und dem subjektiven Lebensgefühl vor allem in ländlichen Regionen tatsächlich ist. Zentral sind dafür ein Blick auf die Demografie, das Wanderungsverhalten und die Motive für ein Bleiben, Gehen und (Wieder-)Kommen.

Alterung als zentrale Herausforderung

Grundsätzlich ist die Bevölkerungsentwicklung in Deutsch­land, trotz aller Schwankungen, Bevölkerungszu­wächse und der momentanen Erholungsphase, die in vielen ländlichen Kommunen zu spüren ist, relativ stabil. Bestimmt wird die demografische Situation weiterhin von der Verschiebung der Altersstruktur mit deutlich weniger jungen Jahrgängen und einer Zunahme von über 65-Jährigen und Hochaltrigen. Diese Entwicklung wird mit dem Übergang der Babyboomer in die Nacherwerbsphase beschleunigt.

Allein aufgrund von altersstrukturellen Effekten bei den Frauen wird die Zahl der Geburten bis 2035 weiter deutlich abnehmen und sich der Sterbeüberschuss verdoppeln.6 Der Anteil jüngerer Altersgruppen sinkt, der Anteil der Älteren steigt und damit auch das Durchschnittsalter. Diese „innere Dynamik“7, oder besser innere Statik dominiert die Bevölkerungsentwicklung auch in Zukunft. Sie wird durch internationale Wanderungen und Binnenwanderungen überlagert, modifiziert und regional ausdifferenziert.8 Zu- und Abwanderungen haben somit eine zentrale Bedeutung für die Zukunft der Regionen. Sie können einerseits als Anzeiger für die Attraktivität von Orten und Regionen angesehen werden. Andererseits verstärken, kompensieren oder schwächen sie Alterung, Dynamik oder Internationalisierung der Bevölkerungsentwicklung in Teilregionen ab. Vor allem die Binnenwanderungen über Gemeinde- und Kreisgrenzen formen so das Nebeneinander von wachsenden und schrumpfenden Orten und Regionen aus.

Unterschiede zeigen sich sowohl zwischen Ost- und Westdeutschland als auch zwischen ländlichen Räumen und größeren Städten. In den ostdeutschen Bundesländern werden flächendeckend noch auf lange Sicht die extrem geringen Geburtenraten und die starken Abwanderungen der jungen Jahrgänge aus den 1990er Jahren die demografische Entwicklung bestimmen. Die Bevölkerung ist schon heute durchschnittlich deutlich älter9 und die Gesamtzahl wird bis 2035 weiter sinken. Dies hat zur Folge, dass in den ostdeutschen Bundesländern weniger Personen im erwerbsfähigen Alter10 und mehr Hochaltrige als in den westdeutschen Bundesländern zu verzeichnen sind. Ähnliche Unterschiede gibt es im Osten und Westen zwischen ländlichen Räumen und städtischen Zentren, allerdings differenziert nach siedlungsstruktureller Lage und Wirtschaftsstruktur. Das bedeutet aber auch, dass sich in ostdeutschen ländlichen Regionen die genannten demografischen Ausprägungen überlagern und verstärken. Die Verschiebung der Altersstruktur aus der unmittelbaren Nachwendezeit wird noch Jahrzehnte die demografische Entwicklung im Osten bestimmen und sich in Bezug auf die Dynamik vom Westen unterscheiden.

Dieses Grundrauschen der demografischen Entwicklung enthält drei Komponenten, die bedeutsam für die Lebensbedingungen und die Entwicklungschancen in ländlichen, dünn besiedelten Regionen sind:

  • der weitere Rückgang der Schülerzahlen, insbesondere der Grundschüler,
  • der Anstieg der Hochaltrigen in Verbindung mit dem Ausdünnen der sozialen Netze und dem Rückgang des informellen Pflegepersonals aus Familie und Nachbarschaft sowie
  • der Rückgang der Personen im erwerbsfähigen Alter.

Alle drei Komponenten sind generell in Ostdeutschland und in ländlichen Regionen ausgeprägter. Sie können sich zwischen den ländlichen Regionen und innerhalb von Regionen deutlich unterscheiden. Dies zeigt ein Blick auf die 21 ländlichen Regionen des Aktionsprogramms Regionale Daseinsvorsorge.11 In allen ist die Verschiebung der Altersstruktur von 2010 bis zum Prognosezeitraum 2030 deutlich und prägend.12 Die unter 20-Jährigen gehen im Durchschnitt aller Regionen um 18 %, die 20- bis 65-Jährigen um ein Viertel zurück. Der Rückgang der Kinder und Jugendlichen ist am höchsten: Er liegt bei 30 %. Die Zahl der Erwerbspersonen verringert sich in einigen Regionen sogar um mehr als 40 %. Die gleichen Regionen erwarten auf der anderen Seite einen Zuwachs der über 65-Jährigen von 60 %. Hier zeigt sich die demografische Schere besonders deutlich. Im Mittel aller Regionen nimmt der Anteil der über 65-Jährigen um 28 % zu. War im Durchschnitt aller Modellregionen im Ausgangsjahr 2010 lediglich jede fünfte Person über 65 Jahre alt, wird dies 2030 bereits jede dritte Person sein, in einzelnen Modellregionen sogar deutlich mehr. Bevölkerungsrückgänge werden in allen 21 Modellregionen prognostiziert. In einigen westdeutschen Regionen liegen sie zwischen 2 % und 5 %. Dagegen verlieren ostdeutsche Regionen, die bereits in der Vergangenheit deutlich Einwohner verloren haben, noch einmal rund 20 % ihrer Bevölkerung.

Die Prognosen beruhen auf dem Basisjahr 2010. Auch wenn die Auswirkungen der internationalen Zuwanderungen 2015 und 2016 noch nicht berücksichtigt sind, zeigen die Zahlen dennoch einen klaren Trend. Einerseits entwickeln sich bestimmte ländliche Regionen und Verdichtungsräume demografisch auseinander. Andererseits gibt es weiterhin Unterschiede zwischen West und Ost, weniger aufgrund demografischer Trends der jüngeren Vergangenheit – diese sind eher ähnlich – als vielmehr aufgrund der starken Bevölkerungsverluste in den 1990er Jahren. Für die ländlichen Regionen scheint das Ausdünnen der jüngeren Jahrgänge und der Erwerbsfähigen aufgrund des „Brain Drains“ und zu geringer Rück- und Zuwanderung in der Familiengründungs- und Berufseinstiegsphase generell existenziell zu sein.

Gehen, Kommen, Bleiben – Wanderungsverhalten und -motive

Deutlich wird damit, welche Bedeutung das Wanderungsverhalten und die Frage, „wo will ich wohnen und arbeiten“, auf die demografische Entwicklung und damit letztlich auf die Daseinsvorsorge (Ausdünnung, Auslastung, Anpassungsbedarf) und das Funktionieren der Wirtschaft (Erwerbspersonen, Fachkräftemangel) hat. Die aktuellen Analysen des Wanderungsverhaltens innerhalb Deutschlands zeigen, dass die Wanderungen über die Gemeindegrenzen seit 2011 zugenommen haben. Dabei ist die Mobilität in ländlichen Räumen nicht grundsätzlich höher als in Städten. Die Mobilitätsraten in Ost und West haben sich angeglichen. Auch die Wanderungsbilanz ist weitgehend ausgeglichen.13 Im Einzelnen ergibt sich folgendes Bild:

  • Besonders mobil sind die Bildungs- und Berufseinstiegswanderer (18- bis unter 30-Jährige). Sie machen den überwiegenden Anteil der gesamten Wanderungen in Deutschland aus. Dominant ist vor allem die Altersgruppe der 18- bis unter 25-Jährigen. In keiner Lebensphase vorher oder nachher finden annährend so viele Wohnsitzverlagerungen statt. Je höher die Bildung der Jungen desto höher ist die Bereitschaft umzuziehen. Rund jede achte Person in diesem Alter wandert über die Kreisgrenze hinweg.14
  • Der Zuzug vor allem junger Erwachsener in die Großstädte hat seit Beginn der 1990er Jahre stetig zugenommen. Parallel dazu steigt die Abwanderung der Jungen (18- bis unter 25-Jährige) aus dem ländlichen Raum. Berufseinstiegswanderungen und auf geringem Niveau Familien- und Arbeitswanderungen der über 30-Jährigen sind ähnlich, mit Tendenzen in den suburbanisierten Raum. Dies bedeutet, dass die in jungen Jahren Abgewanderten nur in geringem Maß zurückgekehrt sind.15
  • Die Zuwanderung junger Menschen in die großen Städte ist in Ostdeutschland ausgeprägter als im Westen. Seit der Jahrtausendwende blieben ostdeutsche junge Menschen eher im Osten. Die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten in Großstädte wie Leipzig und Dresden hat sich jedoch verstärkt. Im Westen gehen deutlich weniger junge Menschen in Großstädte und entsprechend mehr in städtische Kreise.16
  • Allerdings lässt sich seit 2013 eine Trendumkehr hin zu Sub- und Deurbanisierung feststellen. Ländliche Kreise haben wieder mehr inländische Zuzüge, dünn besiedelte ländliche Kreise sogar am meisten. Dabei bleibt das biografische Profil der Wanderungen gleich. Die Jungen ziehen weiterhin zum Studieren in die größeren Städte. Ältere und Familien auf der Suche nach größerem, familiengerechten und bezahlbaren Wohnraum ziehen dagegen wieder häufiger in den ländlichen Raum. Großstädte verlieren in dieser Altersklasse, einschließlich der Jahrgänge 50+ deutlich mehr Bewohner als noch vor wenigen Jahren. Das ländliche Umland aber vor allem die dünn besiedelten Kreise verzeichnen einen starken Anstieg.17 Dieser hat sich vermutlich seit 2015 nochmals verstärkt, wie Beobachtungen und Meldungen aus ländlichen Gemeinden vermuten lassen.

Die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen aus dem ländlichen Raum in die Großstädte bleibt damit, ebenso wie die Zuwanderung von Älteren eine Konstante der Entwicklung. Der Anstieg an Zuwanderung dieser Altersgruppe und von Familien mit Kindern seit Mitte der 2010er Jahre kann in ländlichen Regionen die Wanderungsbilanz ausgleichen bzw. positiv gestalten. In einigen wird sich die Überalterung durch die Zuwanderung eher verstärken. Andere können nur sehr bedingt von einer Deurbanisierung profitieren. Ländliche Regionen sind dann Zuwanderungsregionen, wenn sie strukturstark mit eindeutiger Dienstleistungs- und Produktionsorientierung sind oder im Einzugsbereich starker Zentren liegen. Strukturschwache Regionen und Regionen ohne wirtschaftliche Spezialisierung sind über die Konjunkturzyklen hinaus Abwanderungsregionen.18 Busch konstatiert in diesem Zusammenhang „eine breite Schneise“ durch die Mitte Deutschlands, von Ostdeutschland bis in Teile von Baden-Württemberg, die ein deutliches negatives Fernwanderungssaldo aufweisen. Aus seiner Sicht deutet dies auf wirtschaftliche Strukturschwäche und mangelnde Attraktivität dieser Regionen hin.19

Schaut man sich die Gründe für Gehen, Kommen und Bleiben im ländlichen Raum an, fallen zunächst die Ausbildungsmotive auf. Der deutlich gestiegene Anteil an Schülern mit Hochschulreife sowie die geringere Bindungskraft tradierter Institutionen (Familie, Eigentum, Berufstradition) schlagen sich in der Wanderungsbilanz nieder.20 Darüber hinaus weisen Untersuchungen und Analysen darauf hin, dass die Menschen nicht zwingend wegen der Bedingungen am lokalen oder regionalen Arbeitsmarkt aus dem ländlichen Raum abwandern. Es lässt sich kein Zusammenhang zwischen den Berufseinstiegswanderungen und dem Anteil Hochqualifizierter oder der Arbeitslosenquote feststellen. Fehlende Arbeitsplätze im direkten Wohnumfeld werden eher über das Pendeln ausgeglichen.21 Auch gibt es kaum Hinweise, dass die Ausstattung bzw. die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge ein starkes Motiv für die Abwanderung aus ländlichen Regionen ist. Selbst die Nähe zu Schulen bzw. das Fehlen einer Schule im näheren Wohnumfeld oder die Entfernung dorthin ist für Familien kein entscheidendes Abwanderungsmotiv.22 Befragungen deuten eher darauf hin, dass Bewohner in ländlichen Abwanderungsgebieten sehr zufrieden mit ihrer Lebenssituation sind. Auch ist es nicht immer so eindeutig, dass sich die regionale Daseinsvorsorge verschlechtert hat.23 Rein materielle Komponenten der Lebensqualität scheinen für ihre Entscheidungen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eher geht es um soziale und naturräumliche Dimensionen, Wohneigentum sowie eine starke emotionale Bindung an ihren Wohnort.24 Offen bleibt letztlich, ob Problemzuweisungen wie „Entleerungsräume“ und „abgehängte Regionen“ tatsächlich der Realität und dem Lebensgefühl der dort Lebenden entsprechen und inwieweit raumbildende Diskurse kritische Entwicklungen forcieren.25

Räumliche Uneindeutigkeiten

Am Ende wird das Bild klarer und unübersichtlicher zugleich. Von einer allgemeinen Landflucht kann sicherlich nicht die Rede sein.26 Die Wanderungsbewegungen innerhalb der Kategorie ländlicher Raum belegen eine anhaltende Attraktivität dieser Lebensform. Darauf deuten Befunde hin, dass Abwanderungswillige in ländlichen Räumen oft keine besondere Unzufriedenheit mit dem Leben auf dem Land erkennen lassen.27 Eher zeigen sich innerregionale Differenzen und Spreizungen. In allen Modellregionen des Aktionsprogramms regionale Daseinsvorsorge gibt es Gemeinden und Orte, die mehr oder weniger von Schrumpfung und Alterung betroffen sind, in einigen gab es zum Berichtszeitraum auch wachsende Teilregionen. Die Spannweite ist zum Teil enorm. Kleine Landgemeinden und Ortsteile abseits der ländlichen Versorgungszentren sind stärker von Alterung und Bevölkerungsverlusten betroffen. Rück- und Zuwanderungen haben häufig die Mittelzentren mit einer ausreichenden Urbanität und Angebotsvielfalt zum Ziel.28 Hinzu kommen verstärkt Zuwanderungen aus den Dörfern in die Versorgungszentren. Allerdings ist für Viele weiterhin das ländliche Wohnen auf den Dörfern spannender als die bauliche Enge der Kleinstadt. Bei aller Unübersichtlichkeit ist zu vermuten, dass sich diese innerregionalen Differenzen und Kontraktionsprozesse in den nächsten Jahren eher noch verschärfen und das eigentliche Problem bei der Versorgung und Anbindung dieser „inneren Peripherien“ liegt.

Großräumig betrachtet bringt Siedentop das Dilemma ländlicher Räume auf den Punkt. Gründe für die Abwanderung sind weniger die infrastrukturelle Ausstattung oder die zu schwache Erwerbsbasis – in strukturschwachen, dünn besiedelten Regionen kann das anders sein –, sondern vielmehr wesensimmanente Eigenschaften ländlicher Räume: die unterdurchschnittliche Ausstattung mit akademischen Bildungsstätten und der Mangel bzw. die mangelnde Vielfalt an Arbeitsplätzen für Hochqualifizierte. Dies lässt sich durch Strukturpolitik nicht oder nur bedingt überwinden.29 Nichts zu tun, wäre aber fahrlässig und politisch nicht vertretbar. Schrumpfung und Ungleichheiten sind nicht zwangsläufig und eigengesetzlich, wie die kleinräumige Vielfalt und das viel zitierte Nebeneinander von Wachstum und Schrumpfung zeigen. Es geht vielmehr um die Gestaltung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse und den gesellschaftlichen Willen dazu. Aus den Analysen der demografischen Situation und der Wanderungsbewegungen lassen sich drei klare Zielrichtungen für politisches Handeln erkennen:

  1. Die Sicherung guter Rahmenbedingungen und Lebensqualität für die Bleibenden, insbesondere für ein gutes, selbstbestimmtes Leben im Alter (differenzierte Wohnangebote, Pflege, Gesundheit, Mobilität);
  2. attraktive Lebensbedingungen für Zuzug, insbesondere für Familien mit Kindern (Bildung, Kinderbetreuung, Vereinbarung von Familie und Beruf) sowie
  3. die Anbindung an Hochschulangebote und Hochschulwissen in Verbindung mit einer Diversifizierung der Wissens- und Dienstleistungsökonomie.

Ohne Frage spielt die regionale Wirtschaftsstruktur, der Arbeitsmarkt sowie die Lohn- und Verdienststruktur weiterhin eine wichtige Rolle. Klassische, allein arbeitsmarktorientierte Regionalpolitik greift allerdings deutlich zu kurz und wird weiterhin ins Leere laufen, allein schon wegen des zunehmenden Mangels an Arbeitskräften. Dagegen rücken die Erreichbarkeit und Qualität von Angeboten der Daseinsvorsorge und der weite Bereich der Lebensqualität ins Blickfeld. Sie werden zu den neuen „harten Standortfaktoren“ für die wirtschaftliche Entwicklung ländlicher Regionen.

Vielfalt und Komplexität in der Daseinsvorsorge

Bei der Frage, wie Daseinsvorsorge30 verstanden und gestaltet werden sollte, spielen Bildungsangebote, Gesundheitsversorgung, Pflege und Betreuung sowie Mobilität eine zentrale Rolle für die Lebensqualität des Einzelnen und die Attraktivität einer Region. Sicherlich bilden gute, zentrale Angebote in staatlicher und kommunaler Verantwortung wie Schulen, Krankenhäuser oder der öffentlicher Personennahverkehr (ÖPNV) das Grundgerüst der Versorgung. Der Blick auf die für den ländlichen Raum wichtigen Hochschulen zeigt jedoch, dass die Erbringung von Lehre und Forschung allein nicht ausreicht, um regional zu wirken. Erst die Vernetzung in den Bereichen Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft der Region, ein intelligenter wechselseitiger Wissenstransfer und partnerschaftliche Weiterbildungsangebote können zu den gewünschten Effekten führen. Diese „Third Mission“ der Hochschulen ist eine Erweiterung des Daseinsvorsorgeauftrags.31 Auch in anderen Feldern der Daseinsvorsorge lässt sich Ähnliches beobachten: Die Aufgaben erweitern sich, die Konturen verwischen sich, die Rollenbilder vermischen sich.

Dem entspricht nicht das klare Rollenverständnis, das das Bild von Daseinsvorsorge prägt. Verantwortung trägt und die Leistung erbringt der Staat. Bürger sind Leistungsempfänger. Tatsächlich jedoch sind Staat und Kommunen nur in Teilen und Teilbereichen Leistungserbringer. In vielen Bereichen der technischen Infrastruktur handeln sie vielmehr im Sinne eines Gewährleistungsstaats, indem sie die von Dritten erbrachten Leistungen im Sinne des Gemeinwohls sichern oder regulieren. In einer weiteren Rolle motivieren oder aktivieren Staat und Kommune die Eigeninitiative der Bürger und fördern dieses Engagement (z. B. bei Bürgerbussen, Dorfläden, Kulturzentren, Jugendclubs). Sorgender, gewährleistender, motivierender, aktivierender oder auch zulassender Staat sind somit keine Substitute, sondern wirken zeitgleich und nebeneinander. Dies bedeutet, dass es eine Vielfalt von Leistungserbringern gibt und dass Versorgungsketten, Versorgungsnetze und das Schnittstellenmanagement im Raum an Bedeutung gewinnen.32 Öffentliche Daseinsvorsorge wird so zu einer Koordinierungs- und Managementaufgabe von Handlungsbereichen in öffentlicher bzw. kommunaler Verantwortung.

Befähigen statt versorgen

Nicht nur eine starre Trennung in Leistungsempfänger und -erbringer erscheint für ein differenziertes Verständnis von Daseinsvorsorge unpassend; auch eine Fokussierung auf die Leistungen scheint nicht optimal geeignet, um die eigentlichen Ziele der Daseinsvorsorge zu erreichen. Vielmehr sollte gefragt werden, wie Daseinsvorsorge gestaltet sein muss, damit sie die vollständige gesellschaftliche Teilhabe der Einzelnen – mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten – fördert und ihnen eine eigenständige Lebensführung in einem sorgenden sozialen Umfeld ermöglicht. Aus dieser Blickrichtung zeigt sich, welche sozialen, technischen und institutionellen Voraussetzungen tatsächlich nötig sind, um die eigentlichen Ziele der Daseinsvorsorge zu erreichen. Daseinsvorsorge könnte so als wesentliche Voraussetzung gelten, um Verwirklichungschancen zu ermöglichen. Eine solche Abkehr von einem reinen „Versorgungsverständnis“ hin zu einer Orientierung auf Ermöglichung rückt das Individuum und Gruppen in den Mittelpunkt, berücksichtigt individuelle und räumliche Unterschiede und ermöglicht und fordert differenzierte Strategien und Förderungen.33 Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Fähigkeiten die Menschen benötigen, um ein gutes, gelingendes Leben zu führen, und wie sie dazu von der Gesellschaft, in der sie leben, befähigt werden können.

Die Daseinsvorsorge in Form von ganz bestimmten Leistungen wie Straßen, Versorgungsleitungen, Schulen, Ärzten, Theatern oder Konzerthäusern ist demnach immer nur Mittel zum Zweck und nicht der Zweck an sich, z. B. Mittel zur Befähigung, gesund zu sein oder im Alter eigenständig zu wohnen. Es sollte für den Staat letztlich darum gehen, jedes Mitglied und jede soziale Gruppe der Gesellschaft zum guten Leben und Handeln zu befähigen und ihnen gleiche Chancen zu bieten, am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. Die Befähigung ist aber nicht nur Aufgabe des Staates. Jeder Einzelne trägt soziale Verantwortung und kann dazu beitragen, andere zu befähigen. „Die Idee ist, dass die gesamte Struktur des Gemeinwesens im Hinblick auf diese Fähigkeiten und Tätigkeiten entworfen wird“34.

Das Modell des Befähigungsansatzes

Daseinsvorsorge, eingeordnet in das Modell des Befähigungsansatzes, wäre dann (1) ein Bündel an Gütern, Dienstleistungen und Institutionen von öffentlichem Interesse, das (2) die Mitglieder einer Gesellschaft befähigen soll, ein gutes Leben eigenständig und selbstbestimmt zu führen, (3) an der sozialen Gemeinschaft teilzuhaben und die Möglichkeit der sozialen und politischen Partizipation zu haben. Dabei müssen (4) soziale Differenzen berücksichtigt werden. Daraus leiten sich sechs Punkte für ein erweitertes Verständnis von Daseinsvorsorge ab:

Die Stärkung der Person

Daseinsvorsorge wird nicht auf die Bereitstellung von bestimmten öffentlichen Gütern und Dienstleistungen reduziert, die die regionale Wettbewerbsfähigkeit und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse garantieren. In den Mittelpunkt rücken vielmehr die Stärkung und Befähigung der Menschen mit ihrer Eigenständigkeit, ihren Fähigkeiten und ihrer Unterschiedlichkeit, aber auch mit ihrer Verantwortung gegenüber anderen.

Ausrichtung auf Wirkungen und Ziele

Güter und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge sind Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck. Sie haben eine Zielrichtung und müssen Wirkungen entfalten und sind von diesen ausgehend zu denken. Die Fragerichtung muss sein: Was muss gemacht werden, um ein gesundes und gelingendes Leben führen zu können? Wie kann Bildung in ländlichen Regionen organisiert werden? Wie kann ein eigenständiges, langes Leben in der eigenen Wohnung ermöglicht werden? Diese Ausrichtung auf Wirkungen und Ziele ermöglicht mehr Offenheit, Flexibilität und die Option, Daseinsvorsorge in vielen Bereichen neu zu denken.

Vielfalt und Differenzierung

Eine individuell angepasste und wirkungsorientierte Daseinsvorsorge ermöglicht es, besser auf Vielfalt und Differenzen in Raum und Gesellschaft einzugehen und eine ausdifferenzierte Daseinsvorsorge für individuelle Lebenssituationen zu bieten. Vielfalt findet sich ebenso auf der instrumentellen Seite in der Vielfalt der Lösungen, Instrumente und Wege, in der Vielfalt der Akteurs- und Trägerkonstellationen, der Institutionen oder der Engagementstrukturen.

Daseinsvorsorge als Ganzes

Für den Gedanken der Befähigung greift es zu kurz, die Bereiche und Sektoren der Daseinsvorsorge isoliert voneinander zu betrachten. Sicherlich haben z. B. für das Leben im Alter die gesundheitliche Versorgung und die Pflege eine herausragende Bedeutung. Aber schon hier zeigen sich Bedingtheit und Wechselwirkungen. So schafft erst das Zusammenspiel von Wohnung, Wohnumfeld, Pflege und Gesundheitsversorgung, Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen, der Teilhabe an der Gesellschaft und einem sorgenden Umfeld die Möglichkeiten, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben auch bei körperlichen und gesundheitlichen Einschränkungen zu führen. Dieses Zusammenspiel der Angebote, Güter und Dienste einzelner Bereiche der Daseinsvorsorge muss sich dort entfalten und wirken, wo sich der größte Teil des Lebens abspielt: in den Wohnquartieren, Städten und Dörfern.

Raumbezug und Regionalisierung

Es reicht aber nicht aus, sich auf die infrastrukturellen Rahmenbedingungen vor Ort zu beschränken, wenn es darum geht, die Daseinsvorsorge zu bewerten und gestalten. Die Wirkungen von Gesundheitsversorgung, Pflege, von kulturellen Angeboten und Bildungsangeboten ergeben sich in der Regel aus einem Zusammenspiel vieler Angebote im Raum. In der Gesundheitsversorgung finden sich beispielsweise das Krankenhaus im Mittelzentrum, das Gesundheitszentrum in der benachbarten Kleinstadt, die gesundheitliche Pflege vor Ort und Präventionsmaßnahmen im direkten Lebensumfeld.

Koproduktion von Daseinsvorsorge

Freie Wohlfahrtsverbände, Genossenschaften, Vereine, aber auch Familien, Nachbarschaften und soziale Netze sind wichtige Bestandteile eines historisch gewachsenen, gemischten Wohlfahrtsmixes, in dem Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenwirken. Aber auch Angebote der Daseinsvorsorge, die ehrenamtlich von der Bürgerschaft organisiert werden, haben eine lange Tradition. Viele Vereine erfüllen Aufgaben mit Bezug zur Daseinsvorsorge. Häufig werden Bereiche der sozialen Daseinsvorsorge, wie Dorfläden, Mobilitäts-, Seniorenberatungs- und Betreuungsdienste, durch die Bürger vor Ort organisiert.

Damit tritt neben die räumliche Vielfalt und Uneindeutigkeit eine Unschärfe der Daseinsvorsorge und Unübersichtlichkeit der Erbringung. Die Frage stellt sich, wer die Verantwortung übernimmt, das Akteursgeflecht entwirrt und (wieder) sinnvoll vernetzt.

Kommunale Verantwortung, Ermöglichung und Differenzierung

Eines ist klar, die grundsätzliche Verantwortung für die Ausgestaltung und Erbringung von Leistungen der Daseinsvorsorge liegt beim Staat und bei den Kommunen. Sie haben allerdings die Möglichkeit, autonom und im Rahmen der Gesetze konkrete Aufgaben auf andere Träger zu übertragen. Leistungen und Dienste der Daseinsvorsorge wie die Ver- und Entsorgung, die Kommunikationsinfrastruktur, die Gesundheitsversorgung, Kin­der­betreuung, Schulbildung, Pflege oder der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) entfalten ihre Wirkung erst in der direkten Lebenswelt der Bürger. Vor Ort kann am besten entschieden werden, welche Verpflichtungen im Interesse der Bürger sind und wie diese ausgestaltet werden müssen. Ebenso können die gewünschte Wirkungsorientierung und die Berücksichtigung von Vielfalt und Differenzen am ehesten in den Quartieren und Dörfern erreicht werden. Damit fließt der Kommune, neben der Verantwortung für eine direkte Leistungserbringung und der Gewährleistungsverantwortung, zunehmend eine Koordinierungs- und Managementverantwortung bei der Daseinsvorsorge zu. Die Kommune kann und muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass die öffentlich organisierte und die von Engagement getragene Mobilität zusammen funktionieren oder arbeitsteilige Pflege- und Sorgearrangements in den Quartieren und Dörfern entstehen. Sie ist aufgrund ihrer Stellung im Staatsaufbau und ihrer Selbstverwaltungskompetenz die Institution, die vernetzen, verknüpfen, unterstützen und gegebenenfalls auch mobilisieren muss. Diese Wiederentdeckung der kommunalen Verantwortung kommt auch in einer Vielzahl von bundesweiten Wettbewerben zur Gestaltung der Daseinsvorsorge zum Ausdruck,35 spiegelt sich aber noch nicht in einer dauerhaften Befähigung durch Bund und Länder über eine Verbesserung der Kommunalfinanzen und strategische Begleitung und Orientierung wider.

Handlungsebenen der Daseinsvorsorge

Einerseits ist es Aufgabe der Kommune, Koproduktion der Daseinsvorsorge zu ermöglichen und dafür Gelegenheiten zu schaffen. Anderseits benötigt sie Orientierung, Arbeitsteilung und integrierte Strategien, um die Vielfalt zu sortieren, Schwerpunkte zu setzen und differenziert handeln zu können. In einem ersten Schritt lassen sich dafür zwei grundsätzliche Handlungsebenen unterscheiden:

  1. Regionale Daseinsvorsorge bzw. Daseinsvorsorgeplanung, die integrierte Strategien entwickelt, regional wirksame Bereiche der Daseinsvorsorge in den Blick nimmt, eine flächendeckende Versorgung mit guten Erreichbarkeiten einschließlich Mobilitätsnetz sichert und regionale Versorgungsnetze knüpft. Hierfür bieten sich die Landkreise als kommunale Querschnittsebene an. Verantwortung können aber auch regionale Planungsverbände oder interkommunale Zusammenschlüsse übernehmen.36
  2. Eine örtliche Daseinsvorsorge, die für die Daseinsvorsorge und Lebensqualität relevante Angebote, Einrichtungen und Netzwerke in den Städten, Gemeinden, Quartieren und Ortsteilen sichert, gestaltet und ermöglicht. Sie wirkt direkt in die Lebenswelten der Menschen hinein. Mehr als auf der regionalen Ebene ist in den Dörfern und Quartieren die Stärkung eigenorganisierter Daseinsvorsorgeformen (Bürgerbus, Kulturangebote, Hilfevereine etc.) und deren Vernetzung mit professionellen Angeboten der Daseinsvorsorge kommunale Aufgabe. Am Ende geht es um eine gute Stadt-, Quartiers- und Dorfentwicklung im Sinne von solidarischen Gemeinschaften37 oder kooperativer Stadt- und Dorfentwicklung.38

Ein zweiter Schritt bietet eine Orientierung am Grundprinzip der zentralörtlichen Gliederung und kommunalen Arbeitsteilung an. Die Gemeinden wirken mit ihren Möglichkeiten und eigenen lebensweltlichen Qualitäten im Raum zusammen und bilden ein eigenes regionales Netzwerk örtlicher Daseinsvorsorge. Dahinter steht der Gedanke, dass sich die regionale Vielfalt und kleinräumige Differenzen in differenziertem Handeln niederschlagen müssen. Die Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und damit auch die Umsetzungsmöglichkeiten scheinen je nach Raum und Ort unterschiedlich zu sein. In den größeren Zentren konzentrieren sich Infrastruktur, Kultur und professionelle Dienstleister. Je kleiner und abgelegener der Ort, desto nötiger erscheint dagegen sozialer Zusammenhalt, Selbstorganisation und gegenseitige Hilfe. Das führt letztlich zu einer differenzierten Strategie lokaler Daseinsvorsorge im Sinne eines Kontinuums:

  • von der Stärkung professioneller und spezialisierter Angebote, Einrichtungen und Netzwerke in den Mittel- und Oberzentren,
  • über die Sicherung der Nah-, Bildungs- und Gesundheitsversorgung sowie die Vernetzung von Professionalität und Ehrenamt in den kleinen Landstädten,
  • bis hin zur Federung von sozialem Zusammenhalt, Selbstverantwortung und -organisation sowie gegenseitige Unterstützung in den Dörfern und kleineren Gemeinden.39

Verbindendes Element ist die Mobilität, die ebenfalls auf diese Aufgabenteilung und soziale Spezialisierung im Raum ausgerichtet sein sollte mit starken Linien zwischen den Mittelzentren, flexiblen Bedienelementen in die kleinen Versorgungszentren und unterschiedlichen, situationsgerechten Lösungen für die Fläche (vgl. Abbildung 1).40

Abbildung 1
Kontinuum differenzierter Strategie der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum
Kontinuum differenzierter Strategie der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum

Quelle: eigene Darstellung.

Perspektivwechsel in der Regionalpolitik

Auch wenn auf den ersten Blick die Zufriedenheit, das Wanderungsverhalten und die Wanderungsmotive im ländlichen Raum die Bedeutung von Daseinsvorsorge für die Entwicklung ländlicher Räume relativieren, tritt bei genauer Betrachtung die Wichtigkeit einer guten Daseinsvorsorge in Verbindung mit einer hohen Lebensqualität wieder deutlich zu Tage. Entscheidend scheint – auch angesichts der demografischen Lücke im erwerbsfähigen Alter – der Zuzug von Berufseinsteigern und jungen Familien zu sein und die Möglichkeit, ein gutes, selbstbestimmtes Leben im Alter zu führen. Für beides braucht man Daseinsvorsorge im hier skizzierten erweiterten Verständnis. Es ist daher berechtigt zu sagen, dass die Gestaltung der Daseinsvorsorge existenziell für ländliche Regionen ist. Für die Regionalentwicklung bedeutet das einen mehrfachen Perspektivwechsel:

  • Eine veränderte Ausrichtung, weg von der ausschließlichen Fokussierung auf die Schaffung von Arbeitsplätzen hin zu den Lebensbedingungen der Menschen.
  • Gute Lebensbedingungen für das Leben im Alter und attraktive Lebensbedingungen für den Zuzug als zentrale Ziele.
  • Die Befähigung und Ermöglichung, um neue bzw. angepasste Lösungen für Wirtschaft und Versorgung zu schaffen, als strategischer Grundsatz.41 Regionalentwicklung kann nicht verordnet werden, sondern wird zu großen Teilen von den örtlichen und regionalen Akteuren gestaltet.
  • Differenzierte Strategien für die räumliche und soziale Vielfalt, die nur regional festgelegt und ausgestaltet werden können.

Schließlich bleibt festzustellen: Wenn es tatsächlich so ist, dass die Wirtschaftskraft, Arbeitsplätze, Daseinsvorsorge, Lebensqualität und eine gute Umwelt so eng zusammenwirken und auf Wohn- und Standortentscheidungen Einfluss nehmen, und wenn wir den Grundgedanken der differenzierten Befähigung ernst nehmen, brauchen wir mehr denn je eine integrierte und koordinierte Regionalpolitik über die Fachressorts hinaus.42

  • 1 Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Raumordnungsbericht 2017. Daseinsvorsorge sichern, Bonn 2017, S. 6.
  • 2 Vgl. L. Koppers et al.: Räumliche Gerechtigkeit – Konzept zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in ganz Bayern. Eine Studie im Auftrag des Bayerischen Landtags im Rahmen der Enquete-Kommission zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen, Bayreuth 2018.
  • 3 H. Markwort, H. Krumrey: Interview mit Bundesprasident Horst Köhler. Jeder ist gefordert, in: Focus vom 13.9.2004.
  • 4 Vgl. G. Ambrosius: Konzeptionen öffentlicher Dienstleistungen in Europa, in: WSI-Mitteilungen, H. 10/2008, S. 527-533.
  • 5 Vgl. K. Einig: Regulierung der Daseinsvorsorge als Aufgabe der Raum­ordnung im Gewährleistungsstaat, in: Informationen zur Raumentwicklung – Zeitschrift des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), H. 1/2/2008, S. 17-40; und Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): Raumordnungsbericht 2011, Bonn 2012.
  • 6 Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Die Raumordnungsprognose 2035 nach dem Zensus, BBSR-Analysen KOMPAKT, Nr. 5/2015.
  • 7 Ebenda, S. 9.
  • 8 Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass der negative natürliche Bevölkerungssaldo in Deutschland auf lange Sicht durch Zuwanderungen kompensiert werden kann. Laut Raumordnungsprognose 2035 des BBSR wären dafür jedes Jahr ca. 400 000 Zuwanderungen nach Deutschland erforderlich.
  • 9 Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: Durchschnittsalter am 31.12.2016 in den kreisfreien Städten und Landkreisen, https://www.bib.bund.de/Permalink.html?id=10214222 (13.2.2019).
  • 10 Vgl. Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Raumordnungsprognose 2035, a. a. O.
  • 11 Das Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge als Modellvorhaben der Raumordnung hat von 2012 bis 2015 stattgefunden, http://www.regionale-daseinsvorsorge.de/ (26.3.2019). Vgl. auch Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) (Hrsg.): Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge, Projektassistenz Umsetzungsphase, BMVI-Online-Publikation, Nr. 4/2015, Bonn.
  • 12 Vgl. B. Schwarze, K. Spiekermann: Kleinräumige Bevölkerungsvorausschätzung und Erreichbarkeitsmodellierung im Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge, Abschlussergebnisse der Begleitforschung Zentrale Datendienste, Dortmund 2014.
  • 13 Vgl. A. Milbert, G. Sturm: Binnenwanderungen in Deutschland zwischen 1975 und 2013, in: Informationen zur Raumentwicklung, H. 2/2016, S. 121-144.
  • 14 Ebenda.
  • 15 Ebenda.
  • 16 Ebenda.
  • 17 Vgl. R. Busch: Inländische Wanderungen in Deutschland – wer gewinnt und wer verliert?, in: Zeitschrift für Immobilienökonomie, 2. Jg. (2016), H. 2, S. 81-101.
  • 18 Vgl. A. Milbert, G. Sturm, a. a. O.
  • 19 Vgl. R. Busch, a. a. O.
  • 20 Zum Motiv „Ausbildung“ für die Abwanderungen aus dem ländlichen Raum vgl. auch S. Siedentop, R. Junesch, M. Klein: Wanderungsmotive im ländlichen Raum. Forschungsvorhaben im Auftrag des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg, Stuttgart 2014.
  • 21 Vgl. A. Milbert, G. Sturm, a. a. O.
  • 22 Vgl. S. Siedentop et al., a. a. O.
  • 23 Vgl. P. Küpper, A. Steinführer: Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen zwischen Ausdünnung und Erweiterung: ein Beitrag zur Peripherisierungsdebatte, in: Europa Regional, 23. Jg. (2015), H. 4, S. 44-60.
  • 24 Vgl. T. Oedl-Wieser, M. Fischer, T. Dax: Bevölkerungsrückgang in ländlichen Regionen Österreichs: Lebensphasen- und geschlechterspezifische Wanderungsbewegungen vor dem Hintergrund von Motiven und Lebensqualität, in: Australian Journal of Agricultural Economics and Rural Studies, 27. Jg. (2018), H. 19, S. 151-159; S. Siedentop et al., a. a. O.
  • 25 S. Beetz: Der Landfluchtdiskurs – zum Umgang mit räumlichen Uneindeutigkeiten, in: Informationen zur Raumentwicklung, 2016, H. 2, S. 109-120.
  • 26 Ebenda.
  • 27 Ebenda; und S. Siedentop et al, a. a. O.
  • 28 Vgl. z. B. S. Siedentop et al., a. a. O.
  • 29 Ebenda, S. 19.
  • 30 Zum erweiterten Konzept von Daseinsvorsorge vgl. Siebter Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften und Stellungnahme der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache, Nr. 18/10210, 2016; sowie Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland. Schwerpunktthema: Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung, Berlin 2016.
  • 31 Vgl. die Bund-Länder-Initiative Innovative Hochschulen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, https://www.bmbf.de/de/innovative-hochschule-2866.html (27.3.2019).
  • 32 Vgl. C. Neu: Daseinsvorsorge. Expertise für den Siebten Altenbericht der Bundesregierung, Krefeld 2014, unveröffentlicht.
  • 33 Der Gedanke ist an den Befähigungsansatz (capability approach) von Amartya Sen und Martha C. Nussbaum angelehnt. Vgl. T. Röbke: Bürgerschaftliches Engagement und sozialstaatliche Daseinsvorsorge. Bemerkungen zu einer verwickelten Beziehung, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): betrifft: Bürgergesellschaft, 2012, Nr. 38, S. 1-41; A. Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010; M. C. Nussbaum, A. Sen: The Quality of Life, Oxford 1993; M. C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt a. M. 1999.
  • 34 Vgl. M. C. Nussbaum, a. a. O., S. 66.
  • 35 Z. B. die Wettbewerbe „Lernen vor Ort“, „Gesundheitsregionen der Zukunft“ und „Kommunen Innovativ“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung; „Aktionsprogramm regionale Daseinsvorsorge“ und „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“ des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur sowie „Land(auf)Schwung“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.
  • 36 Ebenda.
  • 37 Vgl. Siebter Altenbericht, a. a. O.
  • 38 Vgl. K. Selle: Kommunikative Interdependenzgestaltung in Prozessen der Stadtentwicklung. Eine Geschichte der Entdeckungen, PT_Materialien, Nr. 38, Aachen 2017.
  • 39 P. Dehne, H. Hiller, R. Hollang: Grundlagenexpertise „Wohnen im Alter in Mecklenburg-Vorpommern“. Teil A: Auswirkungen der demografischen, siedlungs- und infrastrukturellen Veränderungen, Kommissionsdrucksache der Enquete-Kommission „Älter werden in Mecklenburg-Vorpommern“ für den Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Nr. 6/25, Schwerin 2013.
  • 40 Vgl. hierzu den Ansatz und die Ergebnisse des Modellvorhabens „Langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen“, a. a. O.
  • 41 Vgl. F. Müller, C. Felix, V. Brinks, O. Ibert, S. Schmidt: Open Region: Leitbild für eine regionale Innovationspolitik, Working Paper, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner 2015.
  • 42 Vgl. auch OECD: das neue Paradigma für den ländlichen Raum: Politik und Governance, Paris 2006.

Title:Services of General Interest as Social Tasks

Abstract:In Germany, services of general interest are regarded as an essential basis for equal living conditions everywhere. However, a look at the demographic situation and the design of services of general interest in the regions reveals diversity, ambiguity and confusion. What they all have in common, however, is the special responsibility of the municipalities.


DOI: 10.1007/s10273-019-2433-9

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